Der neuen Studie liegen Satellitenbeobachtungen zugrunde. Sie zeigen, wie stark Grönlands Gletscher in den letzten zwei Jahrzehnten geschrumpft sind. Diesen Trend schreiben die Autoren in die Zukunft fort. Und kommen so zu einem Mindestmaß von Eisverluste, die für Grönland zu erwarten sind. "Unausweichlich" nennt sie William Colgan vom Geologischen Dienst Dänemarks und Grönlands in Kopenhagen.
"Die 27 Zentimeter aus unserer Studie sind eine Korrektur nach oben, wenn man sie mit den Schätzungen des jüngsten Weltklimareports vergleicht. Darin ist von maximal 18 Zentimetern die Rede, um die der Meeresspiegel durch Grönlands Eisverluste in diesem Jahrhundert steigen könnte. Diese 27 Zentimeter sind die Hypothek aus hundert Jahren Klimaerwärmung, und wir denken, es wird auch ungefähr hundert Jahre dauern, bis sie aufgelöst sein wird."
Die Region, in der das Eis taut, wird immer größer
Grönland ist heute zweigeteilt. Es gibt eine weiße „Akkumulationszone“. Das sind die Gebiete, in denen sich weiterhin Schnee anhäuft und zu Eis wird. Und es gibt eine blaue, sogenannte Ablationszone. Dort taut der Schnee gleich wieder und Gletscher schmelzen. Die Satellitenaufnahmen zeigen, dass sich die kritische blaue Zone immer stärker ausdehnt. Inzwischen misst sie 60.000 Quadratkilometer: eine Fläche anderthalb mal so groß wie die Schweiz.
Dort wird sich eine unvorstellbare Menge Grönland-Eis nach und nach in Wasser auflösen, prophezeit der kanadische Geowissenschaftler: mehr als 100 Billionen Tonnen! “Dieses Wasser liegt heute noch als Eis vor. Aber sein Schicksal ist besiegelt: Es wird schmelzen und im Meer landen. Wir könnten auch von ,Zombie-‘ oder ,totem Eis‘ sprechen. Es hat keine Zukunft mehr!“
27 Zentimeter sind nur die Untergrenze
Colgan und seine Ko-Autoren unterstellen in ihrer Studie, dass sich die Gletscherschmelze auf Grönland weiter in dem Tempo abspielt wie bisher. Tatsächlich könnte sie sich durchaus beschleunigen! Einen Vorgeschmack darauf bot das Jahr 2012 mit ungewöhnlich hohen Sommertemperaturen und Schmelzraten auf der Insel: “Nehmen wir einmal an, das Klima auf Grönland wird in Zukunft ständig so sein wie 2012. Dann wird so viel Eis schmelzen, dass der Meeresspiegel nach unseren Kalkulationen um 78 Zentimeter ansteigt und nicht bloß um 27. Das ist gut das Dreifache! Solch ein Vergleich ist wichtig. Denn er macht uns bewusst, wieviel auf dem Spiel steht.“
Jonathan Bamber ist Professor für Glaziologie an der Universität Bristol in Großbritannien und forscht ebenfalls über die Eisschilde der Erde. Bamber traut eher dem pessimisterischen Szenario: “Man muss sich nur anschauen, was in der Arktis im Moment passiert: Wir erleben Rekordtemperaturen und beispiellose Waldbrände. Die 78 Zentimeter Meeresspiegelanstieg sind deshalb sicher näher an der Realität und an dem Beitrag, den wir tatsächlich von Grönland in den nächsten hundert Jahren erwarten müssen.“
Experte: Meeresspiegel steigt um mindestens einen Meter
Auch am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven arbeiten Experten für die Satellitenbeobachtung der polaren Eiskappen. Zu ihnen zählt Ingo Sasgen. Der Glaziologe denkt über die neue dänische Studie hinaus: „Für die Planung und den Küstenschutz wäre vielleicht wichtiger zu wissen, was maximal passieren kann und in welchem Zeitraum. Und ich finde, daran sollten wir eben arbeiten, vielleicht sagen können, was maximal im schlimmsten Fall passieren kann.“
Grönland ist dabei nicht der einzige Hotspot in den Kältezonen der Erde. Auch die West-Antarktis und andere Festlandsgletscher verlieren Eis, wie Jonathan Bamber betont: “Hinzu kommt, dass sich der Ozean auch noch ausdehnt, wenn er wärmer wird. Zählt man all das zusammen, dann muss man sagen: Der Meeresspiegel wird bis Ende des Jahrhunderts wohl um mindestens einen Meter steigen – im schlimmsten Fall sogar noch viel mehr!“