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Ausgrabungen von mittelalterlichen Toiletten
Was die Kölner Latrinen erzählen

So manches Geheimnis kommt in historischen Latrinen wieder ans Tageslicht. Köln ist in dem Punkt sehr ergiebig, denn im Mittelalter zählte die Hansestadt zu einem der bedeutendsten Orte Europas: Glas, Keramik, Siegel und Münzen, aber auch Pollen und Kerne verraten, wie die Menschen gelebt haben.

Von Barbara Weber |
Die Latrine 235 in der Ausgrabung am Kölner Waidmarkt
In der Latrine 235 am Kölner Waidmarkt fanden sich Wasserkrüge, die einst zum Säubern der Hände nach dem "Geschäft" dienten - aber auch Weingläser (Römisch-Germanisches Museum der Stadt Köln )
„Latrinen sind für uns sehr interessant, weil man da unmittelbar an der Ernährung des Menschen ist. Also alles, was durch den Menschen durchrutscht, landet in der Latrine.“ Tanja Zerl leitet ein Forschungsprojekt an der Universität Köln, bei dem im Labor für Archäobotanik Überreste aus historischen Latrinen untersucht werden. „Es riecht manchmal auch noch, das ist die unangenehme Seite.“

Aber darüber sieht die Archäologin gerne hinweg, denn eine Latrine kann fast alles verraten: wer sie genutzt hat, was gegessen wurde, was verloren ging, mit wem Handel getrieben wurde und zu welcher gesellschaftlichen Schicht ihre Nutzer gehörten, zumindest die Bessergestellten.
Vom unteren Bereich der gesellschaftlichen Skala finden Archäologen keine Latrinen - beispielsweise von denjenigen, die sie geleert haben, den Latrinenfegern, in Köln auch boshaft Goldgräber genannt. Die waren zu arm, um sich selbst eine Latrine zu leisten. Um mehr über diese Berufsgruppe zu erfahren, muss man woanders suchen.

Ein juristischer Streit aus dem Jahr 1612

Historisches Archiv der Stadt Köln. Max Plassmann hat sein Büro im Neubau erst kürzlich bezogen. „Das ist ein Archivkarton, in dem das Turmbuch 240 liegt. Das ist ein Protokollbuch von Verhören in den städtischen Gefängnissen - im 17. Jahrhundert in diesem Fall - wo wir ja tragische und weniger tragische Fälle von Kriminalität und auch von imaginierter Kriminalität nachvollziehen können.“

Der Historiker und Archivar hat sich weiße Handschuhe übergestreift. Er muss sich erst mal orientieren, denn leicht ist die Handschrift aus der Frühen Neuzeit nicht zu lesen:
„Anno 1612, auf Donnerstag, den 5ten April, hat Änn von Aich, Kurzform von Anna Relicta, die Witwe des Hans, auf Befragen des Turmmeisters und Statthalters auf dem Frankenturm bekannt, dass sie auf dem alten Graben in der Spielmannsgasse wohne. Ihr Mann sei ein Goldgräber gewest und vor drei Jahren in einem Turm so eingefallen, jämmerlich Tod geblieben, in einem Latrinenturm. Sie habe anher sich auch selbigen Berufes bedient, und weil der Meister solches nicht gestatten wolle, hätten Sie sich her gewesen, deswegen, gekiffen - gekeift, gestritten.“

Und deshalb hat sie ihn angezeigt. Der Meister, den Anna von Aich hier meint, ist der Scharfrichter. In Köln waren seit dem 15. Jahrhundert Latrinenfeger den Scharfrichtern direkt unterstellt. Scharfrichter kassierten Provision von der Summe, die der städtische Amtsmeister für die Latrinenleerung festgelegt hatte. Vermutlich erhielten die Latrinenfeger nur einen Bruchteil des ausgehandelten Salärs.
Blick auf eine noch nicht ausgehobene Latrine bei St. Gereon, Köln
Die dunkle Färbung deutet ganz richtig auf den einstigen Inhalt hin - immerhin fanden sich in dieser Latrine auch Siegelstempel eines Domherrn (Römisch-Germanisches Museum der Stadt Köln)

Archäologische Funde aus einst höchst anrüchigen Orten

Es war eine harte und gefährliche Arbeit. Latrinenschächte lagen hinter dem Haus, im hinteren Bereich des Grundstücks. Häufig teilten sich mehrere Häuser eine Latrine, die einen Durchmesser von bis zu vier Metern haben konnte und mehrere Meter tief war. Wegen des Gestanks durften die Latrinenfässer nur nachts außerhalb der Stadttore entleert werden. Doch manchmal hatten Latrinenfeger Glück, wenn sie in der Kloake den ein oder anderen wertvollen Gegenstand wie eine Münze entdeckten.

