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Arbeits- und Sozialpolitik
Heil (SPD): Mindestlohn-Erhöhung wird Tarifgefüge in Deutschland stabilisieren

Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro ab Oktober als angemessen verteidigt. Diese allein reiche aber nicht angesichts der aktuellen Preissteigerungen. Eine Sozialpolitik, die die Gesellschaft zusammenhalte, brauche gezielte Entlastung der Bürger und einen starken Sozialstaat.

Hubertus Heil im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 03.06.2022
Hubertus Heil (SPD), Bundesminister für Arbeit und Soziales, Mitte Mai 2022 im Deutschen Bundestag
Hubertus Heil (SPD), Bundesminister für Arbeit und Soziales (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
Ab Oktober 2022 soll in Deutschland ein Mindestlohn von 12 Euro pro Arbeitsstunde gelten; ab 1. Juli soll er in einem ersten Schritt zunächst auf 10,45 Euro steigen. Nach den Worten von Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD) immer noch kein guter Lohn, sondern "die absolute Untergrenze". Im Dlf-Interview kurz vor dem entsprechenden Bundestagsbeschluss erklärte Heil, diese nötige Erhöhung werde ein Stück "mehr Armutsfestigkeit" und eine Stabilisierung des gesamten Tarifgefüges in Deutschland bringen.
Der Mindestlohn müsse sich auch weiter entwickeln, so der Minister, im Sommer 2023 werde die zuständige Mindestlohnkommission einen Vorschlag für eine weitere Erhöhung vorlegen. In der Regel sei und bleibe es aber Aufgabe der Gewerkschaften und Arbeitgeber, Löhne zu verhandeln. Arbeitgebervertreter hatten die Anhebungspläne als "Angriff auf die Tarifautonomie" kritisiert.

Heils sozialpolitischer "Dreiklang"

Die Erhöhung sei aber nur eine von vielen Maßnahmen einer Sozialpolitik, die die Gesellschaft zusammenhalte, erklärte Heil im Dlf. Nötig seien ferner ein "starker Sozialstaat" und "gezielte Entlastung" der Bürgerinnen und Bürger im Angesicht aktueller und künftiger Preissteigerungen. Dafür müssten sich Gewerkschaften, Arbeitgeber und der Staat sich zusammensetzen.
Die Politik müsse auch über das jüngste Entlastungspaket hinaus weitere Schritte zur Unterstützung insbesondere für Menschen mit mittleren und geringen Einkommen unternehmen, und zwar in einer "konzertierten Aktion", so der Minister.
Das Interview im Wortlaut:
Tobias Armbrüster: Herr Heil, weiß der Staat am besten, welches Gehalt das richtige ist?
Hubertus Heil: Nein! In der Regel ist es so, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber Löhne verhandeln sollen. Aber wir haben erlebt, dass das in vielen Bereichen nicht mehr geklappt hat, und deshalb ist der gesetzliche Mindestlohn 2015 eingeführt worden und wir werden ihn heute auf zwölf Euro ab 1. Oktober erhöhen. Davon werden sechs Millionen Menschen in Deutschland profitieren. Das ist eine Lohnerhöhung für viele um 22 Prozent und das ist in diesen Zeiten auch bitter nötig.
Armbrüster: Jetzt steigt allerdings der Mindestlohn immer weiter, haben wir in den letzten Monaten ja auch erlebt. Werden möglicherweise irgendwann Tarifverhandlungen unnötig?
Heil: Nein! Im Gegenteil! Der Mindestlohn ist eine gesetzliche Lohnuntergrenze und die Stimmen dagegen gab es ja auch schon 2015, auch von Herrn Kampeter, den Sie eben gehört haben. Der war gegen den Mindestlohn. Jetzt muss er steigen, weil wie gesagt wir sehr, sehr viele Beschäftigte haben, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, vor allen Dingen Frauen, viele Beschäftigte in Ostdeutschland, die keinen Tarifvertrag haben. Ich war gestern in einem Friseurgeschäft hier in Berlin. Da sagt mir die Geschäftsführerin oder die Meisterin des Unternehmens, es ist vernünftig, dass der Mindestlohn steigt, meine Leute haben einen anständigen Lohn verdient, ich brauch auch fairen Wettbewerb gegenüber anderen Unternehmen und das ist ein wichtiger Schritt. Es geht um Respekt der Gesellschaft für ordentliche Arbeit. Es geht um konkrete Lohnverbesserungen. Um es im praktischen Beispiel zu machen: Wer im Moment auf Basis des bisherigen Mindestlohns brutto 1.700 bei Vollzeit verdient kriegt jetzt 2.100 mit dem gesetzlichen Mindestlohn. Das ist auch noch kein Reichtum, aber eine gute Lohnuntergrenze. Und wir tun auch mehr, damit es wieder mehr Tarifverträge gibt, indem wir beispielsweise als Koalition auch dafür sorgen, dass öffentliche Aufträge des Bundes daran gebunden werden, dass nach Tarif bezahlt wird.
Armbrüster: Herr Heil, in Zeiten wie diesen zwölf Euro pro Stunde, ist das ein guter Lohn?
Heil: Nein, das ist die absolute Lohnuntergrenze. Aber es spielt ja darauf an, wie die Preisentwicklung ist, und ich weiß, dass das vielen, vielen Menschen Sorgen macht, dass die Preise so stark steigen, vor allen Dingen durch Putins Krieg, durch gestiegene Energie- und Lebensmittelpreise vor allen Dingen. Deshalb brauchen wir einen Dreiklang in dieser Zeit, um die Gesellschaft sozial zusammenzuhalten. Es geht um angemessene Lohnerhöhungen. Dazu trägt der Mindestlohn bei. Es geht auch um gezielte Entlastungen, wie die Bundesregierung sie in diesem Jahr mit 30 Milliarden Euro gezielt für untere und mittlere Einkommen umgesetzt hat. Es geht auch um einen starken Sozialstaat. Es ist heute der Tag, an dem der Bundestag auch beschließen wird, dass die Renten angemessen steigen, um 6,1 Prozent in Ostdeutschland, um 5,3 Prozent im Westen. Das ist ein wichtiges Signal in diesen schwierigen Zeiten, damit vor allen Dingen Menschen mit unteren und mittleren Einkommen über die Runden kommen.

