
„Wölfe werde ich nicht zu Gesicht bekommen, aber ich würde ihnen dennoch begegnen“, sagt Paul Wernicke, als wir vor meiner Teilnahme an seinem „Wolfstracking“ telefonieren. Wegen einer Recherche melde ich mich für einen Workshop übers Spurenlesen bei ihm an. Es ist ein eisiger Februarnachmittag, als ich meine Ausbildung zur Spurenleserin beginne. Dass sich an diesem verschneiten Tag das Fenster zu einer ganz neuen Welt öffnet, zu einer gänzlich neuen Perspektive auf die Welt, ahne ich noch nicht.
Es geht um die Aufmerksamkeit für winzige, scheinbar unbedeutende Details. Es geht darum, sich in nicht menschliche Wesen hineinzuversetzen. Oder wie der Philosoph und Spurenleser Baptiste Morizot schreibt: „Nach und nach seine Art zu leben, seine Art zu sein, seine Art zu denken, seine Art zu wünschen, seine Art zu fühlen“ zu erkunden. Es ist die Kunst, die Zeit zu verlangsamen oder gar rückwärts laufen zu lassen, denn Spuren führen immer in die Vergangenheit. Auch in unsere eigene.
Spurenlesen gleicht einem Essay, einem Versuch, zu verstehen, eine Annäherung an das unsichtbare Leben.
Anna Marie Goretzki, geboren in Hessen, ist Journalistin, Ethnologin und Feature-Autorin. Seit Kurzem lebt sie in einem Dorf in Brandenburg und ist über die Wölfe in ihrer Umgebung zum Spurenlesen gekommen. In ihren Beiträgen für öffentlich-rechtliche Medien widmet sie sich dem Klimawandel, ökologischen Themen, den menschlichen Naturverständnissen und anderen gesellschaftlich relevanten Fragen.
Es passiert an diesem Februarnachmittag in einem Wald in Brandenburg. Da entzündet sich etwas in mir. Ich spüre plötzlich diesen Sog, noch mehr aufspüren zu wollen. Noch mehr von ähnlichen Geschichten wie jener, auf die wir soeben gestoßen sind.
Seit zwei Tagen bin ich mit einer Gruppe von Spurenlesern und Spurenleserinnen in der eisigen Winterkälte draußen unterwegs. Paul Wernicke und Greg Sommer, erfahrene Spuren-Tracker, lassen uns diese Kunst entdecken.
Am ersten Tag liegt Schnee, der erste richtige und auch gleichzeitig letzte Schnee dieses Winters. Ein Substrat, so heißt es in der Sprache der Tracker, also Untergrund, wie gemacht zum Spurenlesen. In der Gruppe bringen eigentlich alle außer mir schon Vorkenntnisse im Spurenlesen mit. Unerfahren wie ich bin, gehe ich davon aus, dass es vor allem darum geht zu deuten - möglichst richtig - von wem ein Trittsiegel, also der Abdruck eines Hufes, einer Pfote, eines Fußes, einer Klaue … stammt. Bestenfalls noch wann es, er oder sie dieses Trittsiegel hinterließ und in welcher Gangart. Und natürlich geht es mir vor allem um sie: Die Wölfe, deretwegen ich mich mit einem journalistischen Auftrag der Gruppe angeschlossen habe. Paul nimmt mir aber schon bei unserem Telefonat vor dem Camp den Wind aus den Segeln. Was er sagt, bleibt für mich zunächst rätselhaft: sehen würde ich Wölfe nicht, aber ihnen trotzdem begegnen.
Nun gut. Tag Eins. Wir stapfen los. Den Hügel hinter dem zentralen Platz des Camps hinauf. Der Schnee knirscht unter unseren Sohlen. Wir hinterlassen unzählige Spuren, sind aber emsig darauf erpicht, bereits Vorhandene nicht zu zerstören. Der Wald, den wir betreten, ist noch ganz still. Wir sind es auch. Nur Greg und Paul nicht. Sie haben es eilig und viel zu erzählen, denn das Substrat unter unseren Sohlen schmilzt und mit ihm verschwinden die Spuren, die die beiden schon bei Sonnenaufgang als unsere Studienobjekte ausgemacht haben.
