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Debatten um Identitätspolitik
Zynismus oder Sensibilität?

Identitätspolitik kämpft für mehr Teilhabe unterdrückter Minderheiten, gegen Rassisten und alte weiße Männer. Warum sie das zynisch finden, erklären Helen Pluckrose und James Lindsay in ihrem Buch. Für den Philosophen Martin Saar ist Identitätspolitik Ausdruck von mehr Sensibilität für Unrecht. Zwei Perspektiven in einer langwährenden Debatte.

Von Ingeborg Breuer | 31.03.2022
Demoteilnehmerin mit umgehangener Regenbogenfahne trägt Protestschild mit der Aufschrift: Black Trans Lives Matter
Weiße Menschen können dem Rassismus nicht entkommen, sagen die Buchautoren Helen Pluckrose und James Lindsay (imago images/Müller-Stauffenberg)
Der amerikanische Mathematiker James Lindsay stellt bei YouTube ein Projekt vor, dass er mit zwei Kollegen vor einigen Jahren durchführte. Zwei Wissenschaftler und eine Wissenschaftlerin hatten 20 Aufsätze in Fachjournalen eingereicht - mit frei erfundenen, absurden Forschungsergebnissen. Es ging um "den Penis als soziales Konstrukt", um "hündische Vergewaltigungskultur". Darum, dass Muskelaufbau nur aufgrund repressiver kultureller Normen als wertvoller definiert wird als Fettaufbau. Vier der Aufsätze wurden veröffentlicht und weitere drei zur Veröffentlichung akzeptiert.

Zunehmende Ideologisierung an den Universitäten

Mit diesem Projekt, so Lindsay, sollte „die politische Korruption der Universität entblößt“ werden. Sollte demonstriert werden, dass der letzte Unsinn behauptet werden kann, wenn es einer zur Zeit an vielen Universitäten herrschenden „postmodernen“ Ideologie entspricht. Einer Ideologie, die besage: „Nur weiße Menschen können Rassisten sein, nur Männer sind zu toxischem Verhalten fähig, es gibt kein biologisches Geschlecht, unsere Sprache ist sexistisch – ein neuer moralischer Kanon erobert westliche Universitäten und erschüttert die liberale Gesellschaft.“
Um ihre provozierenden Unterstellungen ausführlich zu belegen, veröffentlichten James Lindsay und die britische Literaturwissenschaftlerin Helen Pluckrose im Jahr 2020 das Buch „Cynical theories“. In den USA schaffte es das Buch auf die Bestenlisten. Im Februar 2022 erschien es auch auf Deutsch. Titel „Zynische Theorien. Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt - und warum das niemandem nützt.“

Der Kampf um die Identität und das postmoderne Denken

Die "bislang wohl profundeste Analyse des angewandten Postmodernismus" urteilte die FAZ. Das Buch schieße mit der Schrotflinte auf den Gegner, meint dagegen Martin Saar, Philosoph an der Uni Frankfurt, weil es sich akademisch gebe, aber polemisch sei.
Saar spricht von einem Kulturkampf, der sich um die sogenannte "Identitätspolitik“ drehe. Auf der einen Seite: Minderheiten, die die Anerkennung ihrer Identität – schwarz, schwul, lesbisch, trans – fordern. Die für Teilhabe und eine gerechtere Gesellschaft kämpfen. Gegen Rassisten, Sexisten, "alte weiße Männer" und "toxische Männlichkeit". Gegen die unbefragten Normen der Mehrheitsgesellschaft, die sich zunehmend attackiert fühlt.
Helen Pluckrose und James Lindsay finden solche Analysen geradezu zynisch, weil weißen Menschen damit eine rassistische Identität zugeschrieben wird.
Weiße Menschen können also, folgert Helen Pluckrose, entweder anerkennen, dass sie Rassisten sind und dagegen ankämpfen. Oder sie können Rassisten sein und das egoistisch verleugnen. Sie können dem Rassismus aber nicht entkommen, weil sie in einer Gesellschaft leben, in der die Weißen die Vorherrschaft haben.

Zynische Theorien

Solche zynischen Theorien, verfolgen Helen Pluckrose und James Lindsay bis zu den "postmodernen Denkern" der 60er-, 70er-Jahre zurück. Als Philosophen wie Michel Foucault, Jacques Derrida oder die Gendertheoretikerin Judith Butler beschrieben, dass alle gesellschaftlichen Verhältnisse Machtverhältnisse seien. Dass es kein objektives Wissen, keine Wahrheit gebe, sondern alles, selbst das Geschlecht, soziokulturell konstruiert sei.
Seit den 80er-Jahren hätten, so Pluckrose und Lindsay, solche postmodernen Theorien den universitären Elfenbeinturm verlassen und sich weiter entwickelt zu politisch-aktivistischen Analysen. Etwa in Studien zum Postkolonialismus, in Gender- und Queer-Studies, in der "critical race theory", also der kritischen Rasse-Theorie.

