Dienstag, 30. April 2024

Ausweichquartiere
Wohnen unter Wasser und im Weltraum

Eigentlich sind die Zeiten vorbei, in denen man dem technischen Fortschritt zutraute, alle Probleme zu lösen. Wie einst, als die Visionen des Unterwasserforschers Jacques-Yves Cousteau Realität werden sollten. Sie haben ihre Faszination nicht verloren.

Von Patricia Görg | 19.05.2024
Die internationale Raumstation ISS im Weltall über der Erde.
Den bisherigen Höhepunkt des außerirdischen Wohnungsbaus bildet die unter internationaler Kooperation entstandene Raumstation ISS, die seit 2000 dauerhaft bewohnt ist (IMAGO / Zoonar / IMAGO / Zoonar.com / Irina Dmitrienko)
Kein Wunder: Angesichts von mehr als acht Milliarden Menschen wird es zunehmend eng auf der Erde. Die Lebensräume von Menschen und Tieren wachsen zusammen. Und angesichts von Prognosen über die zunehmende Unwirtlichkeit der Erde blühen hier und da auch Utopien auf, die vorsehen, zur Not extreme Lebensräume zu kolonisieren.
Diese Ideen sind nicht neu. Schon in den Sechzigerjahren arbeiteten Pioniere wie Jacques-Yves Cousteau an Unterwasserhabitaten. Einer seiner Filme trug den Titel „Welt ohne Sonne“. Und auch im All tat sich einiges – bis hin zum futuristischen Modulbau der ISS, die noch heute bewohnt über unseren Köpfen kreist.
Unterm Strich waren die Herausforderungen jedoch immer ernüchternd. Und erst recht nicht für viele Menschen gedacht. Das jedoch hält natürlich jemanden wie Elon Musk nicht davon ab, Siedlungen auf dem Mars anzukündigen. Was macht die Idee der menschlichen Ausweichquartiere so interessant?
Patricia Görg, geboren 1960, lebt als Schriftstellerin und Autorin fürs Radio in Berlin und ist mit Büchern wie u.a. „Glücksspagat“ (2000), „Handbuch der Erfolglosen“ (2012) oder „Glas. Eine Kunst“ (2013) sowie Hörspielen wie „Die Gesänge der Raumfahrer. Ein Fernlehrgang“ (2019, Dlf Kultur) bekannt geworden. 2019 erhielt sie den Italo-Svevo-Preis.

„Was heute noch wie ein Märchen klingt, kann morgen Wirklichkeit sein. Hier ist ein Märchen von Übermorgen: Es gibt keine Nationalstaaten mehr; es gibt nur noch die Menschheit und ihre Kolonien im Weltraum. Man siedelt auf fernen Sternen. Der Meeresboden ist als Wohnraum erschlossen. Mit heute noch unvorstellbaren Geschwindigkeiten durcheilen Raumschiffe unser Milchstraßensystem. Eins dieser Raumschiffe ist die Orion – winziger Teil eines gigantischen Sicherheitssystems, das die Erde vor Bedrohungen aus dem All schützt.
Begleiten wir die Orion und ihre Besatzung bei ihrem Patrouillendienst am Rande der Unendlichkeit.“
So klang eine augenzwinkernde Utopie aus dem Jahr 1966. Die Fernsehserie Raumpatrouille – Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion bewährte sich sieben Folgen lang als „Straßenfeger“: Fast jeder wollte damals sehen, wie Dietmar Schönherr als strafversetzter Weltraumkommandant Major Cliff Allister McLane im Jahr 3000 Außerirdische bekämpft, seine Vorgesetzten an der Nase herumführt und den Frauen den Kopf verdreht.
