
Sie galt als Maßstab fürs Gelingen, eine Politik der kleinen Schritte. Heute geht’s um populistische Maßnahmen, schnelle Erfolge. Das gilt mittlerweile für unsere Kultur im Ganzen: Abnehmspritze statt langwieriger Diät, jäher Beziehungsabbruch als gründliche Auseinandersetzung. Wir leben offerbar in einer Zeit, die das Aushalten verlernt hat.
Doch echter Fortschritt zeigt sich oft nur in kleinen Bewegungen – in Kindern, die ihre Angst beruhigen, in Patientinnen, die nach Wochen erstmals den Kopf heben, in Protesten, die leiser werden und gerade dadurch in Communities Wurzeln schlagen, in Verhandlungen, die sich über Jahre hinziehen, aber am Ende Geschichte schreiben.
Der lange Atem erweist sich auch heute als Fähigkeit, Rückschläge auszuhalten und weiterzugehen, auch wenn nichts spektakulär wirkt. Vielleicht beginnt das Wiederlernen dieser Haltung damit, still auf einer Matte zu liegen und noch einmal einzusetzen: einatmen, ausatmen, und versuchen, dranzubleiben.
Solmaz Khorsand ist Journalistin, Buchautorin und Podcasterin. Sie hat u.a. gearbeitet für die Zeit, derstandard.at, die Wiener Zeitung und das Magazin Republik. 2021 erschien ihr Buch Pathos, 2024 ihre Bücher untertan. Von braven und rebellischen Lemmingen und Unverdächtig. Ein Geständnis. Zudem nahm sie am Artist in Residence-Programm der Kulturhauptstadt Salzkammergut teil.
„Du hast schon Anstrengenderes geschafft als zu atmen“, sagt die Frauenstimme. Recht hat sie, und trotzdem klingt es so, als würde sie mir das mit dem Atmen nicht zutrauen. Als wüsste sie, wie hart etwas so scheinbar Einfaches sein kann. Ruhig am Boden auf einer Yoga-Matte im eigenen Wohnzimmer zu liegen und einfach ein- und auszuatmen, während eine Stimme aus den Kopfhörern die Anweisung gibt, in einem „Vier-Vierer-Rhythmus“ durch die Nase ein und durch den Mund auszuatmen. Ein, zwei, drei, vier - aus, zwei, drei, vier. Ein, zwei, drei, vier - aus, zwei, drei, vier. „Atme vollständig in den Bauch, in die Brust, bis unter die Schlüsselbeine“, sagt die Stimme. „Lass deinen Atem zirkulieren, ohne Pausen, ohne abzusetzen, in stetigen Wellen, die gehen und wieder kommen.“
Längst bin ich aus dem Rhythmus gekommen, atme ein, wenn ich ausatmen soll, halte die Luft an, um wieder schnappatmend reinzufinden, wie in eine Tanzchoreografie, der ich nachhumple. Hibbelig liege ich am Boden. Nervosität macht sich breit, so unproduktiv zu sein. Nichts zu tun außer zu atmen. Und noch nicht einmal das so hinzukriegen, wie es verlangt wird. „Lass dich von deiner Atmung leiten. Und wenn Gedanken hochkommen, schau hin und lass sie ziehen, ohne dich damit zu involvieren“, haucht mir die Stimme ins Ohr. Ich verfluche sie. Von wegen ziehen lassen, nicht involvieren. Als wäre das so einfach.
Ich versuche, mich zu konzentrieren, mir die „Produktivität“ dieser Übung vor Augen zu führen. Schließlich ist das hier kein bloßes Rumliegen, sondern Arbeit. Recherche darüber, wie das gehen soll mit dem langen Atem und dem Dranbleiben.
