Samstag, 20. April 2024

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Soziale Kontakte in der Pandemie
Epidemiologe Brinks: Kaum vermeidbare Kontakte werden unterschätzt

Die Corona-Wellen verlaufen in vielen europäischen Ländern oft erstaunlich ähnlich und flachen dann wieder ab – obwohl die Maßnahmen und Beschränkungen teils sehr unterschiedlich waren und sind. Das könne an unseren Kontakten liegen, im Job und privat, sagte der Epidemiologe Ralph Brinks im Dlf.

Ralph Brinks im Gespräch mit Kathrin Kühn | 10.01.2022
Die Mitarbeiterin eines Biomarktes trägt an der Kasse einen Mund-Nasen-Schutz, hat aber trotzdem am Tag sehr viele Kontakte.
Eine Frau an einer Supermarktkasse. (picture alliance / dpa / Frank Molter)
Wissenschaftler wie der Epidemiologe Ralph Brinks, der Mitglied der Corona-Daten-Analyse-Gruppe an der Uni München ist, vermuten, dass es vor allem unsere sozialen Interaktionen sind, die einen entscheidenen Einfluss auf die Ausbreitung des Virus in der Pandemie haben. Er plädiert deswegen dafür, mehr Kontaktdaten in Prognosen miteinzubeziehen, um mit besseren Statistiken die Effekte von verschiedenen Maßnahmen besser zu bewerten zu können.

Private oder familiäre Kontakte spielen eine große Rolle

„Ich würde tippen, dass wir hier gerade ein Indiz dafür bekommen, dass es nicht die Maßnahmen sind, die jetzt einen so starken Einfluss auf das Pandemiegeschehen haben,“ sagte Brinks im Deutschlandfunk. Der private oder familiäre Kontakt spiele möglicherweise eine deutlich stärkere Rolle für die Verbreitung des Erregers. Familiäre Kontakte ließen sich nicht beliebig verringern, besonders nicht, wenn es um räumlich beengte Wohnverhältnisse gehe. Gegen enge Räumlichkeiten können man mit Maßnahmen sehr wenig ausrichten. Auch hätten Menschen, die nicht im Homeoffice arbeiten, deutlich mehr Kontakte, die sie nicht einfach reduzieren könnten - wie zum Beispiel die Kassiererin im Supermarkt, aber auch Pfleger oder Ärzte im Krankenhaus.
Deshalb sollte die Analyse der Bewegungs- und Kontaktdaten eine größere Rolle spielen, um das Pandemiegeschehen besser zu erforschen. Es brauche mehr Wissen, sagte Ralph Brinks. Gleichzeitig betonte der Epidemiologe, dass die Studienlage zur Schutzwirkung der Impfung gegen schwere Verläufe, gegen Todesfälle, insbesondere in der vulnerablen Bevölkerung, unbestritten sei. Die Impfung sei eine effektive Maßnahme gegen das Omikron-Virus.

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Das Interview in voller Länge:

Kathrin Kühn: Professor Ralph Brinks ist Epidemiologe und Mathematiker der Uni Witten-Herdecke und Mitglied der Corona-Daten-Analyse-Gruppe an der Ludwig-Maximilians Uni in München. Er hatte darauf hingewiesen, dass die Corona-Wellen in vielen europäischen Ländern oft erstaunlich ähnlich verlaufen und auch wieder abflachen – obwohl der Stand der Corona-Maßnahmen da teils total unterschiedlich war - auch der Beschränkungen. Wenn man sich das anschaut, dann ist das tatsächlich ziemlich spannend. Könnten Sie dieses Phänomen der – ja quasi – gleichzeitig brechenden Wellen vielleicht erst einmal noch kurz beschreiben?
Ralph Brinks: Ja. Das Phänomen dieser gleichartigen Wellenform, die bei den Epidemien immer auftreten, das wurde schon vor 180 Jahren beschrieben. Man kannte zwar damals den Begriff der ansteckenden Krankheiten schon, aber über einen genauen Übertragungsweg da konnte man damals nur spekulieren. Bakterien und Viren, also Überträger von solchen Krankheiten, wurden ja erst Jahrzehnte später entdeckt, und der Chirurg und Apotheker William Farr, dem ist bei der Analyse von Pockentodesdaten aufgefallen, dass es immer wieder gleichförmige Wellen gibt, wo viele Menschen sterben. Diese Wellen hatten an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten immer eine ähnliche Form: ein allmähliches Ansteigen und dann ein ziemlich gleichgeartetes Abfallen. Das nannte man dann Farr’s Gesetz in der Folgezeit.