Greg führt uns zu einem ovalen Abdruck im Schnee, der etwa einen halben Meter lang ist. Genau beobachten sollen wir. Keine Interpretationen, keine Schlussfolgerungen. Und ganz wichtig: nicht danach fragen, wer hier war. Nur das Wie zählt in diesem Moment. Wie hat es diesen Abdruck gemacht? Welche Form ist entstanden? Wo wurden Blätter, wo wurde Erde bewegt? Ich versuche, mich in diesen Abdruck zu vertiefen, der so unscheinbar ist, dass ich bei jedem meiner vorherigen Waldspaziergänge vorbeigelaufen wäre. Die Ernsthaftigkeit und Akribie mit der wir uns an die Beobachtung machen, amüsiert mich. Greg mahnt erneut: Die Fragen nach dem Warum und Wer sind irrelevant. Ich merke, wie ich aber genau nach diesen Antworten giere. Sie würden meine Neugier schnell befriedigen, ich könnte weiterziehen. Ich habe nicht die Ruhe, hier im Schnee zu stehen und mehr Fragen aufzuwerfen als Antworten zu erhalten. Mein innerer Rhythmus passt nicht zu dem, was mich umgibt und nicht zu den Aufgaben, die an mich gestellt werden. Ich bin noch im Takt des schnellen Weiterwischens, des Scrollens, effektiven Erledigens, des Abhakens. All dem, was mein Leben sonst prägt.
Erst langsam kann ich mich auf das einlassen, um das es hier gehen soll: um ein meditatives Erforschen, ein Üben der Achtsamkeit, ein Feintuning meiner Beobachtungsgabe. „Wenn ihr aus dem Wald geht und mehr Fragen habt als eindeutige Antworten, habt ihr alles richtig gemacht“, lernen wir von Paul. Hier herrscht ein völlig anderes Regelwerk als in meiner alltäglichen Welt.
Paul führt uns zu einer Eiche und bittet uns, ihre Rinde genau zu betrachten. Er will ein Grundprinzip erklären, um, wie er sagt, „Spuren sichtbar zu machen, um Geschichten herauszufinden“. Wir lernen die Baseline lesen. Lernen, den Seismographen unserer Wahrnehmung so fein zu justieren, dass wir Veränderungen der Grundstimmung wahrnehmen. Wir fokussieren uns jetzt nur auf die Rinde und ihre Beschaffenheit: Welche Farbe sie hat, welche Struktur, wie sie bewachsen ist. Wir beginnen zu erkennen, wo das Muster, die Regelmäßigkeit unterbrochen ist, bemerken, wo sich vielleicht eine Störung zeigt. Es ist dies das Prinzip, das sich Spurenlesende zunutze machen. Wenn die Baseline eine Wiese mit aufrecht wachsendem Gras ist, fällt es ins Auge, wenn an einer Stelle Grashalme geknickt sind, gar plattgedrückt. „Alles erzählt eine Geschichte“, begeistert sich Paul.
