Ohnmacht- Eine (nicht nur) politische Todsünde
Von Mathias Greffrath
Die Erfahrung von Ohnmacht wird gern verdrängt. Schon Kinder erzählen nicht gern, wenn sie von Mitschülern verprügelt wurden. So beginnt die Karriere der Ohnmacht. Sie reicht bis hinein ins Politische, in die Erfahrung eigener Wirkungslosigkeit.
Ohnmacht kann man sogar beobachten beim weltweiten Einknicken gewählter Politiker vor den Machenschaften, der Gier, der psychotischen Brutalität der neuen Usurpatoren und Diktatoren von Washington über Budapest bis Moskau.
Zwischen diesen Extremen liegt das weite Feld der gewöhnlichen Machtvergessenheit in der Politik, der notorischen Berufung auf Sachzwänge, Budgetknappheit oder fehlende Zuständigkeit bei der Vernachlässigung des Notwendigen. Im bürgerlichen Alltag ist es das Akzeptieren unerträglicher Zumutungen: im Mietverhältnis, in der Rüpelhaftigkeit von Halbwüchsigen, dem rigiden Formalismus von Bürokraten, der Blasiertheit von Verkäufern, und nicht zuletzt im resignierten Ertragen der digitalen Zurichtung von allen und allem.
„Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt“ - dem alten Spontispruch stimmen alle gern zu - aber wer besteht vor ihm? Die Geschichte der Neuzeit beginnt mit der Aufforderung, die freiwillige Knechtschaft abzulegen, aber sie erneuert sich mit jeder neuen Generation, und das beginnt in der Kinderstube, in der Schule, in der Elitenherrschaft. So raumgreifend und so total, dass wir es jeden Tag verdrängen, um uns nicht immer schämen zu müssen.
Mathias Greffrath, Jahrgang 1945, ist Soziologe und Journalist. Er lebt in Berlin, arbeitet unter anderem für die „taz", die „ZEIT" und den Rundfunk. In den letzten Jahren hat er sich in Essays, Hörspielen und Kommentaren mit den sozialen und kulturellen Auswirkungen von Globalisierung und Klimawandel beschäftigt.