Starke Ähnlichkeiten in der vierten Welle mit dem Nachbarland Österreich

Kühn: Haben Sie da vielleicht mal ein Beispiel, also wo sind die Wellen in ihrer Form jetzt im Herbst sehr ähnlich verlaufen, die Maßnahmen aber waren eigentlich total unterschiedlich?
Brinks: Ja, bei der vierten Welle im Herbst, da hat eine Kollegin von Ihnen aus Nordbayern, Frau Lionello, sehr starke Ähnlichkeiten der Wellenform beispielsweise bei Österreich mit der sehr harten Lockdown-Politik und dem Nachbarland Ungarn mit deutlich weniger stringenten Maßnahmen gefunden, und ähnliche Vergleiche gibt es mehrere. Ich würde zum Beispiel vermuten, dass in der Omikron-Welle, weil das ja gerade so von Norden zu uns hereinschwappt, dass wir möglicherweise dann auch ähnliche Verläufe mit Nachbarländern haben, vielleicht mit einem leichten zeitlichen Versatz, was es eben dann für Deutschland und Omikron betrifft.
Kühn: Was ist denn dann die Ursache dafür? Wenn die politischen Maßnahmen unterschiedlich sind, wieso gleichen sich dann die Kurven in ihrer Form, also jetzt nicht die Höhe, aber eben die Art und Weise des Verlaufs? Eigentlich wäre doch die These, dass das dann ganz anders aussehen müsste.
Brinks: Ja, ich würde tippen, dass wir hier gerade ein Indiz dafür bekommen, dass es nicht die Maßnahmen sind, die jetzt einen so starken Einfluss auf das Pandemiegeschehen haben. Denkbar wäre es eben, dass private oder familiäre Kontaktnetzwerke eine deutlich stärkere Rolle für die Verbreitung des Erregers spielen. Familiäre Kontakte lassen sich nicht beliebig verringern, besonders nicht, wenn es um räumlich beengte Wohnverhältnisse geht. Diese sozioökonomische Komponente, die ist im Verlauf der Pandemie ja auch in Deutschland sehr stark zutage getreten.

Viele Menschen haben keine Chance auf die Arbeit im Homeoffice

Kühn: Das heißt also, dass eigentlich gar nicht alle Menschen so die Chance haben, im Homeoffice zu arbeiten, sondern gezwungen sind, Menschen zu treffen, um eben ihr Geld zu verdienen und eben auch zu Hause einfach auf viel, viel mehr Menschen treffen als andere.
Brinks: Ja, ganz genau. Das sind Dinge, wo wir mit unseren Maßnahmen sehr wenig ausrichten können. Denken Sie jetzt eben an vielleicht die Supermarktverkäuferin oder irgendwelche prekären Beschäftigungen mit vielen Kontakten, also Gegenmaßnahmen eigentlich nicht so greifen können. Das führt dann gewissermaßen zu vielen Kontakten, die aber auch nach einer bestimmten Zeit, insbesondere im familiären Umfeld dann, gesättigt werden. Da haben wir dann – die Kontakte haben stattgefunden, und dann ist das irgendwann auch wieder vorbei.