Abends in der Schwitzhütte, nach einem wärmenden Eintopf am Feuer, nehme ich eines der Bücher in die Hand, die Paul und Greg als Lektüreempfehlung ausgelegt haben. Philosophie der Wildnis - oder - Die Kunst vom Weg abzukommen, ein Titel des Philosophen und Spurenlesers Baptiste Morizot. Ich beginne zu lesen: „Das Anspruchsvolle und Faszinierende am Spurenlesen besteht darin, das ihm alles Spektakuläre völlig abgeht. (..) Es geht darum, das Unsichtbare zu sehen, die immateriellen Habitate aufzudecken in einer Welt, die reicher ist als gedacht und in der man niemals allein war. (…) - es bedeutet aber nicht, Namensetiketten für jede Spezies anzulegen, der man begegnet.“
Wenn ich nun die „immateriellen Habitate“ aufdecke, in die Welt des „Unsichtbaren“ eintauche, entferne ich mich mit jedem Schritt von meinem anthropozentrischen Weltbild. Ich verabschiede mich mehr und mehr von dem Denken, dass der Mensch im Mittelpunkt dieser Welt steht. Ein Denken mit gravierenden Folgen. Es ist eine Vorstellung, die es uns leicht macht, aus ihr bestimmte Rechte abzuleiten: das Recht, Wälder zu roden, Seltene Erden zu schürfen, Flüsse einzudämmen oder umzuleiten. All dies, ohne danach zu fragen, wessen Zuhause, wessen Lebenswelt wir damit eigentlich gerade zerstören. „Das Spurensuchen“, schreibt Baptiste Morizot, „verschafft uns vielleicht wieder jene Sensibilität für unsere Umwelt, die uns durch das ‚Erlöschen der Erfahrung‘ abhanden gekommen war: Es macht unseren Verlust an Sensibilität und Wissen über die Lebewesen wett. (…) Durch das Spurenlesen erleben wir ein begieriges Suchen nach Zeichen, ein Eintauchen in miteinander geteilte und verschlungene Habitate.“
Stefan setzt sich zu mir ans Feuer. Er hat schon an vielen Kursen der Wildnisschule teilgenommen, ist viel draußen unterwegs und hat eine große Faszination für Tierspuren entwickelt. Er kommt ins Philosophieren: „Es gibt diesen coolen Satz: ‚Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.‘ Und das geht mir beim Spurenlesen genauso. Das, was da draußen passiert, passiert alles vorwärts, aber wenn ich rausgehe und gucke, dann kann ich das rückwärts verstehen und genau das hilft mir auch, (zu verstehen), warum bin ich so wie ich bin, was mag ich an mir, wie gehe ich mit den Sachen um, warum hat sich die Menschheit zu dem entwickelt, was sie heute ausmacht. Das ist auch eine Spurensuche.“ Spuren führen immer in die Vergangenheit.
Mir kommt das Kinderbuch Es klopft bei Wanja in der Nacht von Tilde Michels und Reinhard Michl in den Kopf, das mein Vater uns Kindern an kalten Herbst- und Winterabenden inspiriert von der sozialen Message des Buches mit besonders viel schauspielerischem Engagement vorgelesen hat. In einer stürmischen Winternacht klopft es bei Wanja, dessen Haus einsam an einem Waldrand steht. Erst bittet ein Hase, dann ein Fuchs und schließlich ein Bär um Einlass. Die eisige Kälte bedrängt sie so sehr, dass sie trotz existenzieller Angst voreinander eine Nacht gemeinsam in Wanjas Hütte verbringen. Am nächsten Morgen, als Wanja aufwacht, haben sich die Tiere schon davongestohlen:
„Der Wanja - noch vom Schlaf umfangen
- begreift nicht, was hier vorgegangen.
Er blickt umher im leeren Raum.
War denn das alles nur ein Traum?
- begreift nicht, was hier vorgegangen.
Er blickt umher im leeren Raum.
War denn das alles nur ein Traum?
Doch draußen sieht er von drei Tieren
die Spuren sich im Schnee verlieren.
die Spuren sich im Schnee verlieren.
Der Wanja schaut und nickt und lacht:
‚Wir haben wirklich diese Nacht
gemeinsam friedlich zugebracht. –
Was so ein Schneesturm alles macht!’“
‚Wir haben wirklich diese Nacht
gemeinsam friedlich zugebracht. –
Was so ein Schneesturm alles macht!’“
Spuren erzählen Geschichten. Gute Nacht.
