Donnerstag, 25. April 2024

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Lehren aus der Corona-Pandemie
Wirkung von nicht-pharmazeutischen Maßnahmen besser untersuchen

Maskenpflicht, Schulschließungen, keine Großveranstaltungen – das waren die entscheidenden Maßnahmen, die in der ersten Welle der Pandemie das Infektionsgeschehen eingedämmt haben. Es gab weder Impfstoffe noch Medikamente. Leider ist immer noch unklar, was genau die einzelnen Mittel bewirkt haben.

Von Volkart Wildermuth | 03.06.2022
21.03.2022, Mindelheim im Unterallgäu, Symbolbild: Eine Frau wirft ihre FFP2-Maske weg, bald soll die Maskenpflicht ende
Nicht-pharmazeutische Maßnahmen wie die Maskenpflicht wirken wenig glamourös. Doch sie spielten eine entscheidende Rolle bei der Pandemie-Bekämpfung, sagt Udo Buchholz, der beim Robert Koch Institut für den Bereich Infektionserkrankungen der Atemwege zuständig ist. (IMAGO/MiS)
Impfstoffe und Medikamente stehen im Rampenlicht, wenn es um den Kampf gegen Corona geht. Die sogenannten nicht-pharmazeutischen Maßnahmen wirken dagegen weniger glamourös. Doch sie spielten eine entscheidende Rolle bei der Pandemie-Bekämpfung, sagt Udo Buchholz, der beim Robert Koch Institut für den Bereich Infektionserkrankungen der Atemwege zuständig ist: „Insbesondere im ersten Jahr. Da standen die pharmakologischen Maßnahmen, also insbesondere die Impfstoffe, natürlich noch nicht zur Verfügung. Da standen die nicht-pharmakologischen im Vordergrund und haben auch eine ganze Menge erreichen können.“
Die nicht-pharmakologischen Maßnahmen wirken über Verhaltensänderungen, die Infektionsketten unterbrechen, erklärt die Münchner Public-Health Forscherin Eva Rehfuess: „Also zum Beispiel zielt die verpflichtende Homeoffice Regelung, die wir lange erlebt haben, primär darauf ab, Kontakte zu reduzieren. Wenn man dann aber zusätzlich eine Maskenpflicht am Arbeitsplatz hat, dient die dazu, die weiterhin stattfindenden Kontakte so sicher wie möglich zu gestalten.“

Wirksamkeit einzelner Maßnahmen schwer zu ermitteln

Rehfuess hat entscheidend an der besonders gut dokumentierten Leitlinie „Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV-2-Übertragung in Schulen“ mitgewirkt. „Insgesamt gibt es bei nicht-pharmazeutischen Maßnahmen drei Grundregeln. Die Maßnahmen wirken durch ihr Zusammenspielen im Maßnahmenpaket. Maßnahmen müssen immer wieder für jeden Kontext – zum Beispiel Kultur und Sportveranstaltungen, Schulen, Kindergärten –, aber auch für die jeweilige Phase einer Pandemie angepasst werden. Und drittens können Maßnahmen nur dann wirken, wenn sie machbar sind und richtig umgesetzt werden.“
Genau diese drei Aspekte machen es aber auch schwer, die Wirksamkeit einer einzelnen Maßnahme – also etwa der Maskenpflicht im Klassenzimmer – exakt zu ermitteln. Es kommt eben auch darauf an, ob es in der Schule auch Lerngruppen gibt, welche Virusvariante gerade in Umlauf ist und ob sich überhaupt alle an die Vorgaben halten und zum Beispiel wirklich einen Test vor Unterrichtsbeginn machen. Vielleicht sind die vielen Einflussfaktoren ein Grund, warum auf diesem Gebiet überhaupt wenig geforscht wird. Die Bessi-Collaboration zur Erforschung sozialer, Umwelt- und Verhaltens-Pandemiemaßnahmen zählt aktuell nur 18 veröffentlichte Studien aus diesem Bereich, aber 974 zu Impfstoffen oder Medikamenten. 
„Das verblüfft angesichts der Rolle von nicht-pharmazeutischen Maßnahmen in der Kontrolle der Pandemie und angesichts ihrer ganz vielfältigen Auswirkungen auf unseren Alltag, aber auch auf die Wirtschaft doch sehr, sagt Eva Rehfuess.

