
Technokratie erlebt eine erstaunliche Renaissance. Immer dann, wenn Demokratie und Markt an ihre Grenzen stoßen, erhebt sich die Idee einer Herrschaft der Experten: rational, effizient, krisenfest – und zugleich gefährlich verführerisch.
Historisch wurzelt sie in den Utopien der Antike und den Technocracy-Bewegungen der Zwischenkriegszeit, verbunden mit Visionen einer perfekt funktionierenden Gesellschaftsmaschine.
Doch aus der Hoffnung auf Vernunft und Fortschritt wurde oft ein antidemokratisches Projekt, das Nähe zu Populismus, Autoritarismus und Extremismus entwickelte. Heute begegnet uns die technokratische Versuchung erneut – ob in den Reaktionen auf Pandemien, in den Kontrollsystemen Chinas oder in den Allmachtsfantasien des Silicon Valley.
Hier zeigt sich, wie eng Fortschrittsglaube und Machtanspruch verknüpft sind und wie wichtig es bleibt, das fragile Gleichgewicht zwischen demokratischer Teilhabe und technokratischer Rationalität immer wieder neu auszuhandeln.
Markus Metz, geboren 1958, studierte Publizistik, Politik und Theaterwissenschaft, er lebt als Hörfunkjournalist und Autor in München. Zuletzt erschien von ihm „Wir Kleinbürger 4.0. Die neue Koalition und ihre Gesellschaft“ (Edition Tiamat, Berlin) und „Apokalypse & Karneval. Neoliberalismus: Next Level“ (Bertz & Fischer, Berlin), beide gemeinsam mit Georg Seeßlen.
Georg Seeßlen, geboren 1948, hat in München Malerei, Kunstgeschichte und Semiologie studiert. Er war Dozent an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland und schreibt heute als freier Autor unter anderem für Die Zeit, Frankfurter Rundschau, taz und epd‑Film. Außerdem hat er rund 20 Filmbücher verfasst und Dokumentarfilme fürs Fernsehen gedreht.
Das 20. Jahrhundert prägten zwei wesentlichen Entwicklungen. Zum einen der enorme Fortschritt auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik verbunden mit dem Aufstieg einer neuen Schicht der Ingenieure, der Experten, der Erfinder und der Gründer von Technologieunternehmen. Zum anderen das Spannungsfeld zwischen einer universalen freien Marktwirtschaft, die sich immer wieder krisenhaft fortentwickelte, und der politischen Herrschaft zwischen liberaler Demokratie, sozialistischer Parteienherrschaft und faschistischen Terrorregimes. Mit dem Sieg der Alliierten über den Faschismus aus Deutschland, Italien und Japan und dem Beginn des Kalten Krieges nach dem Zweiten Weltkrieg schien es zumindest im mehr oder weniger goldenen Westen allgemeiner Konsens, dass die Verbindung von kapitalistischer Wirtschaft, politischer Demokratie und sozialem Liberalismus die beste Lebensform auf Erden sei, um den Menschen Wohlstand, Gerechtigkeit und Glück zu bescheren.
Womit allerdings seit der Entstehung dieses dreiteiligen Systems niemand so richtig zurecht kommt, weder die Verfechter noch die Kritiker der liberalen Marktwirtschaft, ist die offensichtlich unabwendbare Krisenhaftigkeit des Geschehens. Immer wieder gab es Marktzusammenbrüche, gravierende Arbeitslosigkeit, Börsenkräche, Inflation, Bankrottserien. Offensichtlich ist das demokratische System zu langsam, zu labil, zu sehr von Stimmungen der Wählenden abhängig, um rechtzeitig zu notwendigen Maßnahmen zu greifen, vor allem wenn solche zwar vernünftig, aber leider auch schmerzhaft für Teile der Bevölkerung sind. Auf jede Wirtschaftskrise folgt zwanghaft eine soziale Krise, Angst, Misstrauen und Wut verbreiten sich und suchen sich ihre Ventile. Und umgekehrt bewirken soziale, politische und natürlich militärische Krisen Zusammenbrüche von ganzen Wirtschaftssystemen. Unglücklicherweise hat sich die gesellschaftliche Kultur in diesem System weniger auf ein Leben in Krisen und mit Krisen ausgerichtet, vielmehr neigt sie zur Verdrängung der Krisen. So taucht bei jeder neuen Krise in Chaos und Angst wieder und wieder die Stimme auf, die ein System verspricht, in dem es keine Krisen mehr gibt, oder in dem Krisen rasch und nachhaltig ohne viel Diskussion und ohne Kompromisse bewältigt werden: Technokratie. Die Ausgangsposition von Technokratie ist sehr einfach: Je größer die Probleme, desto intelligenter müssen die Lösungen sein. Und wer kann intelligente Lösungen erkennen, wenn nicht Menschen, die sich besondere Intelligenz erworben haben?
