Heiteres Mäandern
Über Vorzüge des geschwungenen Lebens

Das Lineare ist die Signatur der Moderne: Von der Vermessung der Welt bis zu linearen Wachstumsmodellen. Aber hat lineares Denken nicht eigentlich ausgedient? Gilt es, ein Lob Mäanders anzustimmen als Modell für Natur, Gespräch und Politik?

Von Volker Demuth |
Schlittschuhkufen schneiden Kurven und Spiralen in einen zugefrorenen See.
Geschwungene Linien eröffnen neue Perspektiven/Im Bogen liegt die Freiheit des Blicks (Getty Images / Tom Werner)
Seit Renaissance und Aufklärung dominiert die Gerade – in Stadtgrundrissen, Karrieren, Fortschrittsnarrativen. Das ganze moderne Leben folgt einer linearen Logik: Effizienz, Fortschritt und Zielstrebigkeit prägen Denken, Stadtplanung und Biografien. Diese Orientierung an der Geraden hat eine rationale, aber auch zerstörerische Ordnung hervorgebracht. 
Und heute zeigen sich mehr denn je die Schäden der Linearität. Nicht nur begradigte Flüsse werden „renaturiert“. Brauchen wir – um die Gegenwart zu meistern und die Zukunft zu gewinnen – nicht die Wiederentdeckung der geschwungenen Linie? Und damit ein mäanderndes Denken, das für Relationen, Offenheit und Wandel steht, das eine Poetik der Umwege pflegt anstelle von Argumenten, die alles über den gleichen rationalen Leisten schlagen?
In Natur, Kommunikation und Gesellschaft zeigt sich, dass Lebendigkeit aus Berührung und Abweichung entsteht. Gegen die starre Linearität gilt es, eine entspannte, ökologisch sensible Kultur zu entfalten.
Volker Demuth, geboren 1961, ist Lyriker, Schriftsteller und Essayist. Er studierte in Tübingen und Oxford Philosophie, Literaturwissenschaft und Geschichte. Er war Dozent für Medientheorie und Professor für Mediengeschichte und Medientheorie an der Fachhochschule Schwäbisch Hall. Seine Spezialgebiete sind die Theorie der Narrativität sowie die Körper- und Technikgeschichte. Außerdem hat er Hörspiele und Features geschrieben. Zuletzt erschienen: Fossiles Futur. Gedichte (2021); Niederungen und Erhebungen (2019); Der nächste Mensch (2018).

Was zeichnet modernes Leben aus? Welche Eigenarten und geschichtlichen Stimmungen prägen es? Intensiv sind die Anstrengungen von Philosophie und Soziologie gewesen, auf diese Fragen nach dem Selbstverständnis unserer Epoche Antworten zu finden. Dabei wurde Lebensform zu einem grundlegenden Begriff, wenn es darum geht, den Charakter moderner Gesellschaften zu begreifen. Seit Ludwig Wittgenstein Lebensformen einen zentralen Platz in seiner Philosophie einräumte, wird damit die Gesamtheit der sozialen Praktiken und Verhaltensweisen gemeint. Lebensformen bilden die Grundlage dafür, unsere gemeinsam geteilte Welt zu verstehen, zu gestalten und menschlich zu machen. Denn sie stellen eine vorgefundene, anerkannte Ordnung bereit. Lebensformen lassen unsere individuellen Verhaltensweisen und Bedürfnisse als sinnvoll und vernünftig erscheinen. Man kann sagen, sie bringen unser Leben buchstäblich in Form. Sie informieren es und geben ihm so seine Ausrichtung.
Ich denke, es ist also nicht falsch, Lebensformen als eine Art kultureller Grammatik zu lesen, aus der überhaupt erst ein sinnhaltiges und für andere verständliches Leben entstehen kann. Seit der Renaissance wurde diese kulturelle Grammatik in der westlichen Welt durch Linearität tief geprägt. Die lineare Lebensform zeichnet sich durch charakteristische Merkmale aus, indem sie zunächst den Raum erfasst. Die Neuzeit nämlich ist allgemein dadurch gekennzeichnet, dass ein lineares Gerüst die Realität mit einer berechenbaren Ordnung ausrüstet, die vom Privatraum bis zur idealen Stadt reicht.
Schauen wir uns nur einmal um, wo wir gerade stehen. Die gerade Linie ist jene durchschlagende Idee, jene ideale Konstruktion, von der die gelebten Räume der inneren und äußeren Architektur nicht weniger bestimmt werden, wie sie den von Ingenieurszeichnungen entworfenen Staatsraum aus Autobahnen, Kanälen, Eisenbahnlinien, Leitungen oder begradigten Flüssen zurichtet. Diese leicht begreifbare Übersichtlichkeit findet ihre Spiegelung in den zahllosen Stadtplanungen und Landschaftsbereinigungen der Moderne, die sämtlich rationalistische Überschreibungen des Raums sind. Le Corbusier brachte es zukunftsweisend auf den Punkt: „Eine moderne City lebt praktisch von der Geraden. (…) Die Gerade gehört zur ganzen Menschheitsgeschichte, zur menschlichen Zielstrebigkeit, zum menschlichen Handeln.“
Bei einem der wirkmächtigsten Architekturvisionäre des 20. Jahrhunderts deutet sich an, was bis in unsere Gegenwart als lineare Lebensform Bestand hat. Nicht allein der Raum, auch die Zeit wird der Linie unterworfen. Der Aufklärung war es vorbehalten, einen dafür folgenreichen Epochenbegriff zu prägen: Fortschritt. Von Pascals continuel progrès bis zu Marx´ Vorstellung eines „Fortschritts der Geschichte“, der noch die heutigen Parteien inspiriert, zieht die gesellschaftliche Entwicklung eine Linie in die Zukunft, die vom Schlechteren zum immer Besseren verläuft, erfahrbar in wachsendem konsumbasiertem Wohlstand und zunehmend längerer Lebensdauer.
In der Folge erscheint jener Laserstrahl, den die Gegenwart in fantastischen Vorgriffen, ausgestattet mit mehr oder weniger ausgefeilten sozialutopischen oder wissenschaftlich-technischen Plänen, geradewegs in die Zukunft wirft, als Inbegriff historischer Vernunft. Von Visionen erregt, richtet sich die geschichtliche Optik der westlichen Welt nach vorn, ohne sich der Illusion bewusst zu sein, auf der sie beruht. Dieser famose Umgang mit Zeit, worin die Geometrie der linearen Sequenz sich spiegelt, erweist seine Formkraft noch aktuell auf so banale Weise wie der ‚Timeline‘, dem millionenfachen Lebenszeitschema des digitalen Facebook-Subjekts.
Das Ideal gelungenen Lebens beinhaltet, dass es möglichst geradlinig verläuft, getragen von einem unbeirrbaren, zielstrebigen Subjekt, das gerade heraus redet, sich nicht biegt und krümmt und standhaft auch nicht vom einmal eingeschlagenen Kurs abweicht. Das gilt insbesondere im Blick auf die berufliche Lebenslinie einer Karriere. Neben moralischen Richtlinien wird von politischer und unternehmerischer Führung erwartet, eine Generallinie vorzugeben, wobei Linientreue honoriert wird. Im Schema dieser Lebensform gilt als charakterfest, wer jene Merkmale des unumwundenen Vorwärtsstrebens erfüllt.
Der Schluss scheint mir daher nahezuliegen: Die Grammatik der modernen westlichen Weltkultur zeigt sich inspiriert von dem übermächtigen Bedürfnis, das in verschlungenen Bewegungen sich befindende Leben mit seiner verwirrenden Natur zu entwirren. Alles scheint nach einer Klarheit zu verlangen, die den Raum mit produktiven Landschaften und steuerbaren Städten überzieht und die Zeit in stringente Planungsabläufe von Nutzung, Ertrag und Tempo hineinzieht, fußend auf dem Glauben an Geradlinigkeit, unumwundene Zielstrebigkeit und linearen Fortschritt. Ein wesentliches Geheimnis des Triumphs der Moderne liegt in dem Umstand begründet, dass es linearer Logik gelingt, eine durchgängige progressive Berechenbarkeit zu etablieren, getragen von Begriffen der Effizienz, Steigerung und Funktionalität, die letztlich darauf abzielen, aus Natur und Zivilisation alles herauszuholen, was geht, ob Landschaft oder Metropole, Humankapital oder Nutztier.
Schien Linearität daher lange ein Vernunftprinzip zu sein, mit dem die Realität zunehmend rationaler und produktiver organisiert werden konnte, so zeigen sich uns die irrationalen, zerstörerischen Folgen dieser Lebensform jetzt immer offener. Inzwischen ist es kaum noch zu bestreiten, dass die damit eng verknüpfte Lebens-, Wirtschafts- und Geschichtsauffassung mit ihrem unumwundenen Steigerungsimperativ geradewegs auf eine Situation zuläuft, deren zivilisationsgeschichtliche Zerstörungskraft bisher unbekannte globale Ausmaße annimmt.
Zukunft und die schöne gerade Straße dorthin haben ihren einstigen Glanz und ihre Plausibilität unübersehbar eingebüßt. Es könnte sogar geschehen, dass die Verluste dieser Lineardynamik die zwischenzeitlichen Gewinne, deren Profiteure wir für eine kurze historische Zeitspanne sind, in nicht ferner Zukunft deutlich überwiegen werden. Allerdings gibt es einen in die Moderne eingebauten Mechanismus, der verhindert, dass Gesellschaften dieses Dilemma wirklich wahrnehmen und darauf angemessen reagieren.
Der Soziologe Andreas Reckwitz nennt dies die „Verlustinvisibilisierung“ und meint damit, dass die Lebensform der „Fortschrittsgesellschaft“ destruktive und verlustreiche Wirkungen strukturell ausblendet, weil sie sonst „wie ein Sprengsatz“ wirken würden.
Die eingetretene Krise des linearen Geschichtsbilds, dem – wie Ulrich Beck einmal sagte – „die Zukunft entglitten ist“, gibt uns also gute Gründe an die Hand, nach anderen dynamischen Figuren der Vernunft zu suchen.
Es hat eine lange, bis in die griechische Antike zurückreichende Tradition, der Geraden die gekrümmte Linie gegenüberzustellen, dem schmiegsamen Opportunismus die geradlinige Unbeirrbarkeit. Kulturgeschichtlich spiegelt sich dieser Antagonismus im Bild der Schlange. Nicht bloß Martin Luther und Thomas Müntzer, auch John Milton brandmarken die Schlange als gefährlich, als heimtückisch und toxisch, da sie, wie es in der Johannes-Offenbarung heißt, „den ganzen Erdkreis verführt“.
Tatsächlich hält die Moralistik unbeirrbar an einer mäanderfeindlichen Rhetorik fest, wenn sie vor „krummen Touren“ warnt oder davor, sich zu verbiegen. Politisch sind Wendemanöver oder ein Schlingerkurs verpönt. Um die Möglichkeit zu eröffnen, diesen in tiefer Abneigung verfestigten Gegensatz von Gerade und Schlangenlinie durch eine neue Perspektive aufzulösen und womöglich zu überwinden, bedurfte es des coolen Blicks der Naturwissenschaft.
Wo die Analytik der Linie der Mathematik vorbehalten war, gilt beim Mäander dasselbe für die Physik. Beträchtlich komplizierter, dauerte es 2.000 Jahre länger bis zu seiner formalen wissenschaftlichen Beschreibung. Der namensgebende Fluss Mäander, berühmt schon in der Antike für seine 1.000 Windungen, mündet nach 380 Kilometern durch das westliche Kleinasien in die Ägäis. Gleichzeitig ist er ein Sinnbild, denn alle Flüsse der Welt mäandern. Sie schlängeln sich durch Landschaften, denen sie durch Jahrhunderte ihr Gepräge geben und deren Fruchtbarkeit von ihnen abhängt.
Am 7. Januar 1926 hält Albert Einstein, den noch immer die vertrackte Weiterentwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie umtreibt, in Berlin an der Preußischen Akademie der Wissenschaften einen Vortrag. Dessen Thema dürfte die meisten Anwesenden, ob sie nun neun Jahre zuvor Einsteins Vortrag „Kosmologische Betrachtungen zur Allgemeinen Relativitätstheorie“ hatten an gleicher Stelle beiwohnen können oder nicht, einigermaßen verblüfft haben. Das von Einstein gewählte Thema lautet: „Über die Ursache des Mäander-Phänomens bei Flussläufen“.
Was genau passiert beim Mäander? Zuerst müssen wir uns, darin Einstein folgend, vor Augen halten, dass auch in den gleichmäßigsten Flussströmungen gelegentliche Störungen nicht ausbleiben. Mit Sicherheit aber ereignen sie sich an Stellen, wo die Strömung mit ihrer Umgebung in Berührung kommt. Also am Flussgrund oder Ufer. Geschieht dies, verschiebt sich, kurz gesagt, die Balance zweier Kräfte, der nach außen gerichteten Zentrifugalkraft und jener ihr entgegen nach innen gerichteten Druckgradientkraft.
Dadurch beginnt die Flüssigkeit, eine Kapriole auszuführen. Zwar strömt sie wie bisher weiter vorwärts, gleichzeitig beginnt sie jedoch, quer zu dieser Strömungsrichtung zu fließen, von außen nach innen. Der Fluss springt gewissermaßen durch seine von ihm selbst aufgebauten, quer zu seiner Fließrichtung verlaufenden Strömungsringe, die in der Folge dafür sorgen, dass Sand und Steine an jeder Biegung zu deren Innenseite, dem Gleithang, transportiert werden. Ein physikalischer Zirkus, der Mäanderkurven erzeugt.
So stichhaltig Einsteins Erklärung war, so war er doch keineswegs der erste, den dieses lange geheimnisvolle Phänomen umtrieb. In Wahrheit hatte das Mäandern die klassische Physik bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts intensiv zu beschäftigen begonnen. Ob Paris, St. Petersburg, London oder Wien, kaum eine europäische Wissenschaftsakademie versäumte es, eine Forschungsdebatte darüber zu führen.
Und es dauerte dann nicht lange, bis man erkannte, derselbe Wirkungszusammenhang konnte auch bei anderen Fluiddynamiken, etwa bei atmosphärischen Bewegungen von Luftströmungen, beobachtet werden. Je mehr indes das wissenschaftliche Verständnis darüber anwuchs, desto komplexer stellten sich tatsächlich die realen Umstände dar, welche jede physikalische Berechnung an den Rand ihrer Möglichkeiten brachte. Bis heute bleiben nicht berechenbare Turbulenzen beim „Mäander-Phänomen“, mithin Fragen des physikalischen Chaos, ein wissenschaftlich nichttriviales Problem.
Und doch: Seit den ersten fluiddynamischen Erklärungen gekrümmter Strömungen hat die Forschungsarbeit der Physik eine Einsicht bestätigt, dass dort, wo es innerhalb von Strömungen zur Touchierung kommt, indem das reibungslose Fließen etwas Widerständiges, etwas von verschiedener Substanz und Dichte berührt, an die Stelle einer Welt des schnurgeraden Fortlaufs eine Vielzahl von Krümmungen, Kehren, Turbulenzen und Querzirkulationen tritt. Dabei entstehen dynamische, selbsterzeugende und komplexe Gebilde, deren Resultat im Mäander sichtbar wird. Denn die Ausbildung und Fortentwicklung von Fließsystemen, wie es fast alle Prozesse des Lebens und der Natur sind, läuft irgendwie und immerzu auf krumme Geschichten hinaus.
Nicht verwunderlich also, wenn der schlangenverteufelnde Luther etwas resignierend fragt: „Wer weisz warumb unser sachen so krumm gehen?“ Die ihm noch verborgen gebliebene Antwort lautet: Immer dann, wenn ein fließendes System von seiner Umwelt berührt und dadurch irritiert wird, ein Fluss vom felsigen Ufer oder ein Wirtschaftsunternehmen von einem veränderten politischen Umfeld, wird sein bisheriger Flow abgelenkt und in eine andere Richtung gebogen. Ein in gewohnten Bahnen strömendes Leben bekommt bei einer neu eintretenden Berührung durch eine andere Person, eine Vorgesetzte oder einen Geliebten, mit einem Mal eine unerwartete Wendung.
Das allgemeine Prinzip dahinter möchte ich als dialogische Plastik bezeichnen. Der Fluss entsteht am Ufer und das Ufer am Fluss. Landschaft entsteht durch Menschen und der Mensch durch die Landschaft. Das Kind entsteht an der Mutter und die Mutter am Kind. Jeder dialogischen Plastik prägt sich die Form des Mäanders ein. Und jedes mäandernde Geschehen ist unaufhebbar gekennzeichnet von Relationalität und einem gegenseitigen Kräftespiel.
Offene Austauschbeziehungen wie zwischen Flüssen und Ufern sind besonders wirksam bei lebenden, miteinander kommunizierenden Systemen. Die Berührungsform der Kommunikation durch die Lebensform der Sprache gibt ihren offenen Charakter in jedem unserer Gespräche zu erkennen. Franz Rosenzweig macht genau darauf aufmerksam, wenn er sagt, das Gespräch „weiß nicht im voraus, wo es herauskommen wird; es lässt sich seine Stichworte vom andern geben.“ Was heißt: Mein Satz formt sich am Satz des Gegenübers. Als Antwort, Rechtfertigung, ironische Replik oder als kleine Anekdote.
Erfahrungsgemäß verläuft das Sprachspiel des wechselseitigen Redeflusses selten reibungslos. In jedem Moment kann es irgendwo Anstoß und eine andere Richtung nehmen. Gespräche schlingern, schwingen, mäandern, was einen linearen Ablauf ausschließt, außer die Kommunikation wird einem Höchstmaß von Kontrolle und Standardisierung unterworfen, wie es zum Beispiel bei hierarchischen Anweisungen oder reiner Informationsweitergabe der Fall ist.
Nicht überraschend also, wenn innerhalb der Bewegung eines freien, ebenbürtigen Austauschs der Gesprächs- und Interaktionsfluss, wie alle Flüsse, mäandert. Mit der Präzision, die Begriffen oft eigen ist, nennen wir diese Fließbewegung der Wechselrede Konversation, im Wortsinn: sich gemeinsam hin und her wenden, wie ein Fluss im Raum sozialer Realität.
Im Prozess des Redens erst entstehen Gespräche. Wie andere dynamisch wechselseitige Lebensformen sind sie nicht vorgefasst. Sie lassen sich weder durchführen noch planen wie technische Abläufe. Wo das geschieht, erstirbt jedes wahre Gespräch und damit auch seine innere Kraft der unverhofften Wendung und neuen Aussicht. Die Wirklichkeit verborgener Richtungen öffnet erst unsere Relationalität, unsere Berührungen mit anderen der geschwungenen Bewegung, dem Abschweifen und geistigen Flanieren. Was von einer inneren Leichtigkeit und der Heiterkeit begünstigt wird, neugierig und nicht festgelegt zu sein.
Die Einübung in lineare Logiken darf uns nicht daran hindern wahrzunehmen, dass vieles davon, was die kleinen Schauspiele der Kommunikation strukturiert, sich in den großen Geschichten des Lebens wiederfindet. Ob Romane oder biographische Erzählungen, alle teilen sie ein langes Wissen davon, dass die Geschichten darin voller Wendungen, Umwege und Ablenkungen sind. Was in der Musik Divertimento heißt, ist in der Lebenspraxis die Einsicht, jederzeit abweichen, die Dinge in eine andere Richtung lenken und einfach abbiegen zu können, wenn unsere Umgebungsberührung uns dazu anhält. Selbst wenn man straight und mit zielorientiertem Vorwärtsstreben vorgeht, auch wenn die Karriere geradewegs verfolgt wird, erreicht man doch nie diese Ideallinie der modernen Biografie.
Schaut man genauer hin, handelt es sich tatsächlich ausnahmslos um Geschichten von Staunen hervorrufenden Wendungen, von plötzlicher Umkehr, menschlicher Katastrophe, politischer Revolte, religiöser Konversion oder beruflicher Neuorientierung. Und plötzlich wird der erfolgreiche Investmentbanker Schäfer in der Provence. Hinter diesem biografischen Mäander steht die Einsicht in die Wichtigkeit von Handlungsspielräumen, von selbstbestimmtem Richtungswechsel und vitaler Abweichung, die sich weniger starren Prinzipien unterwirft, als dass sie auf unsere unbeherrschbare Eigendynamik pocht.
Nicht weniger interessant ist hier der Blick auf die Gesellschaft. Politische Beobachter wie Ulrich Beck stellen schon länger eine „Verflüssigung der Politik zum politischen Prozeß“ fest. Und in der „liquid modernity“, von der Zygmunt Bauman spricht, werden die sozialen Strömungen durchschlagend. Je durchdringender nämlich liberale, selbstorganisierte Lebensstile in der Gesellschaft werden, umso nichtlinearer, schlingernder verlaufen ihre inneren Prozesse.
Das Paradox dabei: Obwohl genau das von der Gesellschaft gewollt ist, wird es zugleich von ihr beklagt. Und obgleich man die kluge Heiterkeit mäandernder Systeme begrüßen müsste, wird der Politik oft vorgeworfen, sie mute wie eine Fahrt in der Achterbahn an.
Man kann nicht genug betonen: Je demokratischer eine Gesellschaft, desto schlingenreicher ihr selbsterzeugtes Mäandern. Denn die sozialen und politischen Strömungen treffen überall auf Widerstände, die sich nicht einfach autoritär durchhauen lassen, sondern im plastischen Dialog umständlich umgangen oder überwunden werden müssen. Wo in der Moderne alles in Fluss gerät, ob hergebrachte Glaubensgewissheiten, soziale Rollenbilder oder homogene, stationäre Gesellschaften, werden darum die Bewegungen des Mäanderns geschichtlich ausschlaggebend. Die Gesellschaft lädt sich laufend mit Schwingungsenergie auf, auch wenn im Mäandern etwas Ineffizientes, Verschwenderisches und Umständliches zu liegen scheint.
Daneben wirkt ein zweiter Faktor: historische Ereignisse. Denn wirkliche Ereignisse sind Krümmungsphänomene. Ereignisse, ob Kriege, Börsencrashs oder die Wahl eines amerikanischen Präsidenten, wirken als Stein des Anstoßes, wonach die politisch-gesellschaftlichen Strömungen eine andere Wendung nehmen. Solange Geschichte auch eine Ereignisgeschichte ist, bleibt die Hoffnung auf ihre rationale lineare Zurichtung eine Illusion. Geschichte mäandert und bisweilen scheint sie, wie bei Flussschlingen, geradezu in die Gegenrichtung, Richtung Vergangenheit, zurückzulaufen. Augustinus nannte die Momente der geschichtlichen Kehre oder Gegenläufigkeit ‚epistrophe‘, Zeitenwende.
Entgegen linearer Ideologien gilt es heute anzuerkennen, dass sich in den Schlangenlinien vielfältige Gegenseitigkeit und Beeinflussung von Ufer und Fluss, System und Umwelt, Individuum und Gesellschaft manifestieren. Gemeinsam bilden sie eine dialogische Plastik. Wo es also um fortdauernde Korrelation, nicht um Machtverhältnisse geht, werden Fluss und Ufer im Mäander zu einer ineinander enthaltenen Beziehung.
Dazu gehört, der Mäander lässt sich ablenken, er macht Umwege. Insofern ist er auch umständlich. Doch Umständlichkeit ergibt sich, wenn es ein Gemeinsames gibt, das es erschwert, sich über das Andere, ob Ding oder Lebewesen, schlechterdings – und womöglich mit autoritärer Macht – hinwegzusetzen.
Man mag sich eine Welt kristalliner Klarheit und Linearität noch so sehr wünschen, das verhindert nicht, dass die Realität unseres Lebens mit seinen umweltsensiblen, irritationsanfälligen: kurz: mit seinen offenen Austauschbeziehungen ausnahmslos zu mäandernden, oftmals verschlungenen Verläufen führt, ob in der Natur, bei zwischenmenschlichen Beziehungen oder gesellschaftlichen Entwicklungen. Das Wechselverhältnis verändert die eine Seite und die andere, Fluss und Ufer, mich und dich.
