Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Tolle Idee! Was wurde daraus?
Textilfasern aus Brennnesseln

Schon seit Jahrtausenden werden Brennnesseln als Rohstoff für Textilien genutzt. Ihre Fasern sind atmungsaktiv, reißfest und besonders fein. Weil das Material auch ökologisch punkten kann, versuchen Unternehmen immer wieder mal, es kommerziell zu nutzen. Eine Produktion im großen Stil steht aber noch aus.

Von Andrea Hoferichter | 09.08.2022
Brennnessel-Ernte: Brennnesseln werden in einem Korb gesammelt
Große Brennnessel, Urtica dioica (picture alliance / blickwinkel/Frank Hecker)
Wenn Heiko Beckhaus nach neuen Anbauflächen für Brennnesseln sucht, um daraus Textilien herzustellen, stößt er schon mal auf Unverständnis:
„Das kann man nicht für Textilien gebrauchen, das brennt ja und so weiter. Völliger Unsinn. Es ist die weichste, elastischste, vor allem atmungsaktivste Faser – und reißfest.“

Die Idee, das Gartenunkraut als nachhaltigen Rohstoff für die Textilindustrie in Deutschland anzubauen und aufzubereiten, hatte der pensionierte Chemiker und Geschäftsführer der NFC Nettle Company im niedersächsischen Dahlenburg schon vor gut zehn Jahren. Heute lagern Brennnesselfasern in unzähligen Körben und Tüten in einer Art Gästehaus auf seinem Privatgrundstück: „Das ist alles Nesselstroh. Das ist so ein Halm. Und wie Sie sehen: Da ist außen die Faser.“

Schon vor Jahrtausenden haben Menschen diese Faserbündel von Hand in einzelne Fasern getrennt, um daraus zum Beispiel Tücher zu fertigen, sagt Beckhaus: „Die haben das mit den Fingernägeln so gezogen. Und wenn Sie das ein paar Mal machen, dann spleißt das auf. Und am Ende sehen Sie dann, wie fein die Fasern sind. Hier: Ist im Grunde feiner als unser Haupthaar.“

Die Faserproduktion zu industrialisieren, ist bisher allerdings nicht gelungen. Allein in Europa mussten mindestens zwei Unternehmen, die es versucht hatten, aufgeben, darunter die Stoffkontor Kranz AG in Lüchow, für die Heiko Beckhaus zum Schluss als Berater tätig war. Seine Analyse: Weder die Pflanzen, noch die Anbaumethode und Aufarbeitungstechnik waren ausgereift genug. Diese Probleme will der Unternehmer nun aber gelöst haben, auch dank eines Verbundprojekts der Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe, an dem auch Züchtungsforscher beteiligt waren.

Neue Pflanzen, neue Technik

Heute kann Heiko Beckhaus mit einer Fasernessel arbeiten, die etwa 20 Prozent Fasern enthält, statt nur zwei bis vier Prozent wie gewöhnliche Brennnesseln. Gemeinsam mit einem Partnerunternehmen entwickelte er zudem eine Hammermühle mit dosierbarer Schlagkraft, um die Fasern möglichst schonend vom holzigen Rest zu trennen. Und er optimierte eine Methode, das Lignin zu entfernen, das die Fasern wie ein Kleber zusammenhält: „Diese Faserstränge können wir auflösen, indem wir das Lignin entfernen. Und das machen wir in einem Verfahren, dass wir das Lignin auflösen, sehr, sehr schonend, indem wir das unter Druck abkochen.“

Etwa zeitglich mit Heiko Beckhaus startete auch der Textilhersteller Mattes und Ammann in Baden-Württemberg ein Brennnesselprojekt. 2015 verarbeitete das Unternehmen Fasern von einem 10-Hektar-Testfeld in Ungarn. Doch für eine industrielle Produktion sei das Kundeninteresse noch zu klein, sagt Verkaufsdirektor Werner Moser. Dafür wären Abnahmegarantien für den Ertrag von rund 1000 Hektar nötig und Investitionen von etwa 50 Millionen Euro in neue Produktionsanlagen.

Moser: „Wir selber als Mittelständler werden das allein nicht stemmen können. Also auch hier brauche ich unsere Kunden dazu. Aber auch hier ist dieses Thema Nachhaltigkeit dann oftmals nur ein Lippenbekenntnis. Weil die Beteiligung an einem solchen Invest: Diese Bereitschaft war oder ist einfach noch nicht da.“

Zellulose aus Brennnessel

Aufgeben will Mattes und Ammann aber nicht. Am Deutschen Institut für Textil- und Faserforschung in Denkendorf wird gerade geprüft, ob sich die Brennnesselstängel möglichst umweltschonend in Zellulosefasern umwandeln lassen, ähnlich wie aus Holz Viskose gewonnen wird.

„Zu dieser Technologie gibt es bereits die Anlagen, die Verfahrenstechnik, in Europa. Also das heißt, wir bräuchten hier, in Anführungszeichen, nur noch die Ackerfläche. Wenn das gelänge, dann könnten wir vielleicht auch den einen oder anderen Landwirt dazu gewinnen, überzeugen oder unsere Kunden: ‚Komm lass uns mal im größeren Maßstab die Brennnessel anbauen.‘“

GOTS-zertifizierte Fasern

In Dahlenburg setzt Heiko Beckhaus weiterhin auf seine Natur-Nesselfasern. Das Unternehmen verkauft die mit dem Textil-Biosiegel GOTS zertifizierten Produkte zum Beispiel als Wärmeisolierung für Bettdecken oder Wetterjacken. Gekürzte Fasern werden zudem mit Baumwolle zu einem modetauglichen Mischgarn verarbeitet. 12 Hektar Fläche sind zurzeit für den Nesselanbau reserviert.

Zwar sind die Nesselfasern teurer als solche aus Baumwolle oder Hanf, doch Heiko Beckhaus glaubt an den Erfolg, weil das Thema Nachhaltigkeit auch in der Textilindustrie an Bedeutung gewinnt: „Das Kapital ist jetzt vorhanden, aber ich kann das nicht alles gleichzeitig. Deswegen wollen wir jetzt Jahr für Jahr in Deutschland wachsen. Wir wollen wirklich nicht nur die Renaissance einläuten, sondern auch machen.“

Die Standortsuche für neue Produktionsanlagen und Nesselfelder läuft bereits.