Lockdown am effektivsten - mit sozialen und wirtschaftlichen Folgen

Klar ist: Ein Lockdown wirkt am effektivsten, weil er fast alle sozialen Kontakte unterbindet. Restaurant-Schließungen allein halbierten in den USA in der ersten Welle die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Coronavirus. In der Folge mussten allerdings viele Betriebe dauerhaft aufgeben.
Der Effekt von Schulschließungen ist nachweisbar, aber geringer. Sie führten als Nebenwirkung zu Lernrückständen, vor allem fehlten den Schülerinnen und Schüler die sozialen Kontakte. Auf der individuellen Ebene können Mund-Nasen-Schutzmasken das Ansteckungsrisiko stark verringern. Was heute klar belegt ist, wurde allerdings zu Beginn der Pandemie von vielen wissenschaftlichen Organisationen bestritten. Retrospektiv betrachtet ein klarer Fehler. Eva Rehfuss erklärt ihn damit, dass damals einfach noch zu wenig über das Coronavirus bekannt gewesen sei: „Und deshalb ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass sich unser Wissensstand und dementsprechend auch manche Empfehlungen immer wieder gewandelt haben.“

Als Ideale Versuchsanordnung gelten Placebo-kontrollierte Studien

Künftig schneller belastbare Daten zur Wirkung von nicht-pharmazeutischen Maßnahmen zu gewinnen – das ist sicher eine wichtige Lehre aus der Corona-Pandemie. Doch in der Praxis ist das schwierig. Als ideale Versuchsanordnung gelten Placebo-kontrollierte Studien, für die in einem Bezirk beispielsweise die Schulen geschlossen werden, während sie nebenan offenbleiben. Das aber wäre als wissenschaftliches Experiment politisch kaum durchzusetzen.
Udo Buchholz plädiert deshalb dafür, vermehrt Zufälle für die Forschung zu nutzen. In einem britischen Gesundheitsamt zum Beispiel gab es einen Softwarefehler, der dazu führte, dass die Kontakte von Infizierten nicht informiert werden konnten. In der Folge stiegen die Fallzahlen dort dann schneller an, als in den Nachbarbezirken - ein klarer Hinweis: Die Kontaktverfolgung wirkt! „So was kann man natürlich nicht planen. Aber da muss man dann die Gelegenheit beim Schopf packen und sagen: Okay, das schauen wir uns jetzt mal an und werten das Ganze aus", so Buchholz.

Prüfen, ob Infektionsschutzmaßnahmen auch umgesetzt werden

Wichtig ist aus der Sicht des RKI-Forschers Udo Buchholz auch, parallel zur Einführung von Infektionsschutzmaßnahmen zu untersuchen, inwieweit sie auch umgesetzt werden. Bei den Kitas etwa hat das Deutsche Jugendinstitut systematisch nachgefragt. Buchholz: „Auf diese Art und Weise konnte man sehr gute Aussagen machen, welche Faktoren da wirklich entscheidend waren. Und so was gab es eben leider Gottes auf Schulebene nicht.“
Damit es in Zukunft besser läuft und die Entscheidungsträger schneller Klarheit bekommen, welche Maßnahmen im Einzelfall sinnvoll sind und welche nicht, fordert die Public-Health-Expertin Eva Rehfuess: „Wir brauchen Forschungskonzepte, Protokolle, Ethikanträge, die dann bei einer neuen Krise schnell aus der Schublade geholt und umgesetzt werden können.“
Die Weltgesundheitsorganisation arbeitet gerade an Standards für Studien zum Zusammenhang zwischen Gesundheit und sozialen Maßnahmen. Sie sollen globale Vergleiche zwischen verschiedenen Ansätzen ermöglichen. Dafür braucht es allerdings Geld. Pharmaunternehmen wurden von den Regierungen weltweit aus guten Gründen großzügig unterstützt. „Wir haben eben kein vergleichbares Investment in die Maßnahmen gesehen, die uns eigentlich alle im Alltag enorm beschränkt und betroffen haben", sagt Eva Rehfuess.