Irgendwo zwischen Instagram und Ozempic ist er abhandengekommen. Einer ganzen Gesellschaft. Und keinem scheint es etwas auszumachen. Das mit dem schnell, schnell. Dieses Verlangen, dass alles sofort klappen muss. Gleich gelöst sein muss. Diese gefährliche Sehnsucht nach dem Ergebnis ohne Prozess. Wozu den ganzen Artikel lesen, wenn ihn mir ChatGPT auf das Wesentliche zusammenfassen kann? Wozu Therapie, wenn ein paar Pillen die Laune sofort heben? Wozu die Beziehung, wenn auch der Quickie für das bisschen Intimität reicht? Wozu lange verhandeln, wenn ein Mann mit einer Unterschrift Tatsachen schaffen kann? ‚Gut Ding braucht Weile‘ klang noch nie so abgedroschen wie in unserer Zeit.
Eigenschaften wie Hartnäckigkeit und Ausdauer wirken da wie Tugenden aus dem Reich der Märchen und Legenden. Und jene, die sie haben, wie Fabelwesen. Als besäßen sie eine Zauberkraft, die dem Rest von uns fehlen würde.
Zurück auf die Yoga-Matte.
„Ein tiefer Atemzug ein, und loslassen. Ahhh“, sagt die Stimme mit einem langgezogenen Ton. Ich tue es ihr nach. Ahhh. Es kribbelt in den Armen und Beinen. Meine Nase ist kalt, überhaupt fröstelt es mich ein wenig. Das Licht hinter meinen geschlossenen Augenlidern wird heller und intensiver, je mehr ich versuche, die Luft anzuhalten. Natürlich habe ich nach kurzer Zeit längst wieder eingeatmet, das sanfte „Halten, halten, noch etwas mehr halten“ mit einem schlechten Gewissen überatmet. Ich merke, wie meine Finger plötzlich krampfen. Meine Hände sind zu Fäusten geballt, als würde ich mich bereit machen für einen Kampf. Ich öffne die Augen und betrachte meine Finger, die sich nicht lösen wollen. Sie bleiben zu Fäusten verkrampft. Es macht mir Angst. Man liest ja immer wieder davon, wie Leute plötzlich in Atem-Sessions unkontrolliert zu weinen beginnen, weil der Atem irgendwelche Emotionen an die Oberfläche ploppen lässt, die sie bislang unterdrückt haben. Wie es sie durchschüttelt, aber was soll das Krampfen enthüllen? Unterdrückte Kampfboxsehnsüchte?
„Das ist nichts Wildes“, beruhigt Verena Nindl. Sie ist „Breathwork-Coach“. Es ist ihre Stimme hinter den Atemübungen in meinem Kopfhörer, die ich 40 Minuten lang verflucht habe. Das mit dem Krampfen kennt sie von Hochleistungssportlern aus ihren Kursen, die sie im Salzburger Pinzgau anbietet. Die würden es auch übertreiben mit dem zu viel sofort Wollen. Das Krampfen komme vom intensiven Ausatmen. Man müsse einfach loslassen. Einfach. Verena Nindl weiß, wie schwer das vielen fällt. Gerade Leuten, die sich immer pushen, die in dieser Hochleistungsportler-Manie an eine Sache rangehen. Wie schwer es ist, seinen Atem zu verlangsamen, zu vertiefen und einen Rhythmus zu finden, der dem Körper dabei helfen soll runterzufahren. Nindl zeigt das in ihren Kursen vor allem Kindern, die Prüfungsangst haben, Erwachsenen mit Phobien und Personen in Rekonvaleszenz schwerer Erkrankungen wie Krebs. Sie alle wollen mit der Atmung ihr Nervensystem ein bisschen runterholen, meint Nindl, ihrem Körper wieder mehr vertrauen können.
Aber die meisten Menschen hätten vergessen, sich bewusster auf ihren Körper einzulassen, ihm das Kommando zu übergeben. Daher ist für viele Atemarbeit tatsächlich Arbeit. Nicht wenige liegen daher frustriert und schweißgebadet in Verena Nindls Sessions. „Was will die von mir?! Ich habe keinen Bock mehr! Ich ersticke ja gleich! – Solche inneren Monologe weisen darauf hin, dass es jetzt ans Eingemachte geht und wir einer Barriere langsam näherkommen“, erklärt sie. Ein gutes Zeichen. Sie zu verfluchen, heißt, sich dem Punkt zu nähern, an dem die Veränderung stattfindet.