Berühmt ist diese erste deutsche Science-Fiction-Serie in Schwarzweiß jedoch vor allem wegen ihrer Ausstattung. Eine geradezu aberwitzige Kulisse stellte die Kommandozentrale der Orion dar, in der Uhrpendel und Bügeleisen als Schalthebel, außerdem Bleistiftanspitzer, Duschköpfe und Plastikbecher verbaut waren – alle zusammen ein fesches futuristisches Design bildend, in dem die Darsteller sich wohl gelegentlich ein Lachen verbeißen mussten, aber durchaus überzeugend ihrem Dienst nachgingen. Auch Tricktechnik und Soundtrack waren so originell, dass diese Filme eine Art Unsterblichkeit erlangt haben.
Sie schildern im übrigen Dinge, von denen manche sich auf unangenehme Weise bewahrheiten könnten. Gedacht ist dabei weniger an die Annahme, menschliche Außenposten bestünden in der gesamten Milchstraße, als vielmehr an die Vision, dass maßgebliche Teile irdischer Zivilisation wegen der Unwirtlichkeit des Planeten unter Wasser verlegt worden sind. Nicht nur die Basen der Kampfverbände befinden sich bei Raumschiff Orion auf dem Meeresboden, sondern auch sämtliche Institutionen der Macht. Ihren poetischen und optischen Höhepunkt erreicht diese filmische Behauptung, wenn die zurückgekehrten Raumfahrer bei reichlich Whisky im Club Starlight Casino ausspannen. Über ihren Köpfen befinden sich dann Sichtfenster, hinter denen gigantisch vergrößerte Zierfische hin- und herschwimmend daran erinnern, dass der untermeerische Lebensraum vollständig kolonisiert ist, und zwar von einer Spezies, die sich grotesk gymnastischen Gesellschaftstänzen des dritten Jahrtausends hingibt.
Einige Jahre bevor das Fantasiestück Raumschiff Orion im Fernsehen gezeigt wurde, führte der Tauchpionier Jacques-Yves Cousteau bereits sein zweites bahnbrechendes Experiment eines Unterwasserwohnprojekts durch.
Bei der ersten Episode vor der Küste von Marseille hatten zwei Taucher eine Woche in einem Stahlzylinder in elf Metern Tiefe zugebracht. Die von Cousteau und seinen Mitstreitern dabei gesammelten Erfahrungen stachelten ihren Ehrgeiz weiter an.
1963 startete die Mission Conshelf II, benannt nach der angestrebten Eroberung des Festlandsockels im Meer, im Englischen „continental shelf“. Geplant war diesmal, sieben Männer plus einen Papagei in einer komfortablen unterseeischen Fünf‑Zimmer‑Behausung zu stationieren, die ihnen einen Monat lang als Basis dienen sollte. Auf dem Plateau eines Korallenriffs im Roten Meer, nordöstlich vor Port Sudan, wiederum in elf Metern Wassertiefe, startete der bis dato aufwendigste Aufbau eines solchen Versuchs. Dutzende Hilfstaucher montierten das Starfish House, das einem Seestern auf Teleskopbeinen glich, außerdem eine Garage für das U-Boot Diving Saucer sowie einen Geräteschuppen, Haischutzkäfige und, 15 Meter tiefer, auf einem Vorsprung an der Steilwand, die Deep Cabin, eine Art aufrecht stehende Stahlzigarre. 200 Tonnen Bleiballast beschwerten das Haupthaus, und unzählige Versorgungskabel und -leitungen verbanden es mit der Oberfläche. Dort waren das Schiff Rosaldo zur technischen Unterstützung und das Schiff Calypso, auf dem Cousteau selber wohnte, als Shuttle‑Service zum Hafen von Port Sudan positioniert. Es gab Sprech- und Bildkontakt zu den beiden Schiffen und zur Deep Cabin. Die Teilnehmer an Conshelf II waren ausnahmslos erfahrene Taucher, denn bei diesem Experiment ging es in erster Linie darum, herauszufinden, wie der menschliche Organismus auf längere Aufenthalte in solcher Tiefe und unter solchem Druck reagiert, und welche Atemluftgemische dort praktikabel sind.