Am nächsten Morgen ist der Schnee getaut. Ich schiebe die Camper-Tür auf und trete hinaus in eine veränderte Welt: Mit den ersten Sonnenstrahlen schickt uns der nahende Frühling eine Vorahnung. Gestern noch war alles hier draußen leise und verhalten, heute Morgen flötet, zwitschert und tiriliert es aus allen Himmelsrichtungen. Ich laufe zum zentralen Platz der Wildnisschule. Das Substrat unter meinen Sohlen: matschig. Meine Trittsiegel: tief. In den Frühstücksschalen dampft der Porridge. Wir stärken uns für einen langen Tag - tja, wofür denn eigentlich? - Draußen… in der Natur … in der Wildnis… Begrifflich ist all das problematisch, habe ich gestern Abend noch bei Morizot gelesen: „Das Wort ‚Natur‘ ist keineswegs unschuldig; es ist das Markenzeichen einer Zivilisation, die alles daransetzt, Territorien massiv auszubeuten, als seien sie unbelebte Materie“. Morizot schlägt „sich einwalden“ als begriffliche Alternative vor: „Man geht in den Wald, und zugleich zieht dieser in uns ein.“ Man muss das nicht wörtlich nehmen. Worum es Morizot geht, ist, dass wir eine neue Beziehung zu den uns umgebenden „lebendigen Territorien“ eingehen. Dass wir wieder sensibler werden für das uns fast jederzeit umgebende unsichtbare Leben. Um unser aller Willen. Spüren durch Spuren.
Es ist bestimmt kein Zufall, dass „Spuren“ und „Spüren“ etymologisch verwandt sind. „Spur“ kommt vom althochdeutschen Wort „sporn“ und bedeutet „Fußspur“. Das Mittelhochdeutsche Wort „spürn“ heißt „aufsuchen, wahrnehmen“. Vom Aufsuchen, Wahrnehmen, Nachspüren, Aufspüren von Tieren hing - bei einigen Menschen ist das auch heute noch so - die Nahrung, ja, das Überleben ab. „Der Spur des Wildes nachgehen“ erweiterte seine Wortbedeutung wohl im 17. Jahrhundert auf „wahrnehmen, merken, empfinden, fühlen“. Aus Spuren hat sich das Spüren ergeben, und auch jetzt könnten Spuren wieder zum Spüren führen. Zu einer neuen Sensibilität für unsere Umwelt. Das Spurenlesen als Schlüssel zur Wahrnehmung von Welten, von denen wir uns entfernt haben. Die wir im Großen und Ganzen als bedeutungslos abgetan haben, weil unser Überleben nicht mehr von ihnen abhängt - oder doch? Durch unsere Entfremdung von den „lebendigen Territorien“ haben wir ein existenzielles Problem geschaffen. Die Atmosphäre erwärmt sich immer weiter, die Biodiversität schwindet, wir befinden uns mitten im sechsten Artensterben, der Kollaps naht. Dieses Artensterben, das man auch Holozän-Aussterben oder Anthropozän-Aussterben nennt, ist ein Massenaussterben von Tier- und Pflanzenarten, das in etwa so gravierend betrachtet wird, wie das Aussterben der Dinosaurier. Und dennoch sägen wir munter weiter an dem Ast, auf dem wir alle sitzen.
Am Baum, zu dem dieser Ast gehört, hinterlässt eine Larve eine Spur. Diese Kiefer weist Gänge von Borken- und Kiefernprachtkäfern auf. Der Klimawandel begünstigt ihre Vermehrung. Hier erzählen Larvenspuren von den menschengemachten Problemen auf der Erde, sagt Paul. Auch das ist Spurenlesen. Und vielleicht haben die Leugner des menschengemachten Klimawandels nicht nur den Glauben in die Wissenschaft verloren, die das ja ständig predigt, sondern auch die Fähigkeit alltäglicher Empirie verlernt. Letzteres teilen ja so viele Menschen. Teile auch ich. Aber ich will das ja wieder lernen. Denn das Tier mit dem größten Fußabdruck sind wir Menschen. Wir hinterlassen Spuren in Form von Schrott, Müll und Mikroplastik nicht nur im Boden, sondern auch in der Luft, im Wasser, sogar im Weltall. Spuren, die sich nicht mehr verwischen lassen.