Dann, wenn es richtig anstrengend wird, wenn es anfängt, ein bisschen weh zu tun.
Hier fängt das an, mit dem Dranbleiben und Weitermachen. Wie im Sport, beim Lernen einer neuen Sprache, eines Instruments. „Wenn du weiterkommen willst, dann musst du eine kleine Grenze überschreiten“, sagt Nindl. „Du musst den Bogen nicht überspannen, sodass die Muskelfasern reißen, aber du musst den Bogen so weit spannen, dass du einen Muskelkater kriegst.“
Wie man seine Grenzen überschreitet, zeigt Diana Spilak. Seit zehn Jahren tut sie nichts anderes. Spilak ist Neurophysiotherapeutin, sie ist spezialisiert auf Personen nach einem Schlaganfall, einer Hirnblutung, mit Multipler Sklerose oder Parkinson. Und jene, die nach einem Unfall vom Hals abwärts gelähmt sind, Leute, die im Wachkoma liegen und gerade einmal ihre Augen bewegen können. Spilaks Job ist es, sie im Krankenhaus so fit zu machen, dass sie bald eine Reha in Anspruch nehmen können. Sie begleitet den Prozess vor dem Prozess. Der kann Wochen, zumeist Monate dauern. Das Gesundheitssystem ist dabei nicht unbedingt auf ihrer Seite. Zu wenig Betten, zu wenig Plätze, zu wenig Spezialistinnen, zu wenig Zeit, Patienten Schritt für Schritt in ihrer Genesung zur unterstützen. Und es sind verdammt kleine Schritte manchmal. Millimeterarbeit. Dass ein Wachkomapatient nicht länger durch einen durchschaut, sondern mit seinen Augen kommuniziert, kann schon einmal ein paar Wochen dauern. Dass er den Kopf selbstständig halten kann, mitunter einige Monate. Es sind Fortschritte in Zeitlupe. Vier Schritte vor, drei zurück. Wie hält man jemanden bei der Stange über Monate, gar Jahre, in diesem Tempo weiterzumachen? Wie gibt man ihm zu verstehen, dass das nun einmal Teil des Prozesses ist? Dass er dem Prozess vertrauen muss, wenn er will, dass es besser wird?
Diana Spilak überlegt. Sie sitzt in ihrer Praxis in Wien im 12. Bezirk. „Indirekt muss ich schon Hoffnung geben“, sagt sie. Daher ist sie vorsichtig, Menschen über ihre Grenzen zu bringen. Nicht immer klappt das. „Wenn ich merke, jemand bricht mir gerade mental weg und ich catche ihn nicht mehr, gebe ich ihm ein Erfolgserlebnis“, erklärt sie. Dann wird das gemacht, was bereits geschafft wurde, um zu zeigen: Sieh her, vor ein paar Wochen konntest du noch nicht stehen, heute stehst du und stapelst Bücher ins Regal.
„Der Mensch ist so programmiert, dass er immer nur das sieht, was noch nicht geht und was einmal besser war.“ Den Blick auf das, „was schon besser ist“, zu schärfen, ist Spilaks Aufgabe.
Das geht dann schon an die eigene Substanz, andere immerzu zu motivieren, dass sie dranbleiben sollen. Nur bei manchen muss sie das tun, andere haben das von Haus aus. Es ist eine gewisse Generation, ein bestimmter Schlag Mensch. Es seien jene, die etwa den Krieg erlebt haben, ob vor Jahrzehnten oder vor Kurzem. Die erwarten nicht, dass ihnen Dinge zufallen, dass es leicht sein wird, dass ihnen Leid erspart bleibt. „Die haben den Luxus der seligen Welt nicht, die haben sich alles erarbeiten müssen“, sagt Spilak. „Die kennen den Kampf und das Kämpfen. Für die ist das jetzt einfach ein neuer Kampf und den kämpfen sie.“ Es beeindruckt sie jedes Mal, wenn sie solchen Leuten begegnet. Die das Leben nur so kennen. Vor kurzem hatten sie im Krankenhaus eine Patientin, die einen leichten Schlaganfall überlebt hat. Sie war 100 Jahre alt. Für sie war das tägliche Training selbstverständlich. Sie musste nicht motiviert werden, brauchte kein sanftmütiges Zureden, kein „Ich weiß, wie hart das ist, das es weh tut.“. Sie hat mitgemacht. Nach fünf Wochen war die Frau wieder so fit, dass man sie nach Hause schicken konnte.