Martin Saar - Verteidiger der identitätspolitischen Streiter

"Die glauben, dass das, was sie diese Art von angewandtem Postmodernismus nennen, eher ne Religion, eher ein Set von Dogmen ist und gar keine wissenschaftsfähigen Aussagen. Und da zeichnen sie ein sehr düsteres Bild", sagt hingegen Martin Saar.
Ein Bild, das für Martin Saar aber falsch gezeichnet ist. Er ist ein Verteidiger der identitätspolitischen Streiter, findet deren Analysen über ‚strukturelle Machtverhältnisse‘ durchaus zutreffend. Ein Rassist sei zum Beispiel nicht nur, wer andere aufgrund ihrer Ethnie oder Hauptfarbe abwertet. Es gebe auch rassistische gesellschaftliche Strukturen - etwa im Schulsystem –, die zum Beispiel nicht weiße Menschen überdurchschnittlich häufig benachteiligen.
Martin Saar: "Dass man sagt, es gibt auch Rassismus da, wo keine rassistischen Intentionen im Spiel sind, sondern es gibt auch systemischere Elemente davon. Und deswegen kann so ein Phänomen wie Kolonialismus realgeschichtlich vorbei sein, aber nachwirken. Oder Sexismus. Dass man tatsächlich auch strukturelle Faktoren einrechnen kann, find ich erst mal richtig.“
Aber ist es im Namen eines solchen „strukturellen Rassismus“ richtig, einen renommierten weißen Historiker auszuladen, der einen Vortrag über Kolonialismus halten wollte, wie im vergangenen Jahr in Hannover geschehen ? Weil er sich – als Weißer - nicht in „afrikanische Verhältnisse hineindenken“ könne?  Darf das Gedicht der Schwarzen Amanda Gorman, das sie zu Joe Bidens Inauguration vortrug, von einer Weißen übersetzt werden? Soll es eigene Theaterbühnen nur für schwarze Menschen und People of Color geben?

Neuer Absolutismus oder neue Sensibilität?

Für James Lindsay ist das ein „neuer Absolutismus“: "Der neue Absolutismus geht davon aus, dass Machtdynamiken vollständig bestimmen, wer auf der richtigen Seite einer Diskussion steht und wer auf der falschen.  Wir sehen da etwas, was sehr puritanisch und starr ist.“
Es kann aber auch zu viel Sensibilität geben, wenden die Kritiker der Identitätspolitik ein. Dann nämlich, wenn an die Stelle von Argumenten Gefühle treten. Wenn Einfühlungsvermögen statt Diskussion gefordert wird. Wenn persönliche Betroffenheit zur Legitimation wird, überhaupt mitzureden.

Eine Kultur der "Wokeness"

Die deutsche Philosophin Svenja Flaßpöhler spricht von einer „modernen Empfindsamkeit“, von einer Kultur der „Wokeness“, der Wachsamkeit, bei der die Welt im Licht persönlicher Verletzungen und Verletzbarkeiten betrachtet wird. Helen Pluckrose: „Wenn Sie ‚woke‘ sind, können Sie diese Machtsysteme sehen, wie sie von diesen speziellen Theoretikern analysiert werden. Es ist eine sehr religiöse Einstellung. Die Leute haben das Licht gesehen, sie können sehen, was wirklich vor sich geht und jeden anderen dazu bringen, das auch zu sehen.“
Helen Pluckrose und James Lindsay erheben gegen die „Woken“ den Vorwurf, ihre Sensibilität für rassistische, sexistische und soziale Diskriminierung spalte die Gesellschaft in immer mehr Gruppen und Grüppchen, die alle in ihrer eigenen – unterdrückten – Identität anerkannt werden müssen. Und das führe wiederum zu Hierarchien noch unter den Unterdrückten.
Etwa sind schwule weiße Männer privilegiert gegenüber schwulen schwarzen Männern. Transmänner sind privilegierter als Transfrauen. Und heterosexuelle schwarze Männer könnte man geradezu als die – privilegierten - weißen Männer unter den Schwarzen bezeichnen. Pluckrose und Lindsay vertreten dagegen einen „Liberalismus der Farbenblindheit“.

Wie farbenblind ist unsere Gesellschaft?

„Im Mittelpunkt steht das Individuum. Wir möchten, dass jeder Zugang zu allem hat, unabhängig von seiner Identität. Und es gibt den Universalismus, da glauben wir, dass wir alle Mitglieder der menschlichen Rasse sind. Und das betonen wir über jede Kluft hinweg. Im Liberalismus gibt es diese Idee der Farbenblindheit, wo wir Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilen.“
Natürlich sollte es für die gesellschaftliche Teilhabe irrelevant sein, wer wir sind oder zu welcher Gruppe wir gehören, kontert Martin Saar. Aber die Wirklichkeit sehe oft anders aus. Oft genug ständen hinter der liberalen Idee der gleichen Rechte und Pflichten für alle doch eigene Interessen, der Versuch die eigenen Privilegien zu wahren.