Demnach sind sich Technokratie und ihr scheinbares Gegenteil, der irrationale Populismus dahingehend einig, dass demokratisches und soziales Empfinden und kritische Öffentlichkeit stören. In nahezu allen Beschreibungen, die sich zu dem Thema finden lassen, wird gewarnt, dass es eine einheitliche Definition von Technokratie gar nicht gibt. Allenfalls vom Wortstamm her lässt sich eine Basis finden: Das Wort setzt sich zusammen aus den altgriechischen Wörtern Téchne für Fertigkeit und Wissen sowie Kratos für Herrschaft. Technokratie wäre also eine Herrschaft der Sachverständigen, der Wissenden und Fähigen.
Die Wurzeln dieser Idee einer Herrschaftsform, die weder demokratisch noch feudalistisch, weder theokratisch noch im eigentlichen Sinne tyrannisch sein soll, reichen bis in die Antike. Im Grunde sind die meisten großen Utopien einer optimal und ideal funktionierenden Gesellschaft technokratisch, insofern sie von der Autorität gelehrter und spezialisierter Menschen – meist männlichen Geschlechts – ausgehen, die eine Stadt oder einen Staat – sagen wir „Atlantis“ oder wie dann beim englischen Philosophen und Staatsmann Francis Bacon im 17. Jahrhundert „Nova Atlantis“ – regieren, wie man eine Maschine bedient oder wie man wissenschaftliche Experimente verifiziert. Gemeinsam ist diesen Vorstellungen von Gesellschaften, die wie perfekte Maschinen organisiert sind, dass alles für das Wohl der Gemeinschaft, für das Wohl des Systems geschieht, während das Wohl und das Glück des Einzelnen zurücktreten muss. Eine perfekte Gesellschaft verträgt sich nun mal nicht mit der individuellen Freiheit der Einzelnen – mit Ausnahme der Freiheit der Besitzer, Maschinisten und Erfinder solcher Gesellschaftsmaschinen.
Das Modell für das Erstarken einer technokratischen Idee, die es aus den Universitäten und Techniklaboratorien auch in die Köpfe gewöhnlicher Zeitgenossen findet, ist die angelsächsische Technocracy-Bewegung der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Deren Grundideen scheinen heute wieder hochaktuell.
Denn bei der Technokratie als politischer Bewegung geht es nicht nur darum, das Regel- und Kompromisswerk der Demokratie abzulösen, sondern auch das eines sich selbst regulierenden, freien Marktes. Die Demokratie wird allenfalls geduldet, als „Ventil“, wie es die deutsche Technokratie-Bewegung der zwanziger Jahre vorschlug, und der Markt darf existieren, solange die technokratische Elite ihn kontrollieren kann.