Lässt sich das lernen? Ganz ohne Krieg, Krise und Traumata eine Kämpfernatur zu entwickeln, die nicht lockerlässt?
Klar geht das. Alles nur eine Frage des Mindsets, schreibt die US-Psychologin Carol Dweck. Ihre Forschung wird gerne herangezogen, wenn es darum geht, sein Potenzial voll auszuschöpfen, wirklich Erfolg zu haben. In ihrem Buch mindset. The new psychology of success unterscheidet Dweck zwischen Menschen mit einem „fixed mindset“, also einem statischen Selbstbild, und jenen mit einem „growth mindset“, einem wachstumsorientierten Selbstbild. Wer über ein statisches Mindset verfügt, sieht seine Fähigkeiten und Kompetenzen als gottgegeben an. Es sind Qualitäten, die ihm innewohnen. Jeden Erfolg und jedes Scheitern sieht er als das Resultat unveränderlicher Eigenschaften. Es wird zur Identität. Er sagt nicht: Ich habe versagt, sondern: Ich bin ein Versager. Bei Personen mit einem wachstumsorientierten Mindset ist das anders. Auch sie versagen, doch betrachten sie jeden Rückschlag als etwas Vorübergehendes. Es ist eine Möglichkeit zu wachsen und es beim nächsten Mal anders zu machen, unter Umständen besser. Nur weil sie in einem Augenblick gescheitert sind, heißt das nicht, dass es im nächsten genauso sein wird. Es ist bloß „noch nicht“ gelungen. Dieses „noch nicht“ hält sie am Laufen. Im Gegensatz zu ihren statischen Mitmenschen haben sie es nicht vergessen. Sie haben verstanden, dass Dinge nicht immer auf Anhieb klappen.
Ihre Frustrationstoleranz ist gestählt. Hinfallen, aufstehen, Krönchen richten, weiter geht es. Um das souverän abspulen zu können, ist ein Faktor maßgeblich: die eigene Erwartungshaltung. Sie spielt neben den individuellen Prädispositionen und den aktuellen Hirnreifungsprozessen eine wichtige Rolle. Welche Erwartungen habe ich in der jeweiligen Situation? Soll aus dem Flirt eine Beziehung werden? Aus der Beziehung eine Partnerschaft mit Familie? Oder bleibt der Flirt einfach nur ein Flirt? Ist das Praktikum lediglich eine Erfahrung oder der erste Schritt zur Führungsposition? Soll mich das Joggen einmal die Woche wieder in Schwung bringen oder für den nächsten Marathon fit machen?
„Erwartungen sind aufgebaut auf meiner Lerngeschichte“, erklärt der Kognitionspsychologe Lars Schwabe von der Universität Hamburg. Wer die Erfahrung gemacht hat, dass Dinge nicht immer gleich so laufen, wie man sich das vorstellt, es sich aber lohnt, am Ball zu bleiben, hat auch diese Erwartung, dass er mal reinklotzen muss. Wer es hingegen gewohnt ist, dass es für den Erfolg reicht, mit den Fingern zu schnippen, begegnet Herausforderungen ganz anders.
Insbesondere, wenn die Umgebung suggeriert, sofort aufzugeben, wenn es schwierig wird. Beende deine Beziehung, wenn du nicht permanent glücklich bist! Kündige deinen Job, wenn er dich nicht erfüllt! Lass los! Yolo!
Wenn das zum Mantra einer ganzen Gesellschaft wird, ist es schwierig, Durchhaltevermögen und Persistenz zu predigen und vor allem zu leben. Man kann ja jederzeit loslassen, wenn es mühsam wird. Schmerzhaft wird es dann, wenn nicht das Resultat eintritt, dass man sich mit dieser Einstellung erhofft.
Wenn sich Erwartungen nicht erfüllen, kommt es zum „Prediction-Error“, den Vorhersagefehler: Die Realität stimmt nicht mit den Erwartungen überein. „Dann kann es zu starken emotionalen Reaktionen kommen“, sagt Schwabe. Um diese Emotionen dann zu regulieren, brauche es Strategien: aufmerksamkeitsbezogene, emotionsbezogene, motivationsbezogene. „Das kann man durchaus trainieren“, zeigt sich Schwabe optimistisch. Er gibt ein Beispiel. Man ist mit einer unangenehmen Aufgabe konfrontiert. Um sie dennoch zu absolvieren, lenkt man die Aufmerksamkeit auf die positiven Konsequenzen dieser Aufgabe in der Zukunft. Etwa: Jetzt mache ich Überstunden, jetzt schwitze ich im Fitness-Center, jetzt büffele ich für die Prüfung und es freut mich kein bisschen, aber in einem Jahr habe ich den Job, für den ich geackert habe, den Körper, den ich mir ersehnt habe, das Zertifikat, das mich weiterbringen wird. Mit der Aussicht, dass es besser wird, bleibe ich bei der Sache. Halte durch. Denn irgendwann zahlt es sich aus. Und ich werde für meine Anstrengung belohnt.
Religiöse wie politische Ideologen bedienen sich gerne dieses Mechanismus‘ um ihre Anhänger bei Laune zu halten. Nicht heute wirst du die Früchte deiner Arbeit ernten, aber in der Zukunft, und vielleicht erst im Jenseits oder gar im nächsten Leben. Bei politischen Anliegen funktioniert das nur begrenzt, gibt Politikwissenschafter Tareq Sydiq vom Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg zu bedenken: „Wenn ich gerade verhungere, ist es mir egal, ob das in 20 Jahren mit der Weltrevolution besser wird.“ Es müsse ein unmittelbarer Fortschritt zu spüren sein, sonst wird es schwierig mit dem Dranbleiben.
Außer das Dranbleiben wird zum Teil der eigenen Identität, komme was wolle.
In seinem Buch Die neue Protestkultur dokumentiert Sydiq den identitätsstiftenden Faktor von Protesten in unterschiedlichen Ländern. Er wird allzu gern in der allgemeinen Wahrnehmung vernachlässigt. Dabei ist er maßgeblich, ob sich aus einer einmaligen Aktion aufgrund „kurzfristiger Empörung“ oder eines „moralischen Schocks“ über ein Ereignis ein langfristiges Engagement herausbildet. Zahlreiche Studien zeigen, dass Menschen, die einmal an einem Protest teilgenommen haben, es auch wieder tun werden, oft auch zu vollkommen anderen Themen. Die Politisierung des Individuums durch einen – wenn auch gescheiterten Protest – kann langfristige und nachhaltige Folgen haben.
Medial wird das selten vermittelt. Und wenn, dann noch viel weniger als potenzieller Erfolg über die Langlebigkeit einer Idee. In der Berichterstattung zählen Rekorde und unmittelbare Ergebnisse. Hat der Protest zum Sturz eines Regimes geführt? Die Demonstration zum Kurswechsel in der Klimapolitik? Der Streik zu verbesserten Arbeitsbedingungen? Wenn nicht: nice try. Das macht das Dranbleiben umso schwerer, wenn der Grundton einer Gesellschaft auf Moll gestimmt ist.
In Deutschland bemerkte Tareq Sydiq das jüngst wieder 2024. Hunderttausende waren damals landesweit auf die Straße gegangen, um gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren, nachdem publik geworden war, dass AfD-Politiker und Neonazis in Potsdam Deportationsfantasien wälzten. In den ersten drei Monaten waren mehr als drei Millionen Menschen auf mehr als 1.200 Kundgebungen in ganz Deutschland zusammengekommen. „Bezogen auf den Zeitraum von wenigen Monaten handelt es sich um die größte Protestwelle in der Geschichte der Bundesrepublik“, stellte das Berliner Institut für Bewegungs- und Protestforschung fest. Doch die Euphorie über die deutsche Zivilgesellschaft, die sich so ostentativ gegen Hass gefunden hatte, verpuffte so schnell, wie sie gekommen war. Denn nach einigen Monaten waren es nicht mehr Hunderttausende, sondern „nur“ noch Zehntausende und danach einige Tausende. In den Medien verdiente das kaum Beachtung. Kein Rekord, keine Schlagzeile.
Ein Fehler, findet Sydiq. Denn für die Protestierenden seien es genau diese kleineren Folgeproteste, bei denen sich Verbindungen vertiefen und sich ein aktivistischer Kern herauskristallisiert, aus dem langfristig soziale Bewegungen, wenn nicht sogar später Parteien entstehen können.
Hier entsteht die Magie. In der langweiligen Routine.
Das zu begreifen und auch medial angemessen zu begleiten, tun wenige Medienhäuser. Und tragen so eine Mitschuld für die politische Schnappatmung der Gesellschaft. Denn statt sie auf den Marathon demokratischer Prozesse und Entwicklungen zu trainieren, hetzen sie ihr Publikum mit Sofort-Ergebnissen und spektakulären Rekorden durch den Sprint, dessen Tempo Autokraten und Populistinnen vorgeben. Sie versprechen das Blaue vom Himmel. Und das in Rekordgeschwindigkeit. Quick and dirty. Die Trumps, Mileis und Putins dieser Welt halten sich nicht auf mit langen Prozessen. Sie handeln beherzt und entschlossen und vor allem sofort. Mit einer einzigen Unterschrift bringen sie die Dinge ins Rollen, mobilisieren Armeen oder machen dem Erdboden gleich, was Jahrzehnte zuvor aufgebaut wurde. Ratzfatz. Mit Kettensäge.
Und: Das Wahlvolk applaudiert. Oder schlimmer: ist überfordert mit der Schnelligkeit und Gleichzeitigkeit der sich überschlagenden Ereignisse und gönnt seiner ohnehin schon schwindenden Aufmerksamkeitsspanne eine politische Pause und wischt lieber zum nächsten Selfcare-Video mit Tipps zur richtigen Pflegeroutine bei Mischhaut.
Und die Demokraten? Ja, sie sind in Zugzwang. Wie sollen sie mithalten mit Demagoginnen und Möchtegernkönigen, die der Bevölkerung Milch und Honig versprechen, während sie darauf pochen, dass man sich an den demokratischen Prozess halten muss? Dass diese Prozesse langwierig und langweilig sind, dass das Für und Wider jeder Entscheidung gut abgewogen werden muss, um das Beste für alle rauszuholen und nicht nur für einige Wenige an der Spitze? Wie mithalten mit quick and dirty?
Manche lassen es gleich ganz bleiben. Unmittelbar nachdem US-Präsident Donald Trump die ersten Dekrete unterzeichnet hatte – von der Ausrufung des Notstands an der Grenze zu Mexiko über die Begnadigung rechtsradikaler Kapitol-Stürmer bis hin zum Austritt aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem Klimaabkommen, hörte man sogar diesseits des Atlantiks Bewunderung für das rasche „Handeln.“ In einem Gespräch mit der Wochenzeitung Die Zeit gaben CDU-Politiker und Berater von Friedrich Merz anonym zu Protokoll, wie sehr ihnen der trumpsche Sofortismus imponierte: „So eine Optik brauchen wir auch. (...) Die Schreibunterlage, der Füller, die Unterschrift – zack! So was wollen die Leute sehen!"
Zack.
So schnell kann es gehen. So schnell werden aus Demokraten Antidemokraten, wenn sie einer Vorstellung von Demokratie nachlechzen, die entkernt ist von rechtsstaatlichen Prinzipien. Denn ihr Zack bedeutet eines: Wir haben es satt, uns an die Regeln demokratischer Prozesse zu halten, diese ewigen Verfahren, in denen so viel geredet und so wenig gehandelt wird. Auch wir wollen Macher sein. Auch wir wollen unkompliziert schalten und walten, wie es uns beliebt. Denn das suggeriert Stärke! Das ist, was die Leute sehen, nicht wahr?
Resolute Entscheider! Willensstarke Führer! Das zeigen schließlich auch sämtliche Autoritarismus-Studien: 21 Prozent der Ostdeutschen und sogar ein Viertel der Westdeutschen könnten sich einen Führer vorstellen, der mal mit starker Hand durchgreift.
In Österreich sind es 22 Prozent. Ein starker Führer, der sich nicht um Parlament und Wahlen scheren muss. Zack.
Der Zeitgeist zieht den Sprint der Autoritären dem Marathon der Demokratie vor. Er ist auch Ausdruck einer neuen martialischen Mentalität. Spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat sich der Krieg als Form des schnellen politischen Handelns rehabilitiert. Er ist die ultimative Sofortlösung autoritärer Großmachtfantasien: rein, raus, fertig. Als würde es sich um einen unkomplizierten chirurgischen Eingriff handeln.
Seit Jahrtausenden predigen Kriegsherren die Mär des Krieges, der sich schnell gewinnen lässt. Ein Irrtum, der bis heute nicht begriffen werden will, weiß Stephanie Fenkart. Sie ist Direktorin des Internationalen Instituts für den Frieden in Wien. Expertinnen ihres Faches haben derzeit einen schweren Stand in der Öffentlichkeit. Sie werden gern als Naivlinge oder gar Apologetinnen von Diktatoren verunglimpft, wenn sie den Diskurs um die Alternativen zu den verbreiteten Narrativen der Kriegstüchtigkeit, Nach- und Aufrüstung erweitern wollen. Wenn sie davon sprechen, dass die Abwesenheit von Krieg noch lange nicht Frieden bedeutet. Dass es bei Frieden um den Prozess gehe, und zwar jenen „der zunehmenden Gerechtigkeit und der abnehmenden Gewalt.“ Und dass der Jahre, gar Jahrzehnte, dauert.
Kriege enden auf drei Arten, nur ein Bruchteil endet mit einem militärischen Sieg. Knapp ein Drittel endet gar nicht und kann als „eingefrorener“ Konflikt jederzeit auftauen. Der große Rest, etwa 40 Prozent, endet in Verhandlungen. Und die scheitern zu 50 Prozent in den ersten zwei Jahren nach einem Waffenstillstand, gibt Fenkart zu Bedenken. „Man muss vermitteln, dass es keine Abkürzungen zum Frieden gibt und man muss damit rechnen, dass es immer wieder zu Rückschlägen kommt.“ Wie in allen Heilungsprozessen gilt eben auch hier: drei Schritte vor, vier Schritte zurück. Der Weg vom Waffenstillstand zum Abkommen bis hin zum Friedensvertrag ist lang und steinig.
Zu selten wird das korrekt kommuniziert. Etwa, wenn US-Präsident Trump dem russischen Präsidenten Wladimir Putin im August 2025 in Alaska den roten Teppich ausrollt und international von „Friedensverhandlungen“ die Rede ist. Mit derartigen Aussagen würde man die Erwartungen in den Prozess hochschrauben, die er in dem Stadium noch gar nicht erfüllen kann, kritisiert Fenkart. „Es braucht eine realistische Perspektive“, plädiert sie. Das bedeutet, den Frieden in Etappen zu denken. Ähnlich wie in der Physiotherapie: Was gestern noch nicht ging, ist heute möglich und kann morgen vielleicht noch besser sein. Der Horizont muss flexibel bleiben. Das Provisorium des Chaos und Scheiterns mitbedacht sein. Das kann schon dauern.
Kniffliges Terrain, keine Frage.
Aber nicht unmöglich.