Irgendwann trifft man auf einen Infizierten

Kühn: Das heißt, irgendwann hat jeder theoretisch jeden mal einmal irgendwie getroffen oder über Bande Kontakt gehabt, und damit wäre dann dem Virus auch erst mal quasi der Boden entzogen – das stelle ich mir unter Sättigung der Kontakte vor.
Brinks: So in etwa würde ich mir das auch vorstellen. Das sind dann Sättigungseffekte, die zum Abklingen der Wellen beitragen, wie Herr Farr das eben beschrieben hat. Und um ehrlich zu sein, muss ich aber hier sagen, wir wissen das nicht mit Bestimmtheit, und das ist erst mal nur eine Hypothese. Die Hypothese haben wir bislang in einigen Simulationen in Modellrechnungen bestätigt gesehen.
Kühn: Dann wird da jetzt wahrscheinlich durchaus intensiver daran gearbeitet werden. Wenn wir jetzt konkret auf die vierte Welle in Deutschland schauen, wie war das denn da, wann ist die gebrochen, also die Inzidenzen sanken wieder, und passt das mit den politischen Maßnahmen da zusammen? Die wurden ja vor allem im Laufe des Novembers beschlossen?
Brinks: Ja, wir haben bei den Inzidenzen ja immer das Problem, dass das sehr stark vom aktuellen Testgeschehen abhängt. Deshalb schauen wir in der Epidemiologie lieber auf den R-Wert, der das Problem des Testverhaltens viel weniger hat. Und für Bayern analysieren wir hier am Institut für Statistik der Ludwig-Maximilians-Universität diese Daten und sehen in der Tat schon seit Ende Oktober so eine Trendumkehr, also vor Inkrafttreten der neuen Regeln. Wir haben was Ähnliches auch im Jahr davor, Oktober 2020, auf Bundesebene gesehen, also dass die Trendumkehr schon vor dem damaligen Lockdown light stattfand.

Schutzimpfung hilft gegen schwere Verläufe und Todesfälle

Kühn: Jetzt könnte ich ja mal sagen, da gab es ja aber auch schon vorher andere Maßnahmen, die jetzt zum Teil auch schon im Sommer begonnen haben, vor allem ja das Impfen, Schultests zum Beispiel aber vielleicht ja auch, spielt das dann da nicht auch mit rein?
Brinks: Absolut, natürlich. Das muss man sicherlich bejahen, dass das hier reinspielt. In so einer Pandemie haben wir ja ein hochgradig vernetztes abhängiges interdependentes System, wo viele Effekte zusammenspielen, und es ist sicherlich unumstritten, dass die Studienlage zur Schutzwirkung der Impfung gegen schwere Verläufe, gegen Todesfälle, insbesondere in der vulnerablen Bevölkerung, die ist sehr gut. Und das hat auf jeden Fall eine Schutzwirkung und das ist auf jeden Fall auch zu begrüßen.

Bewegungsdaten wichtig für eine bessere Analyse des Infektionsgeschehens

Kühn: Ich habe jetzt letztlich ja auch noch mal gerade in dieser Vorbereitung auf dieses Interview gelernt, dass das für Seuchen, wie Sie ganz am Anfang ja schon gesagt haben, eben durchaus bekannt ist, dass es oft die Kontakte der Menschen sind, die den Ausschlag geben. Darauf weist ja auch diese aktuelle Analyse der Bewegungs- und Kontaktdaten jetzt aus Connecticut hin. Sollte das dann in der Pandemiepolitik vielleicht auch eine größere Rolle spielen, sich das genauer anzuschauen und wahrzunehmen?
Brinks: Ja, das genauer anzuschauen, zu erforschen, das ist sicherlich sinnvoll, aber was wir auf jeden Fall im Hinterkopf behalten sollten, wenn wir nicht zweifelsfrei wissen, ob Maßnahmen die gewünschten Konsequenzen für das Pandemiegeschehen haben, dann müssen wir ja extrem vorsichtig sein, die Intensität der Maßnahmen dann zu steigern. Das gilt natürlich besonders auch für den privaten Bereich.
Kühn: Das bedeutet, eigentlich haben wir im Moment zu wenig Wissen über Ursache/Wirkung, und solange dieses Wissen fehlt, kann man da auch gar nicht so definitiv mit umgehen, wie das vielleicht im Moment teilweise passiert.
Brinks: Genau das würde ich so unterschreiben. Wir brauchen da einfach viel mehr Wissen und viel mehr Einsicht in diesem Bereich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.