Die Technocracy-Bewegung hat mehrere Gründerväter. Für die theoretische Begründung spielt der amerikanische Ökonom und Soziologe Thorstein Veblen eine Schlüsselrolle, der in seinem 1919 erschienenen Werk The Engineers and the Price System von einem baldigen katastrophalen Ende des freien Marktes und seiner Gesellschaften ausging. Als Alternative für den Kreislauf von Lohn, Preis, Profit, Zins und Steuern schlug er ein dem Energiepotential entsprechendes Nationaleinkommen vor, das, natürlich, von sozialen Ingenieuren verteilt wird. Unter „Ingenieuren“ verstand er im Übrigen jene, die in der Wirtschaft höhere Positionen errungen haben. Zur politischen Bewegung wurde der Kreis um Thorstein Veblen, der sich „Technical Alliance“ nannte, durch ein Manifest, das die Technikerklasse als legitime Oligarchie auf der Basis des exakten Wissens und der Kenntnis von Kontrollsystemen erklärte. Veblen war im Übrigen ein vehementer Kritiker der Klasse von Müßiggang und Luxus. In seiner Theorie der feinen Leute heißt es:
„Die Institution einer Klasse, die nicht arbeitet, also einer müßigen Klasse, hat in den Hochformen der barbarischen Kultur, etwa im feudalen Europa oder in Japan, ihre höchste Entwicklung gefunden.“
Zu Beginn der modernen Technokratiebewegung konnte man also eine mehr oder weniger linke Reaktion auf die Dekadenz und die Klassenstruktur des Kapitalismus sehen. Doch die Wendung nach rechts erfolgte einigermaßen rasch. Militanter nämlich wurde es bei einem gewissen Howard Scott, der eine Heilslehre um die Abschaffung der Demokratie und die Errichtung der neuen Technokratie verkündete. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Lehre war nun das apokalyptische Bild eines kurz bevorstehenden Untergangs der westlichen Zivilisation aufgrund ihrer liberalen Verweichlichung.
Alle demokratischen Regierungen des Westens sollten demnach gestürzt und durch die „Technate of North America” ersetzt werden, die ein „funktionales System der Kontrolle“ einführen müssten. Deren Kontrollmacht müssten vor allem die damalig vorrangigen Kommunikationssysteme, in erster Linie das Telefon, dienen, mit dem die Überwachung und Steuerung der Gesellschaft in die Hände der Technokraten übergehen sollten. Diese würden wiederum das traditionelle Geldsystem durch ein Anrechtssystem auf Energie ersetzen. Letztendlich würde dadurch auch der Markt, das System von Angebot und Nachfrage, das Zinssystem und so weiter obsolet. Die technokratische Oligarchie würde nach einem „wissenschaftlichen“ System Leben und Sterben, Arbeit und Konsum steuern. Damit wäre das Paradies nicht nur für die Elite, sondern auch für die Arbeiterschaft erreicht, weil Rationalisierung und Mechanisierung ihre Produktivität so zu steigern hätten, dass nur noch wenig menschliche Arbeitskraft nötig sei. All das klingt nun verdächtig vertraut. Auch in Deutschland entwickelte sich in der Zwischenkriegszeit eine eigene Bewegung der Technokratie. Schlüsselfiguren waren da die beiden Ingenieure Georg Biedenkapp und Anton von Rieppel mit ihrer These von einer „Staatsmaschine“, deren „zweckmäßiges Arbeiten mit möglichst geringem Entweichen unbenützter Energiemengen der Ingenieur anstreben und im Auge behalten wird.“
Solch ein reiner, fast abstrakter Technokratieentwurf, der nichts und niemand anderem verpflichtet sein sollte als dem sachlich Richtigen und der technischen Effizienz, erscheint in seiner naiven Technologiegläubigkeit zwar eher eine kulturhistorische und politische Episode. Doch die Ideen der Technokratiebewegungen auf beiden Seiten des Atlantiks fanden immer wieder neue Medien und neue politische Allianzen. Auch als sich herausgestellt hatte, dass der technizistische Messias Howard Scott nichts anderes als ein geschickter Betrüger und sein wissenschaftlicher Hintergrund frei erfunden war, geisterten dessen Ideen weiter durch diverse politische und weltanschauliche Zirkel. Für eine kurze Zeit war die Vorstellung von Technokratie als Heilmittel gegen die Krisen von Demokratie und Kapitalismus gerade in der angelsächsisch geprägten Welt ausgesprochen populär. Teile davon ließen sich zwanglos mit dem „libertären“ Techno-Super-Kapitalismus verbinden, wie ihn etwa Ayn Rand in ihrem Roman-Pamphlet Atlas wirft die Welt ab und ihrer Idee vom „Objektivismus“ verkündete. Wie einer ihrer späteren Fans, Elon Musk, hielt auch Ayn Rand Empathie und Altruismus für das größte Übel der abendländischen Kultur. Und wie die Technokraten setzte sie neben dem bedingungslosen Eigennutz auf den technischen Verstand als Allheilmittel.