Die Botanikerin Robin Wall Kimmerer problematisiert in ihrem in so vielfacher Hinsicht erhellenden Sachbuch Geflochtenes Süßgras, dass eine Sprache wie Englisch (und im Deutschen verhält es sich nicht anders) „nicht sehr viele Mittel bietet, um den Respekt für das Lebendige auszudrücken. Auf Englisch“, wie auch im Deutschen, „ist man entweder Mensch oder Ding.“ Unsere Sprache zwingt uns, über nicht-menschliches Leben mit „it“ oder „es“ zu sprechen. Robin Wall Kimmerer beschreibt als Anekdote, wie eine ihr bekannte Feldbiologin eine Mäusespur bemerkt und sagt: „Da ist heute Morgen schon jemand hier gewesen. (…) Jemand. Nicht etwas.“ Wall Kimmerer lehrt Botanik. Einem ihrer Studierenden leuchtet es nach ihren Ausführungen zur Beziehung von Sprache und Natur plötzlich ein. Sie zitiert den jungen Mann: „Heißt das nicht, dass das Englische, das wir sprechen und denken, uns gewissermaßen die Erlaubnis gibt, der Natur gegenüber respektlos zu sein? (..) Wäre nicht alles ganz anders, wenn nichts ein it wäre?“ Also trägt wohl auch unsere Sprache zu unserer Entfremdung von den „belebten Territorien“ bei, eine Geringschätzung nicht-menschlichen Lebens ist ihr inhärent. Wall Kimmerer plädiert für eine „Grammatik der Belebtheit“, die zur Folge haben könnte, „ganz neue Lebensformen in der Welt zu sehen, andere Arten als souveränes Volk, eine Welt mit einer Demokratie der Arten, nicht der Diktatur einer einzigen“ anzuerkennen. Es wäre ein Perspektivwechsel durch Sprache zum Ausdruck gebracht und ermöglicht. Eine Anerkennung nicht-menschlichen Lebens durch Sprache. Das Spurenlesen ist gewissermaßen eine Vorbereitung dieser sprachlichen Anerkennung, denn es lässt uns unsere Sinne schärfen und nicht menschliches Leben überhaupt erst einmal dort erkennen, wo wir es vielleicht auch gar nicht vermuten. Also erst das Erkennen durchs Spurenlesen, dann das Anerkennen durch Sprache. Das wären vielleicht wichtige Schritte für uns großspurig Verdrängende.
So, der Proviant ist gepackt, Rücksäcke geschultert, Sinne geschärft. Wir sind bereit, uns einzuwalden. Gestern war Grundlagentag. Heute ziehen wir nicht einfach los, um zu finden, was wir eben finden, sondern wir betreiben intentionales Spurenlesen. Unsere Absicht: Spuren von Wölfen entdecken. Nicht aber Wölfe aufspüren, das betonen Greg und Paul noch einmal: „Unser Ziel ist definitiv heute nicht, Wölfe zu sehen. Deswegen gehen wir ja Spurenlesen. Wir wollen sie nicht stören und scheuchen.“ Mit unserer Absicht lenken wir unsere Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Vor einer Woche haben Paul, Greg und ein paar andere mehrere Wölfe in einem großen Waldgebiet über einen ganzen Tag lang getrackt, also ihre Spuren verfolgt. Frische Spuren. In dieses Gebiet fahren wir jetzt.
Der Ruf eines Raben ist das vereinbarte Zeichen, die Gruppe auf einen spannenden Fund aufmerksam zu machen. Wir haben uns in zwei Gruppen aufgeteilt, folgen einem Waldweg vorbei an Birken, Fichten und Buchen. Es riecht nach frischer Erde. Dann zieht es uns nach links. Mir ist keine bewusste Entscheidung von Paul oder einem der Teilnehmenden aufgefallen, warum wir den Weg in diese Richtung verlassen. Wir stoßen auf eine lichte Stelle im Wald, die über eine große Fläche tief, stellenweise einen halben Meter tief, umgegraben ist. Stefan weist auf den Boden: „Hier, das ist mir ins Auge gestochen, weil hier die Afterklaue so gut zu sehen ist.“ Rückwärtsstehende Klauen, die sich den Hauptschalen von Wildschweinen anschließen. So eine große und massiv umgegrabene Wildschweinsuhle habe er selten gesehen, sagt Paul.
Unter den tiefhängenden Zweigen einer Fichte ist der Boden geplättet. Unterwolle der Wildschweine liegt auf dem Boden und hängt an den Zweigen. Paul vermutet, dass die Tiere hier erst vor ein paar Stunden gelagert haben. Ihr Geruch hängt noch in der Luft. Der Stamm einer Lärche ist glattgeschliffen. Auch hier finden wir Haare und die Stelle riecht intensiv nach Wildschwein. Unsere Gruppe untersucht all diese Fundstellen genau. „Das ist der Rausch der Lebendigkeit“, sagt Paul, „weil plötzlich wird der ganze Wald um dich herum lebendig. Und du spürst, wie das alles genutzt wird. Obwohl wir hier in einem Forstwald sind.“ Als Spurenlesende sind wir nicht mehr in einer bedeutungslosen Natur unterwegs, sondern tauchen in eine Welt voller Zeichen ein, die Geschichten von vitalen Bedürfnissen erzählen: Hier wollten Tiere fressen, ruhen, wohnen, sich paaren und säubern. Bedürfnisse befriedigen, die sie mit uns Menschen gemein haben. Ich verstehe hier an diesem Platz, was Morizot damit meint, wenn er schreibt „alles ist bevölkert, alles sendet Botschaften aus“. Noch vor wenigen Stunden war hier das reinste Getümmel. Lebhaftes Treiben zwischen Fichten und Kiefern. Jetzt sind sie verschwunden. Aber nicht spurlos. Die von ihnen hinterlassenen Spuren und Zeichen ermöglichen mir, sie sehr genau zu imaginieren, ja, fast zu sehen: schubbernde, schnuppernde, wühlende, stöbernde, ruhende Schweine.
Wir setzen unseren Weg in nördliche Richtung fort. Folgen unserem Spürsinn. Wenn der Rabe ruft, kommen wir zusammen, beschnuppern, befühlen, beäugen das Gefundene. Und er ruft oft. Es ist der reinste Krimi. Nie zuvor habe ich bei einem Waldspaziergang so viel gefunden, so viel gesehen, so viel verstanden von den „lebendigen Territorien“. Der Austausch über den Fund scheint dabei mindestens so wichtig wie der Fund selbst. Auszug aus einem Dialog, als wir auf eine Losung stoßen, die auf einen Fleischfressenden deutet: „Weißt du, was ich meine? Das Durchsichtige. Das glänzt auch so.“ „Können wir das mal auf ein Blatt schieben?“ „Hier auf den Stock drauf.“ „Krass. Aber voll haarig. Ja, da ist ganz viel Wildschweinhaar drin. Da ist eine Mistelbeere.“ „Du meinst die hier?“ „Ich wüsste jetzt gar nicht: Ist das von einer Pflanze oder von einem Insekt?“, „Da sind Samen. Da sind Kieselsteine mit drin. Es ist Sand gefressen worden. Das ist Chitin! Das glänzt ganz anders.“ „Oder es sieht auch so aus wie das, was bei den neuen Trieben von Kiefern dran ist.“ „Ja!!! Warum fressen die das?!“ Morizot bringt die Situation auf den Punkt: „(R)edselige Tiere erforschen gemeinsam das Mysterium der miteinander geteilten Welt.“
Ich ahne zu diesem Zeitpunkt keineswegs, dass in wenigen Stunden auch auf mich jener Funke überspringen wird, der die gleiche Leidenschaft für das Lesen von Spuren und Zeichen entfacht. Sandra gesellt sich zu mir, wir laufen flüsternd nebeneinander - die ganze Gruppe hat sich auf einen minimalinvasiven Waldtag verständigt. „Wenn man einmal angefangen hat, so zu gucken, dann kann man nicht mehr aufhören. Das ist für immer“, lässt sie mich wissen. Ihre Freude, in die Welt von Tierindizien einzutauchen, ist ihr bei jedem Schritt anzumerken. Die Baseline ist ihr zur Guideline fürs Leben geworden.
