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Sorgen vor Atomwaffen
Was kann der Raketen-Abwehrschirm der NATO?

Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine wächst die Sorge vor einem Einsatz von Atomwaffen. Die NATO hat einen Abwehrschirm gegen nukleare Angriffe installiert, er besteht aus mehreren sich ergänzenden Systemen. Doch die sind durchaus anfällig für Fehler, und es kann einiges schiefgehen.

Von Frank Grotelüschen |
Deutsche Soldaten stehen im Jahr 2014 in der Türkei neben einem  "Patriot" Raketenabwehrsystem.
Deutsche Soldaten 2014 in der Türkei vor einer Patriot-Rakete, zum Schutz vor Angriffen aus Syrien. (DPA / Bernd von Jutrczenka)
Im Informationsfilm der NATO ist das mit dem Abwehrschirm gegen Atomraketen eigentlich ganz einfach: Der Start einer feindlichen Rakete wird erfasst, ihre Flugbahn wird verfolgt, und dann schießt eine Abwehrrakete den Eindringling ab, bevor der nukleare Sprengkopf detonieren kann.
In der Praxis sieht das allerdings teils anders aus. Zunächst das Konzept: „Es gibt einen Frühwarn-Satelliten, der meldet einen Raketenstart durch das Infrarotsignal“, beschreibt Götz Neuneck, Sprecher des Arbeitskreises Physik und Abrüstung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. „Die anfliegende Rakete wird verfolgt. Und wenn Brennschluss ist, kann berechnet werden, wohin diese Rakete genau fliegt. Dann kann man den Abfang-Flugkörper in die Richtung des Sprengkopfs starten, der auf ein Land zufliegt. Und diese Abfang-Flugkörper, wenn sie richtig zum Ziel geleitet werden, kollidieren mit dem anfliegenden Sprengkopf und zerstören ihn – so die Theorie.“
Von diesen Raketenschilden gibt es gleich mehrere, zum Teil ergänzen sie sich: Da wäre zum einen das amerikanische National Missile Defense System, es soll die USA vor Angriffen schützen. „Das ist gegen strategische Systeme, die außerhalb der USA abgeschossen werden“, so Neuneck. „Also im wesentlichen Interkontinentalraketen mit einer Reichweite zwischen 5.000 und 10.000 Kilometern.“

Stationiert in Rumänien und bald Polen

Ein weiteres System heißt Aegis und richtet sich gegen Mittel- und Kurzstreckenraketen. Es ist auf mehreren NATO-Schiffen stationiert - in Rumänien und bald auch in Polen. Im Prinzip sind diese Systeme stets einsatzbereit, das ganze Jahr über rund um die Uhr, müssen also in der aktuellen Lage nicht eigens in Alarmbereitschaft versetzt werden. Hinzu kommen Systeme wie Patriot. Sie sind vor allem dazu gedacht, feindliche Flugzeuge abzuschießen, können im Prinzip aber auch mit taktischen Atomsprengköpfen bestückte Raketen und Marschflugkörper abwehren.
Anders als bei den ballistischen Raketen, die die Atmosphäre verlassen und zum Teil durchs All fliegen, könnte man die Sprengköpfe nicht im Weltraum unschädlich machen, sondern in Bodennähe – mit der Folge, dass die Bombe zwar nicht explodieren, sich das radioaktive Waffenmaterial aber irgendwo verteilen würde.

Maximal 25 Minuten Zeit

Eines aber ist all diesen Raketenschirmen gemein: Sie müssen relativ schnell reagieren. Denn viel Zeit für eine Reaktion bleibt nicht. „Das kann alles zwischen fünf Minuten und 25 Minuten sein, wo man dann entscheiden muss, seine Abfangraketen zu starten“, erläutert der Friedensforscher Jürgen Altmann von der TU Dortmund.
Zum Einsatz gekommen sind diese Systeme bislang nicht, schließlich gab es seit dem Zweiten Weltkrieg keine Atomangriffe mehr. Doch sie wurden natürlich getestet, mit unterschiedlichem Erfolg. Altmann: „Es hat für diese verschiedenen Systeme immer mal wieder Test-Misserfolge gegeben, aber auch Testerfolge.“
Eine Versuchsrakete eines US-Raketenabwehrschildes, gestartet vom US-Luftwaffenstützpunkt Vandenberg.
Eine Versuchsrakete eines US-Raketenabwehrschildes, gestartet vom US-Luftwaffenstützpunkt Vandenberg. (MDA)

Durchaus anfällig für Fehler

Denn bei der Atomraketen-Abwehr kann einiges schiefgehen, allein schon bei Start und Steuerung eines Abwehr-Flugkörpers: „Er startet nicht, er fliegt in die falsche Richtung“, sagt Götz Neuneck. „Das Steuersignal geht verloren. Es gibt einen Rechenfehler. All diese Dinge sind möglich.“ Und: Die Raketenschirme lassen sich durch Täuschmanöver austricksen. So kann die angreifende Rakete zusätzlich zu den Sprengköpfen auch Dutzende von Attrappen mit sich führen. Und die werden dann gleichzeitig mit den Sprengköpfen freigesetzt.
 „Dann kommt da vielleicht eine Wolke von 50 Objekten an, die man auf dem Radar nicht unbedingt voneinander unterscheiden kann“, erklärt Jürgen Altmann. Selbst wenn man zehn Abfangraketen starten würde, müsste man die mehr oder weniger zufällig auf zehn dieser 50 anfliegenden Objekte lenken, und von denen ist dann vielleicht gerade nicht der echte Sprengkopf dabei. Dieses Attrappen-Problem ist ein sehr großes.“

Im Ernstfall maximal fifty-fifty Chance

Die Wahrscheinlichkeit, einen Atomsprengkopf mit einer Abfangrakete zu treffen, taxieren die Friedensforscher deshalb auf höchstens 50 Prozent, vielleicht aber auch viel weniger. Und das begrenzt das Einsatzfeld etwa des NATO-Raketenschirms für Europa doch recht deutlich. „Man hat eher darauf gesetzt, einzelne Raketen abzuwehren, die vielleicht aus Nordkorea kommen oder perspektivisch aus Iran“, sagt Altmann. „Wenn man eine einzige anfliegende Rakete hat und hat vielleicht zehn Abfang-Flugkörper, die man nacheinander abschießen kann, um sie auf jeden Fall zu erreichen, gibt es durchaus eine Chance, so etwas zu treffen und dann die Rakete im Anflug zu zerstören, bevor sie eintreten und ihre nukleare Explosion zünden kann.“
Ähnliches könnte auch für eine versehentlich abgefeuerte Rakete gelten. Vor einem wirklich massiven Atomangriff aber dürfte der NATO-Raketenschirm nur einen sehr begrenzten Schutz bieten.