Während Ayn Rand „rationalen Egoismus“ predigt, entfaltet Robert A. Heinlein, Autor hoch politischer Science Fiction, der für das Denken der Nachwuchstechnokraten der Nachkriegszeit prägend wird, den Begriff des „rationalen Anarchismus“.
„Ein rationaler Anarchist glaubt, dass solche Konzepte wie ‚Staat‘, ‚Gesellschaft‘ oder ‚Regierung‘ nur insofern Gültigkeit haben, als sie der physische Ausdruck von selbst‑ermächtigten Individuen sind. Er glaubt, dass es unmöglich ist, Verantwortlichkeit, Schuld oder Erkenntnis miteinander zu teilen. Nur einzelne Menschen können Verantwortung tragen. Und weil der rationale Anarchist ausschließlich der Vernunft gehorcht, ist ihm klar, dass er eine perfekte Existenz in einer unperfekten Welt sein muss.“
Schon bei den Begründern des modernen Technokratie-Konzepts gelangte man sehr schnell von der Herrschaft der Vernunft zu einer Herrschaft anti-demokratischer und anti-sozialer Elite und von dieser zur Vorstellung des technokratischen Führers. Kein Wunder also, dass sich sowohl der Sozialismus sowjetischer Prägung als auch der deutsche Faschismus ausgiebig an Schriften der Technokratischen Bewegung bedienten. Während des Zweiten Weltkrieges erlangten die angelsächsischen „Technocrats“ noch einmal eine gewisse Aktualität, insofern sie sich als eine Art von Drittem Weg zwischen dem faschistischen und dem sozialistischen Totalitarismus verstehen ließen. In Kanada erzielten sie auch politischen Einfluss, da sie auf die nationale Neutralität pochten und es strikt ablehnten, dass sich kanadische Truppen an einem Krieg beteiligten, der nicht auf dem eigenen Kontinent und nicht im nationalen Interesse geführt würde (sondern gar im Namen der verhassten Demokratie). Zu dieser Zeit erklärte sich Technocracy Inc. zur Schatten- beziehungsweise Gegenregierung. 1940 verbot die kanadische Regierung die Gruppierung ebenso wie alle kommunistischen und faschistischen Organisationen. Zu den Leuten, die öffentlich gegen das Verbot dieser „patriotischen“ Gruppe protestierten, gehörte ein gewisser Joshua Haldeman, bei dem es sich um den bewunderten Großvater von Elon Musk handelt. Nachdem Haldemans Idol Howard Scott entzaubert war, fand er in Clifford Hugh Douglas einen anderen Messias, einer der eifrigsten Vertreter der Lehre vom „Social Credit“ als Nachfolge von Lohn und Preis. Der „Social Credit“ seiner Vorstellung ist eine Art durch den Staat garantiertes Einkommen, das nicht durch die Arbeitsleistung und den Markt festgelegt wird, sondern durch das Wohlverhalten und den Nutzen eines jeden Menschen.
Auch diese Paradiesvorstellung freilich war mit dem Gedanken an Demokratie unvereinbar. Statt der konkurrierenden politischen Parteien sollte auch nach seiner Vorstellung wieder die kleine Schicht der „Experten“ regieren, wie es schon in der Technocracy-Bewegung vorgesehen war. Und wie schon bei Scott mischte sich auch bei Douglas in die technokratische Lösung aller sozialen Probleme der militante Antisemitismus. Noch etwas kommt uns bekannt vor: Einer der wichtigsten Propagandisten der antisemitischen Credit Party war ein fanatischer Radio-Prediger namens William „Bible Bill“ Aberhart, der seine virtuelle Gemeinde vor allem in den ländlichen Gegenden der Nation fand. Seine kruden Ideen und seine Hetze fanden so viel Anklang, dass er, vermutlich zum eigenen Erstaunen, 1935 mit seiner Social Credit Party eine Mehrheit im Parlament von Alberta gewann und dort zum Premierminister wurde. Schon damals traf das Konzept auf eine scharfe politische Kritik, wie in einem anonymen Artikel in einer marxistischen Zeitschrift aus dem Jahr 1934:
„Wie alle typischen Faschistischen Programme hat auch das der Social Credits eine radikale Form und einen reaktionären Inhalt. Sein Propagandawerk greift all die Vorurteile des Kleinbürgertums auf und schlägt eine Art pseudo-sozialistischer Reaktion auf den Hass gegen das Finanzkapital vor, bedient zugleich ihren Nationalismus, ihren Anti-Kommunismus und ihren Antisemitismus. Im Augenblick allerdings wäre es noch ein Missverständnis, in der technokratischen Social Credit‑Bewegung schon eine faschistische zu sehen. Es ist erst einmal nur eine utopische Illusion.“