"Es ist die Lohnuntergrenze"

Armbrüster: Herr Heil, in Sachen Rente habe ich gleich auch noch eine Frage an Sie, aber bleiben wir zunächst mal beim Mindestlohn. Die Inflation bleibt ja, so wie es gerade aussieht. Können wir dann sagen, die nächste Anhebung des Mindestlohns ist schon in Mache?
Heil: Der Mechanismus ist so, dass der Mindestlohn jetzt zum 1. Juli erst mal auf 10,45 Euro steigen wird, zum 1. Oktober auf 12 Euro. Dann wird die Mindestlohnkommission im nächsten Sommer einen Vorschlag machen, wie es weitergeht, denn klar ist, der Mindestlohn muss sich weiterentwickeln. Das ist auch angelegt. Aber er ist die Lohnuntergrenze.
Gleichzeitig sind Gewerkschaften und Arbeitgeber gefragt, für angemessene Lohnerhöhungen zu sorgen. Der Bundeskanzler hat ja angekündigt, mit der konzertierten Aktion gegen Preisdruck Gewerkschaften, Arbeitgeber und Staat an den Tisch zu bringen, damit wir gemeinsam beraten, was getan werden muss in diesen schwierigen Zeiten, um gegen den Preisdruck auch wirksam vorgehen zu können.
Armbrüster: Wurde die Mindestlohnkommission eigentlich bei dieser Entscheidung von zwölf Euro jetzt gefragt?
Heil: Nein. Das ist eine Entscheidung des Gesetzgebers. Aber der Gesetzgeber, weil es eine gesetzliche Regelung ist, hat auch den Spielraum, das rechtlich zu tun. Und ich sage noch mal: Ich kann mich erinnern 2015, wer gegen den Mindestlohn war. Das sind dieselben Leute, die jetzt sich beklagen. Die hätten aber einen Beitrag dazu leisten können, dass Löhne besser steigen. Haben sie nicht getan und deshalb kann der Staat nicht tatenlos zugucken, dass sehr, sehr fleißige Menschen, die jeden Tag hart arbeiten, aber zu nicht armutsfesten Mindestlöhnen über die Runden kommen müssen, und deshalb ist das auch ein Stück gegen mehr Armutsfestigkeit in der Lohnfügung.
Armbrüster: Das heißt, dann muss man als Staat, als Regierung den Mindestlohn festsetzen und den Arbeitgebern so präsentieren?
Heil: Nein, es geht tatsächlich darum, dass in der Regel in Deutschland wie gesagt es Aufgabe von Gewerkschaften und Arbeitgebern ist. Aber wir brauchen eine Lohnuntergrenze. Die brauchten wir vor 30, 40 Jahren nicht in Deutschland. Da gab es noch eine höhere Tarifbindung. Aber die Lohnuntergrenze ist notwendig. Das wird übrigens das gesamte Tarifgefüge auch in Deutschland stabilisieren. Und das ist unsere Aufgabe, nicht tatenlos zuzugucken an dieser Stelle. Die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro ist auch keine willkürliche Zahl, sondern das entspricht ungefähr 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland, und das ist auch das, was in Europa diskutiert wird, wenn es zum Beispiel um nationale Mindestlöhne geht, um einen europäischen Rahmen für Mindestlöhne. 60 Prozent des mittleren Einkommens ist ein guter Maßstab für armutsfestere Mindestlöhne.
Armbrüster: Das hat die Mindestlohnkommission nicht verstanden? Deshalb haben Sie sie nicht eingeschaltet?
Heil: Nein! Die Mindestlohnkommission hat in den letzten Jahren gute Arbeit gemacht. Aber wir haben vor der Bundestagswahl gesagt, wir brauchen diesen Sprung. Olaf Scholz hat vor einem Jahr als Kanzlerkandidat das gesagt und dafür haben wir auch ein demokratisches Mandat bei der Bundestagswahl bekommen. Wir machen das, was wir vor der Wahl gesagt haben, und setzen das um. Vielleicht ein Unterschied zur CDU, die noch vor der NRW-Landtagswahl angekündigt hat, dass sie auch für zwölf Euro ist und sich heute im Bundestag heldenhaft enthält. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen wissen, auf wen sie sich in Deutschland verlassen können, gerade in diesen Zeiten.

