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Intuition, Fakten-Logik oder Rat der Weisen?
Warum Entscheidungen so schwerfallen

Alle paar Sekunden trifft der Mensch eine Entscheidung – aus dem Bauch heraus oder nach reiflicher Überlegung. Aber weiß er eigentlich, was er da andauernd tut? Gehirnforscher, Psychologen oder Wirtschaftswissenschaftlerinnen versuchen das zu ergründen - und können sich auch nicht so recht entscheiden.

Von Andreas Beckmann |
Füße in Turnschuhen stehen vor einer Markierung auf dem Asphalt: ein Fragezeichen und zwei Pfeile in entgegengesetzte Richtungen. (Symbolfoto)
Das Leben besteht aus vielen Entscheidungen. Wie und warum wir sie treffen, ist gar nicht so leicht zu erklären, wie es zunächst aussieht. (picture alliance / Zoonar / Axel Bueckert)
Mancher Entschluss steht sofort fest, andere Entscheidungen schiebt man ewig vor sich her. Hilft es wirklich, sich quälend lang den Kopf zu zerbrechen, oder ist der erste Impuls nicht meist der richtige? Noch komplizierter wird es bei gesellschaftlichen Fragen. Dass ältere "weise Männer" die wichtigen Entscheidungen treffen, kommt zumindest in westlichen Kulturen allmählich aus der Mode.
Dass "divers" besetzte Gremien bessere Entscheidungen treffen können, ist naheliegend - muss allerdings auch erst noch empirisch belegt werden. Und die futuristische Perspektive: Entscheidungen an sogenannte "Künstliche Intelligenz" zu delegieren, funktioniert einstweilen nur sehr rudimentär - und ist wohl ohnehin keine gute Idee.
„Alle drei Sekunden fragt das Gehirn von innen nach außen: Was gibt es eigentlich Neues in der Welt?“ Rein physiologisch betrachtet, sagt der Münchener Hirnforscher Ernst Pöppel, hat sich der Homo Sapiens kaum weiterentwickelt, auch wenn er, nach neuesten anthropologischen Erkenntnissen, mehr als 200.000 Jahre Zeit dafür hatte. „Das bedeutet jetzt für Entscheidungen: Das Gehirn trifft alle drei Sekunden eine Entscheidung, das Neue zuzulassen oder beim Alten weiterzumachen.“

Von Natur aus sei der Mensch sprunghaft in seinem Entscheidungsverhalten. Das nutzte ihm ursprünglich, als er noch in der wilden Natur, unter sich ständig wandelnden Umständen lebte und jederzeit schnell auf Gefahren reagieren musste. Aber es wurde zunehmend zum Problem, seit er in einer komplexen, von ihm selbst geformten Umwelt die Verantwortung übernehmen muss für Entscheidungen, die langfristig wirken können. Einer plötzlichen Intuition zu folgen, ist da nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss.

„Aber was machen wir? Wir sind vom Zufall verführt, geführt. Entscheidungen werden von uns persönlich durch die Umstände getroffen.“ Der Einzelne ist also durchaus verantwortlich für seine Entscheidungen, betont Ernst Pöppel, und das gleiche gelte für Gremien oder andere Gruppen, die Entscheidungen treffen. Aber weil alle in hohem Maße von der Umwelt abhängig sind, hätten Philosophen schon seit der Antike nach Wegen gesucht, Entscheidungen auf eine solide Grundlage zu stellen.

Kopf oder Bauch - welche Entscheidungen sind besser?

„Tacitus schreibt in der „Germania“, etwa 100 nach Christus: Da im Norden der Alpen, da gibt es Leute, wenn die Entscheidungen treffen wollen, dann machen sie das in zwei Situationen. Die hocken zusammen, trinken, sind also zusammen begeistert miteinander, diskutieren und am nächsten Morgen sind sie nüchtern und denken darüber noch einmal nach. Und wenn in beiden Situationen, also wenn die Emotionen dafürgesprochen haben und wenn der klare Verstand dafürgesprochen hat, dann machen wir das.“