Aus ihrer Geschichte heraus erscheint es nicht mehr ganz so erstaunlich, dass sich technokratische Vorstellungen so einfach mit anti-demokratischen, mit rassistischen und mit populistischen und christlich-fundamentalistischen Elementen verbinden ließen. Als sich unter Douglas und Haldeman und ihrer Social Credit Party die Ausgabe staatlicher prosperity certificates statt Lohngeldern ebenso als totales Desaster erwiesen hatte wie die Versuche, technokratische Expertengruppen anstelle demokratisch gewählter Regierungen wirken zu lassen, blieb von der Social Credit Party nur noch das antisemitische und rechtsreligiöse Weltbild übrig. Joshua Haldeman sollte nach Südafrika auswandern, wo der Apartheidstaat sehr viel mehr seinen Vorstellungen entsprach.
Die Technokratiebewegung als manifeste politische Kraft mit eigenen Parteien, eigenen Medien und eigenen Denkschulen schien in der Nachkriegszeit im Westen erst einmal erledigt. Nicht nur deshalb, weil im Osten eine besonders tyrannische Form der Technokratie unter Stalin wütete, sondern auch, weil es immer wieder gelang, technokratische Gedanken und Modelle in die parlamentarischen Demokratien und die Ideen des freien Marktes zu integrieren. Jedenfalls so lange es möglich war, die nationalen wie die weltweiten Krisen noch irgendwie zu verarbeiten. Die Vorstellung von einer Gesellschaftsmaschine und einer technisch‑wissenschaftlichen Elite wurden eher unter dem Aspekt des Problems als unter dem der fundamentalen Lösung behandelt. Der technologische Sachzwang wurde als die Herausforderung gesehen, der es sich zu stellen galt.
„Jedes technische Problem und jeder technische Erfolg wird unvermeidbar sofort auch ein soziales, ein psychologisches Problem und zwar in der Art, dass dem Menschen eine Sachgesetzlichkeit, die er selbst in die Welt gesetzt hat, nun als soziale, als seelische Forderung entgegentritt, die ihrerseits gar keine andere Lösung zuläßt als eine technische, eine vom Menschen her geplante und konstruktive, weil dies das Wesen der Sache ist, die es zu bewältigen gilt.“
So sah es der Soziologe Helmut Schelsky zu Beginn der 1960er Jahre. Um menschlich und sozial mit den rasanten technologischen Entwicklungen umzugehen, sollten eine liberale, diskussionsfreudige Gesellschaft, ein demokratischer Staat, der so sehr auf den wissenschaftlichen Rat wie auf die Bedürfnisse der Bevölkerung reagiert und eine soziale Marktwirtschaft dienen, also eine Art Kapitalismus mit menschlichem Gesicht. Vielleicht war es gerade der wissenschaftliche Fortschritt selbst, der eine verbreitete Skepsis gegenüber technokratischen Ansprüchen bewirkte. Und ausnahmsweise war die Angst vor einer allzu ausgeprägten Hegemonie des technizistischen Denkens einigermaßen gleichmäßig auf der linken wie auf der rechten Seite verbreitet. Und in der Mitte wurde der Experte zugleich zur Idealfigur und zur satirischen Gestalt in den Medien.
„Der Experte: Er steht vor einem Bücherregal und bestätigt die Narrative seiner Geldgeber. Und er schafft es, dabei klug auszusehen und die TV-Zuschauer zu überzeugen. Egal, welchen Unsinn er brabbelt.“
So sieht es die Website Satirepatzer. Jedenfalls ist der Experte, der in die politischen Entscheidungen eingreift, in einer lebendigen Demokratie eine ambivalente Figur. Ohne ihn funktioniert keine rationale Demokratie, aber zu viel davon gefährdet als Expertokratie die lebendige Demokratie. Was aber, wenn es ein Volk der Sachverständigen gibt, oder wenigstens ein Volk, in dem sich beinahe jeder für einen Experten oder eine Expertin hält? Dieser Widerspruch trat jüngst in der so genannten Corona-Krise drastisch in Erscheinung.