Bis dahin waren Tieftauchgänge von der Oberfläche aus stets ein gefährliches, kurzes Unterfangen, bezahlt mit aufwendigen Dekompressionsphasen, während denen die Taucher die durch den Tiefendruck in ihrem Blut stärker gelösten Gase wieder loswerden mussten. Das Starfish House und die Deep Cabin boten nun die Möglichkeit, sich dort unten gewissermaßen zu akklimatisieren.
„Diese Männer, die aus verschiedenen Berufen kommen – Universitätsprofessoren, ein Koch, ein Sportlehrer, ein Zollbeamter und ein Industriezeichner – sind die Pioniere für die Eroberung des untermeerischen Kontinentalplateaus. (..) Sie sind, ohne es zu empfinden, einem Druck ausgesetzt, der doppelt so stark ist wie der gewohnte atmosphärische. Ihre Atemluft enthält die doppelte Menge Sauerstoff. Tabak z.B. verglüht hier doppelt so schnell wie oben. (..) Die Ventilatoren werden von der schweren Luft gebremst. Verletzungen heilen wunderbar schnell, aber der Bart wächst langsamer."
Solcherart vom Erzähler an die Hand genommen, folgen wir Cousteaus Dokumentarfilm Welt ohne Sonne, der das Projekt Conshelf II portraitiert und 1964 in die Kinos kam.
Entstanden ist ein didaktisches Unterwasserpoem.
Während des Vorspanns, untermalt von blechlastiger, dramatischer Musik, kehrt der Diskus mit Bullaugen, das Forschungs-U-Boot, wie ein Gefährt Außerirdischer zurück zu seinem Hangar. In seinem Inneren sind Industriezeichner André Falco und Jacques Cousteau. Sie steuern es in die Garage, die einer umgedrehten, unter Wasser gedrückten Suppenschüssel auf Metallstreben ähnelt und in ihrem oberen Bereich eine Luftblase einschließt. Dort steigen die beiden aus, ziehen Taucheranzüge an, lassen sich wieder ins Wasser fallen und schwimmen zum Abendessen ins einige Meter entfernte Haupthaus.
Rauchend sitzen Ozeanauten um einen Tisch. Cousteau drückt seine rasend schnell verglommene Gitanes in einer Muschelschale aus, zeichnet für den Zuschauer auf kariertem Papier eine Skizze, damit er sich die räumliche Anordnung des Stützpunkts vorstellen kann.
Dann zieht sich die Kamera zurück, durch eines der Fenster hinaus ins nächtliche Meer, in dem diese utopische Zelle einer neuen Lebensform, verankert auf Stahlstelzen, mit rotierenden Lichtlein auf ihrem Dach, als unwirklicher Vorposten steht. Eine Handvoll Abenteurer trinkt Rotwein in ihr, isst Suppe auf dem Festlandsockel.
„Die Gespräche der Männer drehen sich nur noch um das, was sie gesehen, beobachtet, entdeckt haben. (.. ) Schon hat sich der Zeitbegriff verwischt. Sie müssen sich Mühe geben, die Uhr zu beachten, um ihr Tagebuch auf dem Laufenden zu halten. Sie schalten das Radio nicht mehr an. Sie hören lieber Musik von Tonbändern.“
Der Film gibt sich Mühe, das Alltagsleben im Starfish House abzubilden. Es wird gesaugt, der Koch konferiert mit Madame Cousteau auf der Calypso über den Speiseplan, dessen Rohstoffe in wasserdichten Kanistern von Hilfstauchern heruntergebracht werden; ein Hobbyfriseur schneidet Haare. Der Papagei kommt in einem der Kanister an, soll als „Kanarienvogel im Bergwerk“ dienen, da er auf kritische Veränderungen der Atemluft sensibel reagiert, sorgt außerdem für Filmspäßchen, weil er Husten, