
Erst lernte eine Gesellschaft das Leben unter der Corona-Pandemie, dann lernte sie und gleichsam das Gesundheitssystem, dass für manche Menschen die Infektion bleibende Beeinträchtigungen hinterlässt. Long Covid wurde schnell zu einem Begriff für ein Bündel von unterschiedlichen Symptomen. Als schwerste Form des Syndroms gilt die chronische, post-infektiöse Krankheit ME/CFS. Sie macht ein normales Leben zur größten, fast unüberwindbaren Anstrengung.
In dieser Situation gilt es, dem Leben eine neue Form zu geben, der Autonomie eine neue Gestalt, der Angewiesenheit auf Fürsorge eine Würde. Der Alltag wird zu einem Versuch, in der Krankheit Maß und Form zu finden, Pacing als Lebensform zu entdecken, die Praxis der Selbstführung den eigenen, sich ständig wandelnden Möglichkeiten anzupassen.
Dabei entsteht nicht nur der Blick ins Innere einer Krankheit, sondern eine Reflexion über Freiheitsmöglichkeiten, Zeiterfahrungen und Verletzlichkeit. Diese Reflexion wird unter der Hand zum Prüfstein für die gesellschaftlichen Fitness- und Körperideale in einer individualisierten Leistungsgesellschaft.
In dieser Situation gilt es, dem Leben eine neue Form zu geben, der Autonomie eine neue Gestalt, der Angewiesenheit auf Fürsorge eine Würde. Der Alltag wird zu einem Versuch, in der Krankheit Maß und Form zu finden, Pacing als Lebensform zu entdecken, die Praxis der Selbstführung den eigenen, sich ständig wandelnden Möglichkeiten anzupassen.
Dabei entsteht nicht nur der Blick ins Innere einer Krankheit, sondern eine Reflexion über Freiheitsmöglichkeiten, Zeiterfahrungen und Verletzlichkeit. Diese Reflexion wird unter der Hand zum Prüfstein für die gesellschaftlichen Fitness- und Körperideale in einer individualisierten Leistungsgesellschaft.
Jana Petersen, Jahrgang 1978, studierte Sozial- und Kulturanthropologie und Religionswissenschaft an der FU Berlin und absolvierte die Evangelische Journalistenschule. Sie war Redakteurin der Wochenendausgabe der taz, die tageszeitung, für die sie noch immer als Autorin schreibt. Ihre Texte erscheinen zudem in Publikationen wie Zeit Online, Monopol und Feministische Studien. Seit 2022 ist Jana Petersen an ME/CFS erkrankt und berichtet über ihr Leben mit der Krankheit. Sie hat zwei Kinder und lebt in Berlin.
Mein rechter Arm ist lahm, ich spüre es sofort. Gestern habe ich eine Geranie auf dem Balkon eingepflanzt, jetzt kann ich ihn nicht mehr heben. Ich stehe auf, gehe ins Bad und putze mir die Zähne mit der linken Hand. Letzten Donnerstag war ich für eine halbe Stunde draußen. Ich bin 900 Meter gegangen und habe vor einem Café gesessen. Seitdem kann ich meine Wohnung nicht mehr verlassen. Ich telefoniere 20 Minuten mit meiner Schwester. Ich lege auf, falle zurück aufs Bett, stopfe mir Ohropax in die Ohren und schließe die Augen. Ich atme und warte darauf, dass sich mein Herzschlag wieder beruhigt. Atmen, mehr geht nicht. Und selbst wenn mehr ginge: Mehr darf ich nicht, wenn ich heute, morgen und vielleicht die ganze Woche noch irgendwas anderes machen will als liegen und atmen.
2022 habe ich mich mit Covid angesteckt. Seitdem habe ich ME/CFS, eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die fast alle zentralen Systeme im Körper betrifft und die meist durch Viren ausgelöst wird, manchmal durch Bakterien, selten durch Medikamente und Impfungen. Die Abkürzung klingt kryptisch, der ganze Name ist kaum aussprechbar: Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome.
Die genauen Krankheitsmechanismen sind bislang nicht vollständig geklärt, aber Studien zeigen, dass der Energiestoffwechsel auf zellulärer Ebene gestört ist, Teile des Gehirns sowie das autonome Nervensystem nicht mehr funktionieren und chronische Entzündungen, Autoantikörper und Störungen im Darm eine Rolle spielen.
Die Grenzen kommen seitdem näher. Das Treppenhaus auf dem Weg in den Hof markiert so eine Grenze. Manchmal ist es die Kante meines Bettes, manchmal der Bildschirm meines iPhones, wenn meine Augen selbst das gedimmte Licht nicht ertragen. Manchmal sind es Briefe und Mails, die ich weder öffnen noch beantworten kann. Seit heute Morgen ist eine unüberwindbare Grenze der Unterschied zwischen meinem liegenden Arm und dem gehobenen.
ME/CFS geht mit vielfältigen Symptomen einher und kann unterschiedlich schwer ausgeprägt sein. Menschen mit milderen Formen der Krankheit können teilweise noch arbeiten; in seiner schwersten Ausprägung bedeutet ME/CFS, Tag und Nacht in Dunkelheit und Stille zu verbringen, künstlich ernährt, mit andauernden Schmerzen. Ich reagiere stark auf Reize und habe Fatigue, eine heftige körperliche Schwäche. Ein permanentes Krankheitsgefühl begleitet mich, als hätte ich hohes Fieber und einen Jetlag zugleich. Kaum eine der 1145 Nächte seit meiner Infektion verlief erholsam, oft wache ich stündlich auf. Meine Konzentration ist gestört, ich habe Schmerzen und – an schlechten Tagen – Brain Fog. Dann fällt mir zum Beispiel das Wort für Baum nicht ein. Mein Kreislauf funktioniert nicht wie bei Gesunden, mein Blut wird in aufrechter Haltung nicht optimal ins Gehirn gepumpt, was dazu führt, dass ich nur kurze Zeit sitzen oder stehen kann.
Viele dieser Symptome schränken mich stark ein, doch am heftigsten wirkt die sogenannte PEM, die Post-Exertionelle Malaise, die ME/CFS gegen andere Krankheiten abgrenzt. PEM ist eine bestimmte Form der Belastungsintoleranz, die nach minimaler Anstrengung zu einer Verschlimmerung aller Symptome für Tage, Wochen oder Monate führen kann – im schlimmsten Fall sogar dauerhaft. PEM ist kein Ausdruck bloßer Erschöpfung, sondern beruht auf messbaren biologischen Veränderungen. Meine Mitochondrien, die sogenannten „Kraftwerke der Zellen“, arbeiten nicht wie sie sollen, die kleinsten Gefäße werden nicht mit Sauerstoff versorgt, in meiner Muskulatur kommt es zu Immunreaktionen. PEM tritt zeitverzögert auf, bis zu 72 Stunden nach einer Belastung. Das erschwert es, bestimmte Anstrengungen einem Crash zuzuordnen, wie eine akute PEM von Betroffenen genannt wird. Während eines Crashs versuche ich, den Großteil des Tages zu liegen, im Dunkeln und Stillen, und nur zu atmen.
Fast alle Grenzen, an die ich täglich stoße, sind Folge von PEM. Wo ich früher durchpushen konnte, die Zähne zusammenbeißen, muss jetzt Schluss sein, sonst bezahle ich es teuer. Die Covid-Aktivistin Violet Affleck nennt PEM eine Art körperliche Überziehungsgebühr. Ich rutsche immer tiefer in den Dispo. Dabei bin ich pausenlos damit beschäftigt, mich selbst zu unterbrechen. Oft spüre ich die Grenzen gar nicht, weil sie in der Zukunft liegen. Dann handle ich erst, wenn es zu spät ist und die Symptome deutlich werden: Mein Gesichtsfeld verengt sich, mein Sprechen wird verwaschen, mein Hals schmerzt, mein Puls steigt. Dann ist der Crash da. Meine Mitochondrien nehmen Schaden, nur schwer reparierbar. Die Psychotherapeutin Bettina Grande, die sich seit Jahren mit ME/CFS beschäftigt, hat auf Social Media einen Hashtag etabliert, der im Grunde alles zusammenfasst, was man über das Symptom wissen muss: #PEMistnichtverhandelbar.
PEM ist auch deshalb so tückisch, weil sich die Belastungen unbemerkt stapeln. In den Situationen selbst, in denen sie sich ereignen, werden sie oft nicht als solche wahrgenommen. Die Baustelle einen Block weiter, die konstanten Lärm erzeugt. Die Emotionen, die ein Posting auf Instagram heute morgen ausgelöst hat. Die Hausaufgaben, die ich gestern Abend mit meinem Sohn gemacht habe. All diese unscheinbaren Anstrengungen können dazu führen, dass die nächste Aktion, die gestern noch ohne Konsequenzen blieb, plötzlich die Toleranz überschreitet. Die Grenzen von PEM sind fluide, unberechenbar, launenhaft, sie verschieben sich ständig. Das macht es schwer, mit ihnen umzugehen.
„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“, hat der Philosoph Ludwig Wittgenstein einmal gesagt. Welterschließung ist dann auch immer eine Spracherweiterung, auch wenn meine Welt vor allem aus Grenzen besteht. Aber für meine Welt habe ich eine neue Sprache gelernt, lernen müssen: PEM, Crash, Pacing, Crip Time, ME/CFS. In dieser Sprachwelt navigiere ich nun „zwischen ‚guten Tagen‘ und ‚schlechten Tagen‘”.
ME/CFS ist eine Ansammlung trauriger Superlative: Der Guardian nennt den Umgang mit der Krankheit den größten Medizinskandal des 21. Jahrhunderts, sie ist Studien zufolge eine der schwerwiegendsten chronischen Krankheiten überhaupt und die Krankheit mit der verhältnismäßig geringsten Forschung. ME/CFS gilt als eine der am häufigsten missverstandenen Krankheiten, sie bringt eine der niedrigsten Lebensqualitäten mit sich. Menschen mit ME/CFS haben ein erhöhtes Suizidrisiko. Manche verhungern. Zuhause, in Krankenhäusern.
Während ich diesen Text schreibe, ist wieder jemand gestorben. Sein Name war Bo. Ich kannte ihn von Social Media. Ich erinnere mich an den Dinosaurier in seinem Profil. Ich retweete einen seiner Einträge. „Je länger krank, desto kränker“, steht da. Das gilt auch für mich. Schleichend hat sich mein Gesamtzustand verschlechtert. Jeder Crash verengt meinen Radius. Fotos aus den ersten Jahren zeigen mich auf Festen und Reisen, inzwischen scheint mir das unerreichbar. Dieses subjektive Empfinden spiegelt sich in den Werten, die ich täglich messe. Die Kurve der Herzratenvariabilität, ein Faktor, der mit körperlicher Schwäche korreliert, geht langsam, aber stetig bergab, mein Ruhepuls steigt. Ich überlaste mich kontinuierlich, obwohl ich immer weniger unternehme.
Um meine sich immer wieder verschiebenden Grenzen zumindest auf dem Papier zu bannen, versuche ich sie zu ordnen: Da sind die beschriebenen körperlichen und räumlichen Grenzen (ich kann den Arm nicht heben und nicht einfach die Post holen). Da sind die existentiellen Linien, etwa die zwischen gesund und krank, zwischen isoliert und vereint. Mit jedem Crash rückt die Grenze zur völligen Handlungsunfähigkeit näher, wie sie Menschen mit schwerster ME/CFS erleben, ein Zustand zwischen Leben und Nichtleben.
Viele dieser Betroffenen beschreiben diesen Zustand als „lebendig begraben“ oder „Sterben bei lebendigem Leib“.
Ich kann kaum das Haus verlassen, mich nicht allein versorgen – aber bürokratische Hürden verwehren mir einen Schwerbehinderten-Status. Obwohl ME/CFS seit 1969 von der WHO als neuro-immunologische Erkrankung geführt wird, obwohl Betroffene immer und immer wieder auf ihr Leid aufmerksam machen, wurde die Krankheit jahrzehntelang zu einer psychischen erklärt und wird sie teilweise heute noch. Diese Fehleinschätzung führt dazu, dass viel weniger öffentliche Mittel zur Verfügung gestellt als gebraucht werden. Notwendige Forschung wird verhindert. In der Folge gibt es noch immer keine heilenden Therapien. Die wenigen symptomatisch wirkenden Off-Label-Medikationen muss ich von meiner schmalen Erwerbsminderungsrente bezahlen. Vielen Betroffenen wird sogar diese Finanzierung verweigert, weil sie zu krank für eine Reha sind – und hierzulande Rente nur in Ausnahmen ohne Reha gewährt wird. Dazu kommen Barrieren in Praxen und Kliniken. ME/CFS-Betroffene können nicht einfach den Notarzt rufen oder in ein Krankenhaus gehen, viele noch nicht einmal zum Hausarzt. Nicht nur, weil sie dazu körperlich zu schwach sind, sondern auch, weil medizinisches Personal das Krankheitsbild oft nicht kennt und Fehlbehandlungen, grelles Licht, Geräusche und zu viele Eindrücke bei Betroffenen Crashs auslösen. Krankenhäuser sind für Menschen mit ME/CFS potentiell gefährliche Orte.
Es ist schwer, sich gegen all das zu wehren. Aktivismus ist mit ME/CFS kaum möglich. „Activism involves action“, schreibt die Anthropologin Emily Lim Rogers – und Aktivität ist bei der Erkrankung eine äußerst knappe Ressource. Online-Räume sind oft die einzigen Orte, an denen ich demonstrieren kann, und auch das ist kognitiv belastend. Um an diesem Text zu arbeiten, kann ich in den Wochen und Monaten des Schreibens keine Arzttermine wahrnehmen, die Anträge auf meinem Schreibtisch nicht bearbeiten, keinen Besuch empfangen. Und ich gehe mit dem Schreiben ein Risiko ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass es mir in den nächsten Monaten schlechter geht, steigt dadurch.
Die neue Kartografie meines Lebens schimmert zwischen Verlust, Schutz und Verwandlung. Ohrenstöpsel, Sonnenbrille und Schlafmaske sind für mich Schutzschilde. Meine Wohnung ist eine Festung. Balkontür, Fenster und Rollo werden zu Reglern meiner Reizwahrnehmung. Meine Augenlider wehren den Schmerz ab, den das Licht auf meiner Netzhaut erzeugt.
Der Philosoph Georges Canguilhem begreift Mitte des 20. Jahrhunderts Krankheit nicht als Abweichung vom Normalen, sondern als eine „Dimension des Lebens“. Krankheit ist für ihn normal, aber nicht normativ, denn Kranke verlieren ihre Fähigkeit zur Responsivität. Ich spüre diesen Verlust täglich. Jede Abweichung von meinem rigiden Protokoll, jede vergessene Pause zieht Rückschläge nach sich. Gesunde Menschen, schreibt Canguilhem, haben „eine Marge an Toleranz gegenüber den Unerlässlichkeiten der Umwelt“. ME/CFS reduziert diese Spanne so stark, dass selbst die kleinste Abweichung im Alltag zu einer Herausforderung wird – etwa ein ungeplantes Telefonat. Die Krankheit zwingt zur Monotonie.
ME/CFS führt vor Augen, was die Philosophin Jule Govrin in ihrem Essay „Politische Körper“ als fundamentale Einsicht der Pandemie beschreibt, nämlich „wie sehr unsere Körper voneinander abhängen, sodass die Sorge um sie uns alle angeht“. Diese gegenseitige Abhängigkeit wird häufig ignoriert. Kranke, nicht funktionale Körper wie meiner bilden „Körpermassen, von denen die (…) Wirtschaftsordnung des Kapitals zehrt, die sie in nutzbare und nutzlose Körper sortiert“. In meiner Erfahrung mit ME/CFS wird deutlich, dass Autonomie über den eigenen Körper nicht selbstverständlich ist. Sie steht im Gegensatz zum neoliberalen Ideal des „Entrepreneurs“ seiner selbst, der „instrumentell über seinen Körper verfügt“. Postpandemische Körper, wie man sie mit Govrin nennen könnte, Körper mit postakuten Infektionssyndromen wie Long Covid oder ME/CFS, stehen nicht zur Verfügung, weder mir noch anderen. Sie fordern Sorgebeziehungen und Solidarität ein und werden so zum Ausdruck einer geteilten menschlichen Bedingtheit. Canguilhem betont, dass im Umgang mit jeder Krankheit eine neue Ordnung des Lebens entsteht. Dieser Prozess beschreibt nicht nur Einschränkung und Verlust, sondern auch „Umgestaltung“. Ich bin gezwungen, mich neu zu orientieren.
Bei der Neuorientierung meines Lebens helfen mir unterschiedliche Werkzeuge. Eines der grundlegendsten ist das Pacing. So nennt man das zentrale Instrument im Umgang mit ME/CFS, ein Aktivitätsmanagement mit dem Ziel, innerhalb der Grenzen meines Energie-Budgets zu bleiben und Crashs zu vermeiden. Dabei geht es nicht nur um Pausen, sondern um eine erhebliche Veränderung meiner Lebensrhythmen, meiner Tagesstruktur und Selbstwahrnehmung. Ich zerlege Aufgaben in kleinste Schritte, plane Ruhezeiten ein, auch an besseren Tagen. Diese Disziplin zwingt mich, mich von der Außenwelt abzugrenzen – und von mir selbst. Manchmal fühle ich mich wie eine Wächterin meiner Grenzen, wie ein gatekeeper mit strenger Tür. Ich muss mich davon abhalten, in den begehrten Club des Lebens zu kommen, weil ich mir dort selbst schaden würde. Eine Userin auf Instagram, @rea.strawhil, schreibt, ME/CFS zu haben sei wie „microdosing life“, Leben in kleinsten Dosierungen. Die Sozialberaterin in der Reha erklärte mir, beim Antrag auf Anerkennung der Behinderung sollte ich „selbstverletzendes Verhalten“ angeben. Aus ihrer Sicht verletzen sich fast alle Menschen mit ME/CFS pausenlos selbst – weil es so schwer ist, Wächterin seiner eigenen, sich immer wieder verschiebenden und oft unsichtbaren Grenzen zu sein.
Und doch liegt in der Praxis des Pacings eine Form von Selbstbestimmtheit. Canguilhems neue Ordnung bedeutet im Fall von ME/CFS ein fast asketisches Regime, das zwar nicht die Freiheit ermöglicht, alles tun zu können, aber die Fähigkeit unterstützt, innerhalb meiner Grenzen zu gestalten. Die Krankheit zwingt mich nicht einfach, langsamer zu leben, sondern in einer anderen Art von Zeit. Crip Time beschreibt in den Disability Studies, wie Behinderung und chronische Erkrankung das Erleben der linearen Zeit, wie wir sie in unserer Gesellschaft kennen, verändern können. Leben in Crip Time rechnet das Warten, das Stocken, auch das Aushalten und Trauern, das mit meinem Zustand einhergeht, mit ein. Der Rhythmus meines Körpers passt nicht nur nicht zur kapitalistischen Leistungsnormalität, er formt sie auch, wie die feministische Denkerin Alison Kafer betont: „Anstatt behinderte Körper und Gedanken der Uhr anzupassen, passt Crip Time die Uhr an behinderte Körper und Gedanken an.“
Atmen ist das kleinste Bewegungsmuster, das ich noch selbst gestalten kann. Atmen bleibt, wenn Denken zu anstrengend ist, Lesen zu grell, Fühlen zu viel. Pausen, in denen ich nichts tue, außer ruhig, tief und gleichmäßig zu atmen, bilden für mich eine Mikrostruktur der Autonomie. Ich plane und befolge sie akribisch. „Der Atem, der uns alle vereint und verbindet, ist universell, er schafft Gleichheit zwischen den Einzelkörpern“, schreibt Jule Govrin. Für mich ist Atmen ein Moment jenseits von Produktivität oder Nützlichkeit, der mich im (wenn auch schmerzvollen) Jetzt verankert und mich mit mir selbst verbindet.
Ich übe bewusstes Atmen seit Jahren. Lange bevor ich krank wurde, habe ich Holotropes Atmen praktiziert, eine Technik, bei der durch beschleunigtes, vertieftes Atmen veränderte Bewusstseinszustände erreicht werden können. Diese Form des Atmens führte mich in „Andere Räume“, wie man sie mit Michel Foucault nennen könnte, Gegenräume zu Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit. Für Foucault sind das vor allem physisch erreichbare Räume wie Bordelle, Friedhöfe, Gärten, es können aber auch „ortlose Orte“ sein, die Nacht etwa, oder die Lust. Wenngleich ich die Praxis des Holotropen Atmens seit Beginn meiner Erkrankung nicht mehr betreiben kann, zehre ich doch von der Erfahrung der Schwellenräume.
Erleben kann ich diese Anderen Räume in besseren Phasen meiner Krankheit noch immer, in Sitzungen mit psychoaktiven Substanzen wie Ayahuasca, einem Tee aus dem Amazonas, oder Psilocybin, dem Wirkstoff in bestimmten Pilzen. Klar, Ayahuasca ist in Deutschland verboten, weil der Tee Dimethyltryptamin, kurz DMT, enthält, eine psychoaktive Substanz, deren Besitz und Verkauf gemäß des Betäubungsmittelgesetzes unter Strafe steht. Und auch Psilocybin, ein psychoaktiver Inhaltsstoff, war in Deutschland lange Zeit nur in klinischen Studien erlaubt, nicht allgemein zugelassen. Anders als in Australien, wo Psilocybin auf die Liste der von der Therapeutic Goods Administration zugelassenen Arzneimittel gesetzt worden ist. Seit Juli 2025 darf Psilocybin in besonderen Fällen auch therapeutisch eingesetzt werden.
Mir helfen diese Substanzen. Mit ihnen kann ich jene Anderen Räume „betreten“. Die Zustände, die ich dort erleben kann, übersteigen Verstand und Kausalität und führen in eine Realität, die „wirklicher als wirklich“ erscheint. Es sind Räume der universalen Verbindung. Identitäten und Denkmuster zerfallen, es entsteht ein pulsierendes Feld.
Mystische Erfahrungen, so beschreibt es der Religionswissenschaftler William James, bringen eine tiefe Verbundenheit mit allem, das Bewusstsein über die Präsenz eines „Chors aller Großen“. Dieser Vielklang durchbricht meine Isolation und trägt mich durch die Stille und Dunkelheit. Jule Govrin beschreibt pandemische Körper als „ineinander verwoben, durcheinander verwundbar, aufeinander bezogen“. Diese Verbundenheit im Angesicht des Virus bleibt in postpandemischen Körpern erhalten, in Körpern, die weiterhin nicht heilen. Ich verbinde mich nicht nur mit all den wunden Wesen, sondern auch mit meinen Pflanzen, mit den Wolken und den Mauerseglern vor meinem Fenster. Ich nehme Kontakt auf mit meinen „queer messmates" wie Donna Haraway mikroskopisch kleine Kreaturen nennt, ich mache mich verwandt mit Pilzen und Mikroben in mir, mit Staub und Fusseln vor mir.
Studien zu Ayahuasca zeigen, wie sehr die Arbeit mit der Substanz Menschen im positiven Sinne verändern kann. Sie kann als Katalysator wirken für tiefe Einsichten, der Verarbeitung emotionaler Schichten und dem Verstehen eigener Handlungsmuster. Der Blick aufs eigene Leben wird positiver. Diese Neucodierungen des Lebens können sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft reichen, sie führen zu einer Neubewertung von Gewesenem und einer aktiven Gestaltung des Kommenden. Der Umgang mit Trauer, Verlusten und Grenzen wandelt sich. Ich bin zwar körperlich kränker denn je – fühle mich aber psychisch gesünder als jemals zuvor. In einer Welt, die Gesundheit meist nur als Abwesenheit von Krankheit versteht, ermöglichen mir psychoaktive Reisen, die Komplexität und Brutalität meiner Grenzen mehr als nur auszuhalten. Ich erlebe sie, vielleicht deute ich sie sogar um.
Mein Tanz mit den Grenzen ist ein stetiges Vermessen meiner Freiräume. Der Philosoph Michel Foucault findet in seiner Beschäftigung mit antiken Texten Vorstellungen von Freiheit, die sich nicht durch äußere Unabhängigkeit auszeichnen, sondern vor allem durch die Fähigkeit zur Selbstführung. Freiheit ist in dieser Sicht nur durch „Technologien des Selbst“ möglich, Praktiken, durch die sich das Individuum formen, regieren und transformieren kann. Im antiken Griechenland ermöglichten diese Praktiken eine „Sorge um sich“, eine grundlegende Lebenspraxis, die den Alltag durchdrang. Ziel dieser Selbstsorge war es, ein gutes, freies und wahrhaftiges Leben zu führen. Foucault beschreibt verschiedene Technologien des Selbst, darunter auch Meditationen, die der inneren Wahrnehmung und des Bewusstseins dienen. Sie erinnern mich an meine täglichen Atemübungen. Pacing, diese feine Abstimmung von Prävention und Planung, lässt sich so als eine Kunst des Sich-selbst-Regierens verstehen.
In den Kynikern entdeckt Foucault die kompromissloseste Form der antiken Selbstformung. Die Kyniker lehnten Besitz ab, verspotteten gesellschaftliche Zwänge und lebten in aller Öffentlichkeit, etwa auf dem Marktplatz. Ihre Ziele waren Freiheit und Wahrheit; ihre Körper wurden zu Bühnen des Widerstands. Foucault fragt, fast herausfordernd: „Muss das Leben, um wirklich das Leben der Wahrheit sein zu können, nicht ein anderes Leben sein, ein radikal und paradoxerweise anderes Leben?“. Zwar war das „andere Leben“ der Kyniker selbstgewählt, während meines mir durch die Krankheit aufgezwungen wurde. Und doch lehren mich die Kyniker Wesentliches: die Kunst der Freiheit im Umgang mit Gegebenem.
Wie diese Freiheit aufscheinen kann, zeigt eine kleine Geschichte über Diogenes. Der Kyniker fiel Seeräubern in die Hände, die ihn auf dem Sklavenmarkt verkaufen wollten. Auf die Frage nach seiner Fähigkeit antwortete er: „Menschen beherrschen“. Als hätte er bereits eine neue Ordnung geschaffen, zeigte er auf einen eleganten Korinther und erklärte: „Diesem verkaufe mich; er bedarf eines Herrn“. Der Reiche kaufte ihn – und übertrug ihm die Leitung seines gesamten Lehrwesens. Vom Sklaven zum Herrn in wenigen Sekunden. Diogenes zeigt, was das bedeutet: die „Münze umprägen“. Selbst als Gefangener lässt er sich nicht enteignen.