Diese Phase der temporären Technokratisierung der deutschen Demokratie hat gesellschaftliche Wunden hinterlassen, denn sie zeigte sehr deutlich, dass zum Beispiel die wissenschaftliche Vernunft bei der Bekämpfung einer Pandemie mit den sozialen Interessen überkreuz gehen kann. Was ist schlimmer? Die Ansteckungsgefahr oder die soziale Isolation? Was ist wichtiger? Die Beschlüsse der medizinischen Experten zu befolgen oder die persönliche Freiheit? In einer solchen Krise also kann das durchaus labile Gleichgewicht von rationaler Expertokratie und sozialer Demokratie schon einmal Schaden nehmen. Bei den so genannten Montagsdemonstrationen kam es zu regelrechten Aufständen gegen die medizinische Expertokratie, die den Lockdown durchgesetzt hatte. Die Demokratie, die sich einen Anteil an offener Technokratie leistete, stärkte damit wohl unwissentlich das Anwachsen des rechten Populismus. Damit erschien bereits eine neue Allianz am historischen Horizont, eine neue Verbindung von technokratischen und rechtsextremen Bewegungen. Die Allianz zwischen den Herren von Silicon Valley, die sich als Tech-Milliardäre zu einer neuen Oligarchie in den USA geformt hatten und unter der zweiten Regentschaft von Donald Trump eine offene rechtsextreme Position einnahmen, und den radikal konservativen und rechtsreligiösen Bewegungen. Elon Musk etwa verkündet eine Agenda, die auf bemerkenswerte Weise der seines Großvaters von Technocracy Inc. ähnelt. Kurzum: die anti-demokratische, technokratische, rassistische und anarcho-kapitalistische Sichtweise, die im Kern das Motiv des Technologie-Regimes unter Trump ist und mittlerweise überall in der Welt ihre Anhänger zu finden scheint, wurde keineswegs von dessen Protagonisten erfunden. Technocracy und Hypercapitalism waren vielmehr seit der vorherigen Jahrhundertwende weit verbreitete Zukunftsbilder in der angelsächsischen Welt; sie strahlten in die Jugend des Elon Musk als Erzählungen von Großvater und Vater so sehr hinein wie als popkulturelle Lektüren und Traumvorstellungen. Der weiße Übermensch, im Besitz von Roboter und Rakete, würde die Welt beherrschen, die sich unendlich ausdehnen konnte, über den Planeten Erde hinaus, und alles nicht-weiße, nicht-männliche und nicht-technische würde dienen müssen oder zugrunde gehen. Die Herrschaft der Technokraten würde deshalb segensreich sein, weil sie das Wohl der Menschheit im Auge hat, was bedeutet, keine Rücksicht auf einzelne Menschen, schon gar nicht auf schwache zu nehmen; nur das große Ganze zählt. Als Erwachsener wird Elon Musk einmal behaupten, das Konzept der Empathie sei schuld am Niedergang des Abendlandes. Dieser Glaubenssatz der Technokratie begleitet sein Werk und seine Auftritte und entfernt ihn weit von der liberalen Szene des digitalen Progressismus, aus der die große Transformation des Neoliberalismus entstand. Der Renaissance der Technokratie als politische Bewegung im Westen, die sich mit Rechtspopulismus und Nationalismus verbindet, steht ein Pendant in Russland gegenüber, und auch hier reichen die Wurzeln in die zwanziger und dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück, als man nach dem Wort von Wladimir Iljitsch Lenin verfuhr:
„Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.“
Die Technokratisierung fraß hier rasch die sozialen Grundlagen der Revolution, führte zu einer totalitären Gewaltherrschaft und schließlich doch zum Zusammenbruch des Systems. Nach dem Ende der Sowjetunion kam es in Russland zu einer neuen, mehr oder weniger zivilen Form der Technokratie. Junge Wissenschaftler aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Wirtschaftswissenschaft und Physik wurden zur eigentlichen Stütze der Übergangsregierungen unter Gorbatschow und Jelzin. Eine Demokratie im westlichen Sinne hatten weder die Oligarchen, die sich aus den Trümmern der Planwirtschaft mit ungeheuren Privilegien versorgten, noch die jungen Technokraten im Sinn. Ihr Credo formulierte wohl am anschaulichsten 1995 der russische Ökonom Alexei Uljukajew:
„Die wichtigste Frage jeder Evolution ist die Abgrenzung der Macht: Wie können Entscheidungen kompetent getroffen werden, sodass diese nur von Wissen und Erfahrung abhängen, nicht jedoch von Abstimmungsergebnissen?“
Hier wie dort also kommt es offensichtlich zu einer technokratischen Reaktion auf wirtschaftliche und soziale Krisen. Und hier wie dort verbindet sich das technokratische Denken mit Autokratie und Rechtsextremismus, aber eben auch erstaunlicherweise mit einem durch und durch irrationalen Kulturkampf.