Sogar dann, wenn die politischen Gräben unüberbrückbar scheinen. Ein Blick in die Geschichte beweist es. Mitten im Kalten Krieg haben sich Vertreter aus acht sozialistischen und 27 kapitalistischen Staaten in Helsinki getroffen und beschlossen: Wir wollen zusammenarbeiten. Trotz aller Differenzen, trotz des Arsenals an Atomwaffen. Und siehe da: Nach 672 Verhandlungstagen hatte man am 1. August 1975 die Grundlage dessen geschaffen, was nicht nur 30 Jahre später die OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit werden sollte, sondern viel wichtiger: den Eisernen Vorhang zum Wackeln brachte.
So jedenfalls dokumentiert es der finnische Regisseur Arthur Franck in seinem Film Der Helsinki-Effekt. Er zeigt darin, wie wenig Hoffnung manche Staatsmänner in diese Konferenz hatten und noch viel weniger Lust! An vorderster Front US‑Außenminister Henry Kissinger: „Der Inhalt langweilt mich zu Tode.“ Auch der sowjetische Parteichef Leonid Breschnew begann zunehmend, „die Nase voll“ zu haben, dass es endlose Verzögerungen gibt, die Konferenz zu einem Ende zu bringen. Er wollte doch nur ein Dokument, das dem Osten zusicherte, dass die Nachkriegsgrenzen festgeschrieben werden und dass man mit dem Westen wirtschaftlich ins Geschäft kommt. Doch der Westen pochte auf Zugeständnisse bei den Menschenrechten. Er bekam sie am Ende. Es sollte das Ende des Sowjetimperialismus bedeuten. Zahlreiche Dissidentengruppen bezogen sich auf dieses Kapitel der Schlussakte von Helsinki, das ihre Machthaber 1975 mitratifiziert hatten. Von der polnischen Solidarnosc-Gewerkschaft bis hin zur tschechoslowakischen Charta 77 – 672 Verhandlungstage!
Der Helsinki-Effekt ist eine Hommage an den langen Atem der Politik, den sie zuweilen haben kann, wenn sie nur will. „Ich wünsche mir mehr langweilige Konferenzen, mehr unerträgliche Verhandlungsrunden“, lässt Regisseur Franck eine Stimme aus dem Off sagen. „Gebt mir landende Flugzeuge, Verkehrsstaus, Händeschütteln und peinlichen Smalltalk, klickende Kameras, klappernde Schreibmaschinen, ausufernde Reden, Streitereien um Kommas, seitenweise unverständliche Absätze und Basketballspiele zwischen Diplomaten. Das ist immer besser als die Alternative.“
Man möchte ihm nur beipflichten. All das ist besser als die Alternative. Vielleicht gelingt das wieder. Dass unsere Gesellschaften an die Ödnis zermürbender Prozesse zum Wohle eines besseren Morgens glauben. Sie durchlaufen. Und sie voller Innbrunst auch durchlaufen wollen, ohne dass ihnen die Puste gleich ausgeht, wenn das gewünschte Ergebnis fürs Erste ausbleibt. Dass sie lernen, den Zustand im Provisorium auszuhalten, die Ungewissheit, vielleicht auch das Chaos, das damit einhergeht. Dass sie mit dem Versuchen eines besseren Morgens nicht warten, bis die Bedingungen so perfekt sind, dass sie auf Dauer genug Anreiz geben dranzubleiben. Dass sie bereit sind, etwas von Grund auf richtig zu lernen, ohne sich durch die Scham des tollpatschigen Anfangs hemmen und die ersten Fehler frustrieren zu lassen.
Vielleicht reicht es ja für den Anfang, sich auf eine Yoga-Matte zu legen und eine sanfte Frauenstimme zu verfluchen, die einem ins Ohr flüstert: Ein, zwei, drei, vier – aus, zwei, drei, vier. Ein, zwei, drei, vier – aus, zwei, drei, vier. Ein tiefer Atemzug ein und loslassen. Ahh. Halten, halten, noch ein bisschen mehr halten. Und noch einmal von vorne.
Ging doch schon viel leichter, oder?