Was aber, wenn die Situation weniger eindeutig ist? Wenn Kopf und Bauch in entgegengesetzte Richtungen tendieren? „Wir brauchen beides. Die Gegenüberstellung Kopf oder Bauch ist vielleicht ganz falsch. Sondern Kopf und Bauch ist es meistens.“ Sagt der Psychologe Gerd Gigerenzer in einem Online-Panel der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler. Auf keinen Fall solle man spontane Bauchgefühle einfach unterdrücken. Auch wenn manche Emotionen, so wie die Angst, im Volksmund in dem Ruf stünden, schlechte Ratgeber zu sein.
„Also Angst ist ja schon etwas, was wir brauchen. Ohne Angst würden wir nicht überleben. Aber das kann aber auch danebengehen. Die Entscheidungen, die man unter Angst trifft, die sind meistens sehr, sehr schnell.“

Manchmal sind es genau deshalb die richtigen, eventuell lebensrettenden Entscheidungen. Manchmal blockiert einen aber auch einfach die Angst vor der eigenen Courage. Gerd Gigerenzer: „Zum Beispiel haben viele Menschen Angst, etwas falsch zu machen, sich zu blamieren. Dann macht man defensivere Entscheidungen.
Drei Hände stecken Stimmkarten in eine Wahlurne - namentliche Abstimmung im Bundestag
Auch wenn es im Bundestag noch einen "Ältestenrat" gibt - bei den Entscheidungen sind alle Abgeordneten gleichberechtigt (dpa/Tim Brakemeier)

Traditionelle Entscheidungen: Ältere haben das letzte Wort

Defensive oder vorsichtige Entscheidungen dominieren vor allem in Kulturen, die auf Stabilität ausgerichtet sind. Dann überlässt die Gesellschaft traditioneller Weise Älteren das letzte Wort. Die wissen schließlich eher, was alles schiefgehen kann. Gerade bei elementaren Fragen wie etwa der, wer wen heiraten soll. „Deswegen gibt es Kulturen, die verlassen sich auf die Eltern. Also auf Menschen, die Erfahrung haben, und das ist vielleicht gar nicht so schlecht. Das ist bei uns nicht mehr in der Mode.“
Denn die moderne Kultur hat das Bedürfnis nach Stabilität zwar keineswegs aufgegeben. Aber mindestens ebenso wichtig sind Werte wie Freiheit und Selbstverwirklichung geworden. Das heißt nicht nur, dass alle über ihr eigenes Leben so weit wie möglich selbst bestimmen wollen. Das heißt auch, dass bei Entscheidungen, die ganze Gruppen betreffen, immer seltener Einzelpersonen oder kleine exklusive Zirkel als Autorität akzeptiert werden. Egal, ob es sich um Familienvorstände handelt oder um Vorstände von Wirtschaftsunternehmen. Entscheidungsgremien müssen sich öffnen.

„Das theoretische Argument dahinter ist: Wenn man eine Gruppe an Personen diverser gestaltet, dann kommen natürlich unterschiedliche Perspektiven und diversere Hintergründe in die Entscheidungsprozesse mit rein.“ Ob und wie das praktisch funktioniert, untersucht Virginia Sondergeld am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW in einem Projekt zu Frauen in Führungspositionen

Wie entscheiden Frauen in Führungspositionen?

„Gerade in der Arbeitswelt ist es einfach ein Fakt, dass sich die Lebensrealität, die Karrieren, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, der Einfluss der Geburt eines Kindes zwischen Geschlechtern noch stark unterscheidet. Dementsprechend, gerade in Führungsgremien, können Frauen diese unterschiedlichen Perspektiven in Entscheidungsprozesse mit einfließen lassen.“

In ihrem jährlichen Managerinnen-Barometer haben die Forscherinnen des DIW 2022 nicht nur festgestellt, dass die Zahl weiblicher Führungskräfte in Vorständen und Aufsichtsräten großer Unternehmen auf Grund gesetzlicher Vorgaben zuletzt deutlich gestiegen ist. In qualitativen Interviews haben sie zudem ermittelt, dass der höhere Frauenanteil sich sowohl auf die Entscheidungsprozesse als auch auf deren Ergebnisse auswirkt. Virginia Sondergeld:

„In diesen Interviews hat sich herausgestellt, dass sich eben die Gesprächsatmosphäre verändert hat, insgesamt ein höflicherer Umgang da ist, und aber auch Diskussionen umfassender gestaltet werden. Und was weiterhin interessant ist, dass die Frauen in den Aufsichtsräten insgesamt die Vorstände nach mehr Informationen und Hintergründen zu Entscheidungen gefragt haben. Man also auch sehen kann, dass sich vielleicht sogar die Kontrollfunktion des Aufsichtsrats, die Kontrolle des Vorstands, durch die erhöhte Geschlechterdiversität verbessert hat.“

Mehr Diversität - bessere Entscheidungen?