Rentenerhöhung durch "gute Lage am Arbeitsmarkt"

Armbrüster: Herr Heil, Sie wollen heute außerdem dafür sorgen, dass die Renten kräftig steigen. Die sollen angehoben werden, darüber wird der Bundestag ebenfalls abstimmen: Fünf Prozent im Westen, sechs Prozent im Osten. Aber die Energiepauschale, die bekommen die Rentner nicht. Warum eigentlich nicht?
Heil: Zum einen ist es wichtig, dass in diesen Zeiten das Rentensystem gut funktioniert. Die Erhöhung, von der Sie gesprochen haben, von 5,3 Prozent im Westen und 6,1 Prozent im Osten ist der Tatsache geschuldet, dass wir eine gute Lage am Arbeitsmarkt haben. Auch das war nicht selbstverständlich. Wir haben ja die Corona-Pandemie gehabt. Das schlägt sich jetzt in den Rentenerhöhungen auch nieder.
Armbrüster: Das heißt, die Renten steigen so gut, dass man das mit der Energiepauschale lassen kann?
Heil: Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich weiß, wie Rentnerinnen und Rentner belastet sind, aber es ist erst mal wichtig, dass die Renten angemessen steigen in diesem Jahr. Im Gesamtpaket sind auch Verbesserungen für Rentnerinnen und Rentner dabei. Ich erinnere an die Abschaffung der EEG-Umlage. Die gilt für alle, für Wirtschaft, Beschäftigte, Rentnerinnen und Rentner. Ich erinnere daran, dass tatsächlich auch der Heizkostenzuschuss vielen Menschen hilft, die Rentnerinnen und Rentner sind und Wohngeldempfängerinnen und Wohngeldempfänger sind. Trotzdem: Es haben sich viele geärgert und deshalb ist es richtig, dass wir neben dem Entlastungspaket, das jetzt in diesem Jahr, in diesem Sommer wirksam ist und jetzt erst in den Taschen von Menschen auch ankommt über den Sommer, in der konzertierten Aktion darüber beraten, was an weiteren Schritten notwendig ist, um für Menschen mit mittleren und geringen Einkommen – und das sind Rentnerinnen und Rentner ganz oft, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch Studierende und Azubis – dafür zu sorgen, dass in diesen Zeiten man über die Runden kommt und die Gesellschaft sozial zusammenbleibt.
Armbrüster: Warum haben Sie nicht einfach gesagt, die Energiepauschale gibt es auch für Rentnerinnen und Rentner?
Heil: Ich will noch mal sagen, die Energiepauschale, die übrigens Energiegeld heißt, die wirksam wird, geht an Beschäftigte. Das hat was mit der Steuersystematik zu tun. Aber im Gesamtpaket sind Maßnahmen für Rentnerinnen und Rentner dabei. Trotzdem: Der Ärger ist deutlich geworden und deshalb geht es jetzt nicht nur darum, darüber nachzudenken, was in diesem Jahr notwendig ist, sondern wir müssen als Gesellschaft dafür sorgen, dass der Preisdruck, der wahrscheinlich länger bleiben wird, in dieser Gesellschaft fair getragen werden kann. Das geht nicht mit der Gießkanne. Aber gezielt für Menschen mit geringen und normalen Einkommen etwas zu tun, für Rentnerinnen und Rentner, für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, das finde ich richtig, und als Arbeits- und Sozialminister werde ich meinen Beitrag dazu leisten, dass in diesen Zeiten wir sozial zusammenbleiben.