Solche seltenen Preziosen können Archäologen heute auch noch finden, wie zum Beispiel das Team von Thomas Höltken vom Römisch-Germanischen Museum in Köln. Die Wissenschaftler sortieren die Funde und lagern sie in den unterschiedlichen Magazinen. Eines dieser Magazine liegt direkt unter dem Museum. Von der angrenzenden Domplatte ist es mit einem Aufzug erreichbar.
Hinter einem Flur mit Steinartefakten öffnet der Archäologe eine Tür. In dem großen Kellerraum stehen Regale mit tausenden von Fundkisten der unzähligen Grabungen.
Auf einem Rollwagen hat der Wissenschaftler einige Kartons mit Latrinenfunden gestapelt, die aus anderen Magazinen kommen. Vorsichtig öffnet Thomas Höltken ein kleines Schächtelchen.
Siegelstempel
Siegelstempel aus den Latrinen bei St. Gereon (Römisch-Germanisches Museum der Stadt Köln / Rheinisches Bildarchiv)

Siegelstempel eines mittelalterlichen Domherrn

„Das sind die Typare, also die Siegelstempel, die bei Sankt Gereon gefunden wurden, die Siegelstempel, wo man recht genau sagen kann, zu wem sie gehören, nämlich zu einem mittelalterlichen Stiftsherrn und Domherrn hier in Köln: Ludwig von Boxtel.“

Der wiederum in den Urkunden aus der Zeit um 1300 mehrfach auftaucht. Außerdem wird er zwischen 1286 und 1309 als Kanoniker der Domkirche zu Köln urkundlich erwähnt. Der kleinste der drei Typare ähnelt einem modernen Siegelring, der größte einer Brosche.

„Man sieht hier diesen Stempel für das Siegel, die Inschrift und so weiter - ist natürlich spiegelverkehrt, weil es sollte natürlich nachher bei dem Wachssiegel tatsächlich richtig rum zu lesen sein. Und hier steht Ludwig Probst von Zyfflich – also so etwas wie ein Abt für ein Stift - und auf dem nächsten Siegel, das ist jetzt etwas größer, steht, mehr oder weniger dasselbe. Und hier das dritte Siegel; ebenfalls Ludwig von Boxtel, aber dann als Domherr.“

Die größeren Siegel sind aufwändig gestaltet: eines zeigt ihn als Domherren, daneben die heiligen drei Könige – vermutlich eine Anspielung auf die Reliquien im Dom. Auf dem anderen Siegel sieht man ihn als betende Persönlichkeit. Eine kleine Sensation – denn das sich historische Überlieferungen und archäologische Funde so gut ergänzen, ist selten. „Ganz klar, ohne Frage, das war was zum Anstoßen, ja.“

Latrinenreste enthüllen den Speiseplan der Kölner

Da ließ es sich auch leicht verschmerzen, dass der hochherrschaftliche Stiftsherr ansonsten wenig Spektakuläres in seiner Latrine hinterlassen hat, denn es gibt ja noch andere Latrinenfunde. Und da kann man ziemlich genau unterscheiden, zu welcher Schicht deren Nutzer im Mittelalter und frühen Neuzeit gehörten. Genauer gesagt – wie sie sich verköstigt haben, denn das untersucht die Archäologin Tanja Zerl im Labor für Archäobotanik der Universität Köln. Sie analysiert organisches Material und entsorgte Küchenabfälle.

„Man sieht es vor allem dann an wichtigen oder sehr teuren Importen. Man kann auch Handelsgeschichte nachzeichnen, und Importe, weil sie teuer waren, sind natürlich dann nur in Latrinen aus sehr reichen Haushalten vorhanden.“ Zum Beispiel Gewürze aus fernen Ländern: „Wenn es wirklich eine sehr reiche Latrine ist, haben wir dann ab dem Mittelalter wirklich Nachweise von Gewürzen aus dem indischen Bereich: schwarzer Pfeffer, wir haben Reis. Man hat Importe aus Afrika wie das Paradieskorn, das ist ein Pfeffer-Ersatz, der von der Westküste Afrikas stammt, der ab 1300 ungefähr auftritt. Wir untersuchen auch die Pollen aus den Latrinen, weil man auch Pflanzen verzehrt, die man über Pollen nachweisen kann, die Nelken, und die kommen auch vom Indischen Ozean. Also über solche Importe können wir dann sehr hochgestellte Häuser nachweisen oder Nutzer dieser Latrine.“

Anhand der Knochenfunde aus Küchenabfällen lässt sich auch feststellen, dass hochgestellte Persönlichkeiten eher Jungtiere verzehrten wie Milchlämmer, wohingegen Handwerker und Kaufleute am Rheinufer eher Suppe mit weichgekochtem Rindfleisch zu sich nahmen.