Gegen Mittag sind wir in einem lichten Kiefernwald unterwegs. Wir haben uns in den letzten Stunden trotz zahlreicher Verlockungen durch Dachs- und Fuchsspuren nur hin und wieder gebannt auf die Knie begeben und uns stattdessen auf unsere Absicht des intentionalen Spurenlesens besonnen. Aber dann findet Wendelin etwas, das uns die „Mission Wolfsspur“ doch noch einmal für ein paar Augenblicke vergessen lässt. Auf dem Waldboden liegt ein langgezogenes Gebilde. Gewölle oder Losung? Dann entdecken wir ein rotes Haar auf dem „mega Fund“. O-Ton Paul. Und schließlich in dem Gebilde einen blauen Plastikring. Stöckchen und Stengel dienen uns als Werkzeuge. Wir entziffern PL21 und eine siebenstellige Nummer. Vermutlich ein Taubenring aus Polen hier mitten in einem brandenburgischen Wald, geborgen aus einem Gewölle oder einer Losung. Wir sind diesbezüglich unentschieden. Aber je nach Deutung ist die Geschichte, die dieser Fund erzählt, eine andere: die polnische Brieftaube, die von einem anderen Vogel gefressen und später wieder ausgespien wurde. Irgendwann kam ein rotbehaartes Tier - Fuchs oder Eichhörnchen - vorbei und hinterließ sein Haar auf dem Gebilde. Oder aber: die vom langen Flug ermattete Brieftaube, die dem Fuchs zum Opfer fiel. Oder hat etwa das Eichhörnchen…?! Bevor unsere Fantasie noch skurrilere Blüten treibt, setzen sich die Tracker wieder in Bewegung. Nur Wendelin kann sich noch nicht losreißen von diesem möglichen Tatort. Er findet noch Federn und Samen. Ich stehe interessiert daneben, lasse den Blick schweifen und plötzlich sehe ich ihn: einen zweiten Ring. Dieser allerdings ist rosa. Eine Telefonnummer mit polnischer Vorwahl darauf.
Monate später rufe ich mithilfe einer polnisch-sprechenden Bekannten diese Nummer an. Es meldet sich ein Brieftaubenzüchter aus Breslau. Nein, die Nummer auf dem blauen Ring könne er keiner seiner ehemaligen Brieftauben zuordnen. Diese müsse jemand anderem gehört haben. Ich teile ihm anhand der Koordinaten den genauen Fundort mit und frage, ob seine Taube mit dem rosa Ring denn so weit gekommen sein könnte. Das sei kein Problem, meint er. 1.000 Kilometer Reichweite seien üblich. Seine Taube habe an einem Brieftaubenrennen teilgenommen, war eventuell auf dem Rückflug von Holland nach Breslau. Wie er sich denn erklären könnte, dass wir im Abstand von nur wenigen Metern die Ringe gleich zweier polnischer Tauben gefunden haben, frage ich ihn. Beide Brieftauben hätten wohl eine ähnliche Route nach Hause genommen, meint er. Und er vermutet in einem Baum über der Fundstelle ein Habicht- oder Falkennest. Nach oben geschaut haben wir nicht. Wir waren wohl zu sehr auf die Spurensuche am Boden fixiert und zu sehr in Eile, um noch vor Einbruch der Dämmerung unser eigentlich intentionales Spurenlesen mit einem Fund abzuschließen. Die Informationen des Taubenzüchters lassen vermuten, dass das Gebilde, in dem sich der blaue Ring befand, ein Gewölle war. Wie das rote Haar darauf kam, bleibt ein Geheimnis. Ein Greifvogel also, der Geschmack an polnischen Brieftauben gefunden hat …?