"Der Staat kann nicht für alle alles ausgleichen"

Armbrüster: Herr Heil, da kommt jetzt in diesen Tagen eine ganze Menge an Zahlungen, an Mehrfachzahlungen, an Einmalzahlungen zusammen. Das Energiegeld haben wir schon angesprochen, den Tankrabatt haben wir noch gar nicht beleuchtet, viele andere Zahlungen auch. Geht das? Kann der Staat mit solchen Zuwendungen gegen die Folgen der Inflation ankämpfen?
Heil: Nein, der Staat kann nicht für alle alles ausgleichen. Wir haben eine weltwirtschaftliche Entwicklung. Ich habe letzte Woche in Wolfsburg die G7-Arbeitsminister zusammengehabt. Die haben alle das gleiche Problem, steigende Preise durch Putins Krieg, durch den Energiehunger auf der Welt, durch knappe Energieressourcen, durch Lebensmittelpreise, die weltweit steigen, übrigens in den ärmsten Ländern ganz dramatisch. Aber wir müssen gezielt in unserem Land dafür sorgen, dass wir die Menschen mit normalen und geringen Einkommen im Blick haben. Ich habe es vorhin gesagt: Dazu müssen alle einen Beitrag leisten, Wirtschaft, Gewerkschaften und der Staat. Der Dreiklang ist angemessene Lohnerhöhungen, gleichzeitig dafür zu sorgen, dass es gezielte Entlastungen gibt, und, dass der Sozialstaat da, wo er gefragt ist, bei beispielsweise Rentnerinnen und Rentnern, aber auch bei Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, seinen Beitrag leistet. Dieser Dreiklang ist es, der in der konzertierten Aktion eine Rolle spielt, die der Bundeskanzler einladen wird. Gewerkschaften, Arbeitgeber und Staat müssen an den Tisch, damit wir in diesen Zeiten unsere Gesellschaft zusammenhalten.
Wenn ein Pfund Butter jetzt drei Euro kostet, dann ist das für Menschen mit einem sehr, sehr hohen Einkommen wie bei mir zum Beispiel sehr ärgerlich, aber ich kann das tragen. Nur für Menschen mit normalen, vor allen Dingen für Menschen mit geringen Einkommen, die keinen sozialen Puffer haben, die keine Rücklagen haben, ist das eine existenzielle Belastung. Deshalb geht es um diesen Dreiklang von angemessenen Löhnen, von gezielten Entlastungen und von einem starken Sozialstaat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.