Empirisch ist das natürlich schwer zu messen. Zumal es gerade in der Wirtschaft nicht nur darauf ankommt, dass Entscheidungen auf einer breiten und transparenten Faktenbasis getroffen werden. Wirksamkeit erlangen sie erst dann, wenn sie von den Mitarbeiterinnen akzeptiert und umgesetzt werden. Da Belegschaften längst in vielerlei Hinsicht diverser geworden sind, wollen viele Beschäftigte nicht mehr zu elitären abgeschotteten Männerzirkeln aufblicken. Die meisten sind eher bereit, einem Entscheidungsgremium zu folgen, dass die Vielfalt des Unternehmens widerspiegelt, argumentiert Virginia Sondergeld.

Vertrauen hat schon immer eine zentrale, aber schwer zu bestimmende Rolle gespielt. In der Wirtschaft haben Vorstände lange Zeit versucht, dieses Vertrauen mit umfangreichen Zahlenwerken herzustellen, die suggerieren sollten, dass ihre Entscheidungen ökonomisch mehr oder weniger alternativlos seien. Heute nimmt ihnen das kaum noch jemand ab. Aber solche Inszenierungen hatten noch nie viel mit der Realität zu tun, weiß Gerd Gigerenzer.

„Nach meinen Erfahrungen mit Dax-notierten Formen ist nach Aussage der Entscheider selber jede zweite Entscheidung am Ende eine Bauchentscheidung. Ich betone am Ende, denn es geht ja hin und her zwischen Intuition und Daten. Das ist kein Oder. Wie geht man damit um? Typischerweise, man stellt ein Beratungsunternehmen an, das dann auf vielen Seiten Papier mit Powerpoint die schon getroffene Bauch-Entscheidung rational im Nachhinein begründet. Und dann wird das Ganze der Öffentlichkeit als eine rationale, datenbasierte Entscheidung präsentiert.“
Screenshots einer typischen "Ja-Nein"-Entscheidungshilfe-App für Smartphones
Wer will, kann auch jetzt schon die Entscheidungen der Maschine überlassen (Michael Gessat/Dlf)

Entscheiden Maschinen besser als Menschen?

In erfolgreichen Famillienbetrieben, fügt Gerd Gigerenzer hinzu, läuft das häufig anders. Man kennt sich und vertraut darauf, dass relevante Fakten und die Interessen aller berücksichtigt würden. Eine ähnliche Vertrauensbasis versuchen demokratische Gesellschaften in größeren Unternehmen, aber auch in politischen Instanzen, durch diverser besetzte Gremien aufzubauen. Doch auch wenn viele Leute mitreden, führt das nicht unbedingt zu fundierteren Entscheidungen. Manche Technikvisionäre träumen deshalb davon, komplexe Überlegungen an Maschinen zu delegieren und die Lösung vieler Probleme einer Künstlichen Intelligenz zu überlassen. Gerd Gigerenzer zweifelt aber, ob die es am Ende besser machen wird.

„Komplexe Algorithmen und Big Data helfen Ihnen in Situationen, die stabil sind. Die größten Erfolge von Algorithmen sind in Spielen wie Schach und Go. Die sind wirklich bemerkenswert, aber das ist eine Welt, die ganz klare Regeln hat und wo das Morgen so ist wie das Gestern. Hier ändert sich nie etwas. Wenn das aber auf Situationen angewendet wird, die Ungewissheit haben wie z.B. Partnersuche, oder die Vorhersage, was wird mit Kindern passieren, die in schwierigen Familien aufwachsen, oder auch die richtigen Bewerber für eine Position zu finden, dann haben komplexe Algorithmen Schwierigkeiten, und sind in der Regel nicht besser als das, was Menschen sowieso können.“

Weil Menschen fehlbar sind, werden ihnen immer wieder Irrtümer unterlaufen. Auch wenn sie oft nur schwer verstehen, wie die zustande kommen oder wie denn nun richtige Entscheidungen zu fällen wären, können sie die Verantwortung weder einem Herrscher noch einem Computer überlassen. Sie werden immer wieder selbst entscheiden müssen. Aber gerade darin besteht ja auch ihre Freiheit.