Dann ist es aber unsinnig, den Fluss auf seine Flussidentität festzulegen und das Ufer auf seine Uferidentität. In ihrer Lebensform impliziert das Kind die Mutter und die Mutter das Kind. Ihre Gestalt entsteht und verändert sich stetig am jeweils anderen. Dieses Gesetz gilt in allen offenen sozialen Beziehungen und es lässt die Identitätsdebatten der vergangenen Jahre in vielem als schwingungsfeindliche, hegemoniale Verhärtungen erkennen.
Diese grundlegenden Einsichten werfen ein erhellendes Licht nun aber auch auf etwas für die Moderne Zentrales: auf unsere Vorstellung von Freiheit im Sinn von Handlungssouveränität. Souveränität heißt fürs relationale Strömen: Nicht unumschränkt sein, sich nicht über anderes und andere hinwegsetzen zu können. Es meint vielmehr, sich im Zusammenspiel von Kontakt und Interaktion mit der Umgebung zu verhalten.
Demzufolge ergibt sich Souveränität gerade nicht, wie die orthodoxe Moraltheorie das lange weismachen wollte, aus der freien, unabhängigen Entscheidung des Einzelnen. Tatsächlich entsteht Souveränität im Wechselverhältnis unterschiedlicher Seiten, im Kräftespiel innerhalb eines Feldes. Das moralisch Skandalöse des Mäanders, das Schlangen-Böse eines gewundenen Lebens liegt für moderne Subjekte in dem Sachverhalt, dass unsere Beziehungshaftigkeit die Freiheit oder Eigenwilligkeit auf unterschiedliche Punkte im sozialen Feld aufteilt. Souveränität stellt sich hier als Ertrag einer gemeinsam geteilten Situation her. Die Mäanderethik widerspricht der Idiotie des Individualismus.
Keiner lebt für sich allein. Jedes einzelne Wunder des Lebens wird von der vitalen Wechselseitigkeit und der dialogischen Plastik des multilateralen Zusammenwirkens getragen. Alles Handeln ist angewiesen auf Koaktivität, alles Bewohnen der Erde auf Kohabitation, jeder Zukunftstraum auf Kollaboration. Natural-soziale Gebilde sind Mäander, freie Bewegungstänze im Zusammenspiel vitaler Akteure und vielfältiger Einflüsse. Und wenn es richtig ist zu sagen, Freiheit sei die Freiheit des anderen, dann nicht, weil damit der eine vom anderen in seinen egozentrischen Ansprüchen abgegrenzt wird, sondern weil es in einem tieferen Verständnis der Aufruf zu einem koordinierten Handeln ist, in dessen Vollzug alle Seiten auf eine Weise zur Freiheit gelangen, die niemand für sich allein hätte jemals erreichen können.
In diesem genauen Sinn stellt uns der Mäander das planetarische Modell einer vielseitigen, dialogischen Plastik zur Verfügung und animiert damit zu einer so folgenreichen wie ungewöhnlichen Idee von Freiheit. Souveränität ist die Souveränität innerhalb von Beziehungsgefügen, die menschliche wie nichtmenschliche Wesen gleichermaßen einbezieht. Dialogische Souveränität geht aus einem schwingenden Prozess interagierender Lebewesen hervor, die sich auf diesem Weg in die Freiheit versetzen, ihr Leben mit höherer Intensität, Wirkungskraft und Zufriedenheit zu führen, ohne andere Lebensformen zu dominieren, zu beschädigen oder zu vernichten.
Angesichts eines krisenhaften planetarischen Lebens scheint es geboten, die drängende, gehetzte, zielstrebige Zeit durch eine epische Zeit zu ersetzen, deren Wissen nicht in Daten, Formeln und Anwendungen, sondern in einer abweichenden, „krummen“ Weisheit und dem „Geheimnis des weitesten Wegs“ besteht.
„Das Geheimnis des weitesten Wegs“ – ich denke, damit hat Elias Canetti die schönste Wendung gefunden, durch die der mäandernde Essayismus unseres Lebens beschrieben wird. Sie öffnet den Blick auf ein Versuchsfeld, auf dem die angespannte, effiziente Lebensökonomie mit ihrem Kalkül „rettungslos gerader Formen“, wie Canetti schreibt, in ein Konvertierungsprogramm überführt werden kann, das die vorherrschende gesellschaftliche Grammatik von Grund auf verändert.