So kann es gewesen sein. Oder anders. Morizot schreibt: „Das Spurensuchen ist keine exakte Wissenschaft, es ist eine Mischung aus Wissenschaft und Aktivität - jede Hypothese lenkt den Schritt und den Blick in eine andere Richtung, sie verschärft nicht den Wunsch, Schlüsse zu ziehen, sondern das Begehren, weiterzusuchen.“
Genau das beobachte ich seit jenem Moment in dem Kiefernwald bei mir. Beim Joggen und der Pilzsuche, wenn ich seitdem im Wald unterwegs bin, suche ich immer nach Zeichen anderer Lebewesen, bin mit einer anderen Aufmerksamkeit für die Existenzen um mich herum unterwegs. Mit einer Neugier, ihre Lebensformen zu ergründen, die Motive ihres Handelns und Wandelns zu verstehen. Jede Spur lässt mich stoppen. Bringt mich zum Innehalten. Fürs Joggen nicht so optimal, für das „In‑der-Welt-Sein“ ist es für mich aber wesentlich geworden. Ein Moment zum Schauen und Staunen. Ich habe eine neue Faszination darüber, dass jemand - nicht etwas - hier gewesen ist. Man könnte es eine neue Form der Ökosensibilität nennen.
Die Sonne steht schon tief an diesem Februartag als wir zu einem großen, ringsum von Bäumen gesäumten Acker kommen. Das Substrat ist extrem matschig, vereinzelt liegen noch Schneereste. Wir sinken bis an die Knöchel ein, der lehmige Matsch haftet schwer an unseren Sohlen. In kleinen Gruppen machen wir uns auf die Suche. Es dauert gar nicht lange und der Rabe ruft. Regina hat das Trittsiegel eines großen Hundeartigen gefunden. Die Spur lässt sich gut verfolgen. Sie führt diagonal übers Feld. Wir markieren die einzelnen Trittsiegel mit Stöcken. Die Anordnung der Ballen und Zehen, der Negativraum, also der Raum dazwischen: Alle Merkmale sind so eindeutig, dass sich alle sicher sind. Hier ist ein Wolf gelaufen.
Es macht etwas mit mir, zu wissen, dass genau hier ein Wolf im sogenannten „geschnürten Trab“ - das ergibt die Spurenanalyse - entlanglief. Wo kam er her, wo wollte er hin? War er allein unterwegs? Kommt er öfter hier vorbei? Antworten auf diese Fragen finden wir nicht. Nur, die Frage nach dem Zeitpunkt lässt sich nach einer mindestens einstündigen minutiösen Analyse durch die Fährtenlesenden - auch Greg und seine Gruppe sind wieder zu uns gestoßen - relativ genau bestimmen. Auf einem weiteren Pfotenabdruck liegt noch etwas Schnee. Der Wolf muss also kurz vor dem letzten Schnee, der vor zehn Tagen fiel, hier gewesen sein. Er oder sie war hier, hat sich hier durch Spuren manifestiert. Diese Manifestation fasziniert mich. Es ist ein Beleg seiner Existenz, ein naives Erstaunen angesichts dieses „Es gibt ihn also wirklich“, dieses Tier, dem eine gewisse Mystik anhaftet und das starken Polemiken ausgesetzt ist und auch polarisiert. Aber um die Polemik soll es jetzt nicht gehen, nicht um seine Ausbreitung, die Frage, ob er bejagbar sein soll oder wie viele Nutztiere er reißt. Das wären Botschaften aus der Welt der öffentlichen Debatten. Diese Spur hier ist eine Botschaft aus dem Boden. Paul hat Recht gehabt: Es ist eine Art der Begegnung. Wir sind dem Wolf begegnet.
„Jede Fährte bezeugt eine Anwesenheit, sie belegt, dass da jemand war‘. Nun geht es darum, diesen Jemand kennenzulernen, wobei wir ihm nicht notwendigerweise begegnen brauchen“, schreibt Morizot. „Einem Tier vermittelt durch die von ihm hinterlassenen Spuren zu begegnen, heißt also letztlich, dessen Gewohnheiten zu katalogisieren. Dank diesem Wissen verstehen wir nach und nach seine Art zu leben, seine Art zu sein, seine Art zu denken, seine Art zu wünschen, seine Art zu fühlen.“
Man kann das Spurenlesen als eine weitere beliebige Freizeitaktivität für naturhungrige Stadtbewohnende sehen oder aber als existenzielle Notwendigkeit, um wieder mehr darüber zu erfahren, mit wem wir unsere Welt teilen.
Eine Annäherung an das unsichtbare Leben.