„Gerade was Gewürzkräuter betrifft, die wir heute ganz typisch bei uns in der Küche verwenden - Koriander, Fenchel, Sellerie und so weiter; genauso wie Kulturobst, Apfel, Birne, Kirsche - alles römisch, das gab es vorher nicht. Und wir haben Kirschkerne und Pflaumenkerne ohne Ende. Und das zieht sich dann bis ins Mittelalter und in die frühe Neuzeit. Und was ebenfalls durchgeht, ist Feige, Feigenkerne sind immer vorhanden. Im Mittelalter hat man Feige als Süßungsmittel benutzt, weil wir keinen Zucker hatten.“
Keramikgefäße und ein zerbrochenes Weinglas aus der Latrine am Waidmarkt
Die Fundgegenstände aus der Latrine im Titelbild - ob das Weinglas entsorgt wurde oder beim "Geschäft" hineingefallen ist, wird ein Geheimnis bleiben... (Römisch-Germanisches Museum der Stadt Köln / Rheinisches Bildarchiv)

Wie die Mittelschicht im historischen Köln lebte

Wie die Mittelschicht im Mittelalter lebte, zeigen nicht nur Latrinenfunde am Rheinufer, sondern auch Ausgrabungen am Kölner Waidmarkt. „Der Waidmarkt im Mittelalter natürlich - deswegen heißt er Waidmarkt - da waren Färber, und wir haben hier auch dann im Spätmittelalter Färbepflanzen, das passt sehr gut dann auch zu diesem handwerklichen Kontext. Also es waren wahrscheinlich am Waidmarkt, so würde ich es jetzt eher deuten, nicht besonders hochrangige Persönlichkeiten, die dort gewohnt haben.“

Wer dort im Mittelalter wohnte, ist in den Schreinsbüchern – also Katasterbüchern – festgehalten, die seit dem 12. Jahrhundert überliefert sind. Dort finden sich Schreiner, Bäcker oder ein Leichenbestatter, also die kaufmännische, handwerkliche Mittelschicht. Deshalb lässt sich auch hier ganz gut spekulieren, wer was hinterlassen hat. Thomas Höltken hat einen neuen Karton mit Latrinenfunden aus dem 16. Jahrhundert geöffnet: „Und diese Latrine stammt aus einem Haus, das im sechzehnten Jahrhundert einer Familie Kampschürper gehörte. Und im unmittelbaren Umfeld war auch eine Gaststätte gewesen. Und wir gehen davon aus, dass diese Latrine von den Kampschürpers und möglicherweise auch von der Gaststätte benutzt worden ist.“

Zu der Gaststätte könnten auch die Überreste von Gläsern passen, die wohl einfach in der Latrine entsorgt worden waren. „Das sind mehr oder weniger flache Schalen, die auch so einen kleinen Standring haben, der aussieht wie so eine Kordel. Die sind dann ungefähr sieben Zentimeter hoch, und auf der Wandung sind sogenannte Nuppen. Das sind einfach so Glas-Flecken, die da draufgesetzt worden sind und zu kleinen Zipfeln herausgezogen sind, ist also eine Verzierung. Das sind die klassischen Weingefäße, und dass die unter Umständen eben von der Wirtschaft, die dort gewesen ist, stammen, ist einfach sehr wahrscheinlich.“

Moos und Stoff-Läppchen statt Toilettenpapier

Andere Kisten vom Waidmarkt bergen Scherben, Teile von zerbrochenen und glasierten Schüsseln oder Trinkgefäße aus Keramik, wie ein etwa 25 Zentimeter hoher Becher, reich verziert mit Szenen aus dem Alten Testament. Und immer wieder finden die Archäologen kleine Keramikkrüge, teilweise komplett.