Und hier wie dort sind die Erwartungen in einen neuen technokratischen Ansatz, der sich mit Liberalismus, Humanismus und Demokratie vertragen würden, so bitter enttäuscht worden. Auch der technokratische Kapitalismus, den die Kommunistische Partei in China durchgesetzt hat und in dem das System der Social Credits der frühen Technokraten in einem umfassenden Kontrollsystem verwirklicht wird, ist nicht gerade eine erstrebenswerte Alternative. Wenn man von einem neuen Imperialismus in der Welt spricht, sollte man wohl von der neuen Technokratisierung nicht schweigen.
Eine Demokratie, die sich auch in der Wissenschaft und ihrer praktischen Anwendung als Motor des Fortschritts versteht, kommt vermutlich ganz ohne ein technokratisches Beiwerk nicht aus. Das geht gerade in Krisensituationen wie einer Pandemie über den bloßen Status der Beratung hinaus. Auf bestimmten Feldern der Politik, in diesem Fall all das, was mit Impfpflicht, öffentlicher Hygiene und im Zweifelsfall Quarantäne zusammenhängt, kann es auch in einer funktionierenden Demokratie notwendig sein, etwas von der exekutiven Macht von gewählten Politikerinnen und Politikern auf ein medizinisches und biologisches Expertentum zu übertragen. Wie freilich gerade dieses Beispiel zeigt, ist dabei ein Konflikt zwischen sozialer und wissenschaftlicher Autorität kaum abwendbar. Die Reaktion war zum Teil verheerend, nämlich eine Abwendung vieler Menschen vom wissenschaftlichen Weltbild überhaupt und die Verbreitung von Verschwörungsphantasmen.
Das hatte zu einem Teil gewiss damit zu tun, dass eine technokratische Komponente in der Demokratie in der Öffentlichkeit zu wenig kommuniziert wurde. Im Zeitalter der rasanten Entwicklung von Wissen und Technik muss die Demokratie einen technokratischen Anteil in Regierung und Verwaltung aushalten, aber umgekehrt muss das technokratische Element, die Vorherrschaft rationaler Expertise, ihrerseits eine Demokratisierung durchleben. Wenn die Politik einen Teil ihrer Kontroll- und Entscheidungsmacht an die Wissenschaft abgibt, muss auch dies selber demokratisch legitimiert und reflektiert sein. Eine moderne Demokratie, die stark genug ist, ein technokratisches Element in sich zu begrenzen, müsste dann weniger Angst davor haben, durch die Technokratie bedroht, wenn nicht gar ersetzt zu werden.
Kaum etwas indes ist bedrohlicher als eine Demokratie, die schon technokratischer ist, als sie selber erkennt. Je mehr man also von der technokratischen Verführung weiß, desto entspannter kann man mit ihrer Gegenwart im Dialog von Technologie und Demokratie umgehen.
Wenn aus der Geschichte etwas zu lernen wäre, dann dies: Technokratie war häufig ein Problem in der Geschichte der modernen Gesellschaften. Manchmal erschien sie als Nothilfe. Eine wirkliche Lösung war sie nie.