Die Münze umprägen: Dieses zentrale Prinzip der Kyniker bedeutet für meinen Umgang mit ME/CFS, meinen mageren Möglichkeiten andere Werte einzuschreiben. Produktivitäts- und Leistungsidealen stelle ich die Fähigkeit gegenüber, innerhalb meiner Begrenzungen präsent zu sein, sie ernst zu nehmen und mich zugleich nicht über sie zu identifizieren. Ich achte meine Bedürfnisse und Verletzlichkeit. Ich bin, wie der Kyniker Antisthenes, aus „Liebe zum Leben duldsamer gegen die Krankheit“ und entwickele die „Fähigkeit, mit mir selbst zu verkehren“. Ich kann mich nicht fragen, was ich leiste. Ich frage mich, auf welche Weise ich bin. Meine Zeit ist nicht messbar in Tagessätzen. Ich bewohne die Zeit. Ich stelle mich und meinen schwachen, kranken Körper aus. Ich trotze der Scham. Ich öffne mich der Verbindung. Ich fordere Zeugenschaft. Ich belle.
Neulich las ich einen Aufruf der Autorin Ro Salarian, Behinderte mitzudenken bei gesellschaftlichen Umbrüchen: „Sie haben kein Geld, keine Energie, keine körperlichen Fähigkeiten, keine Zeit. Sie sind bedürftig und werden nie in der Lage sein, zurückzugeben. Ihr müsst auch sie retten.“ Ein Kommentar zu diesem Appell verweist auf die zentrale Rolle, die Behinderte und Kranke in der Entwicklung von Lebensweisen jenseits von Gewinnlogik spielen können: „Sie lehren uns, verletzlich genug zu sein, um zu sagen: Ich brauche Fürsorge. Das ist das wichtigste Werkzeug, von dem man lernen kann, um ein nicht-kapitalistisches Leben aufzubauen.“ ME/CFS ist eine Krankheit, „die weniger braucht“, wie es die Userin @sveamariesofie auf Instagram formuliert. Während mehr Aktivierung bei den meisten Erkrankungen hilft, verschlechtert sie bei ME/CFS den Zustand. Diese Logik des „Weniger“ fordert die medizinische Praxis und kapitalistische Gesundheitssysteme heraus, die auf „Mehr“ basieren.
Lernen von Crips. Das ist auch die zentrale These in Violet Afflecks Essay „A Chronically Ill Earth“. Affleck plädiert dafür, in Hinblick auf den Umgang mit der Klimakrise aus den Erfahrungen mit postviralen Krankheiten zu lernen. Gebraucht wird kein reaktives Handeln auf sichtbare Katastrophen wie die Waldbrände in Los Angeles, sondern eine Art kollektives, präventives Pacing, wie ich es täglich praktiziere: Menschen mit ME/CFS „wissen, dass ein Crash unvorhersehbar und nicht rückgängig zu machen ist; das Ziel von Pacing ist es, die Symptome gar nicht erst auftreten zu lassen“. Erfolg, schreibt Affleck, wird nicht an einer Reaktionen auf Krisen gemessen, sondern an der Abwesenheit der Notwendigkeit einer Intervention. PEM vermeiden, aber kollektiv. Genau das könnte zum Modell werden für den Umgang mit der Klimakrise.
Ich habe der Krankheit einen Platz in meinem Leben eingeräumt. Ich dulde sie nicht nur, sondern jetzt, da sie nun mal da ist, behandele ich sie wie einen Freund, der zu Gast ist. Dem ich das Sofa herrichte, dem ich belegte Brote mache, weil die Reise lang war. Ich versuche, so wenig Widerstand wie möglich gegen diesen Freund zu entwickeln, denn Widerstand kostet Kraft, und die habe ich nicht. Ich behandele ihn gut, meinen Freund. Aber ich freue mich, wenn er bald abreist.
Bis es so weit ist, bleiben Fragen. Wie lange kann ich meinen Zustand halten? Was passiert, wenn ich nicht mehr aufstehen kann, wenn ich kein Licht und kein Geräusch mehr ertrage? Wer legt mir einen Zugang für Infusionen? Wie kann ich meine Rechte einfordern – auf Unversehrtheit, auf angemessene medizinische Versorgung, auf soziale Teilhabe? Wer schützt meine Würde? Wer füttert mich? Wer wickelt mich? Wer wäscht mich? Wer klagt für mich?