„Diese Gefäße finden wir extrem häufig in Latrinen. Das diente einfach zum Säubern der Hände. Also nachdem man die Latrine verlassen hat, hat man hier mit Wasser geschöpft, konnte sich damit die Hände sauber machen, weil Toilettenpapier gab es im 14., 15. Jahrhundert nicht. Man hat sich dann sozusagen mit Moos gesäubert oder mit Stoff-Läppchen. Danach hat man sich immer die Hände gewaschen. Und wenn dann mal ein solches Gefäß in die Latrine reingefallen ist, war das Pech. Das hat keiner mehr hochgeholt.“

Vermutlich war das am unteren Ende der Gesellschaft, der Anna von Aich angehörte, etwas anders.
Blick auf mittelalterliche Gebäudereste und Latrinen in der Ausgrabungsstätte Waidmarkt
Von Resten der Römerzeit bis zu Zeugnissen des Mittelalters - Köln steht auf historischem Grund (Römisch-Germanisches Museum der Stadt Köln)

Ein ehebrechender, vergewaltigender Scharfrichter...

Viel blieb Ännchen Goldgräber nicht, nach dem Unfalltod ihres Mannes. Sie musste versuchen, als Latrinenfegerin zu überleben. Und auch sonst war sie Übergriffen hilflos ausgeliefert, wie die Prozessakte vom 5. April 1612 zeigt, aus der Max Plassmann vorliest. Ännchen schildert, wie der Scharfrichter in ihr Haus eingedrungen sei:

„... anfänglich ihr gütlich zugesprochen. Als sie sich aber geweigert, hätte er gegen ihren Willen an einer Kisten mit ihr zu schaffen gehabt, danach auch in der Stuben und dabei gesagt, sie müsse den Haesch halten, vermutlich, sie muss schweigen. Und letztlich wird hier die Grenze zur Vergewaltigung überschritten Es ist typisch für eine Frau in dieser Zeit, die nicht in festen sozialen Verhältnissen lebt. Sie wird sehr leicht Opfer von solchen Männern.“

Ännchen droht dem Meister, wenn sie nicht weiter als Latrinenfegerin arbeiten dürfe, dann würde sie den Ehebruch öffentlich machen. Es kommt zu einem lauten Streit. Der Schreiber des Tumbuchs protokolliert:

„Darüber sei die Frau, also die Frau des Meisters auch dabei kommen und gefragt, ob denn ihr Mann mit ihr zu schaffen gehabt hat, und als sie darauf geantwortet, sei die Frau alsbald an sie gefallen und geschlagen. Weil sie sich aber gegen dieselbe gewehrt, sei der Mann der Frau zu hilf kommen, ihr das Haupt zerquetscht – vielleicht würde man heute sagen, in den Schwitzkasten genommen – und ihre Augen gekratzt, wie noch augenscheinlich – also wie es noch zu sehen ist.“

... und eine "entehrte" Latrinenfegerin mit ungewissem Schicksal

Nachdem alles aufgenommen worden war, endete die Befragung am 5. April 1612. Am Rande der Befragungsakte steht ein Vermerk - das Urteil steht auf Blatt 157.

„Anno1612 auf Sonntag, den 8. April - also drei Tage später – haben der Meister Jan und die Anna von Aich, Relicta, Witwe, des gewesenen Goldgräbers, wegen begangenen bekannten Ehebruchs gewöhnliche - gewöhnlich heißt, sie sind gewöhnlich befragt worden, also wie es das Gesetz erfordert - und damit auf geleisteter gewöhnlicher Urfehde, dimitiert und erledigt. Also sie sind nach Leistung des Urfehde-Eides, des Eides, sich nicht zu rächen - entlassen worden. Und damit ist der Fall erledigt.“

Wie es mit Anna von Aich weiterging? Wir wissen es nicht. Vermutlich wird sie ihre Arbeit verloren haben. Ob sie weiter in Köln blieb? Wenn das Haus, das sie in der Spielmannsgasse bewohnte, dem Scharfrichter gehörte, war sie obdachlos. Als entehrte Frau, die Ehebruch begangen hatte, blieb ihr noch die Prostitution. Oder sie kam als Dienstmagd in einem Haushalt unter.

Die Spielmannsgasse – im Mittelalter Wohnort von Bettlern, Prostituierten und Henkern – liegt nur einen Steinwurf vom Kölner Dom und Römisch Germanischen Museum entfernt.
Unten im Magazin packt Thomas Höltken die Latrinenfunde zusammen, dann ruckelt der Lastenaufzug langsam nach oben, wo eine Schulklasse lärmend Richtung Dom stürmt.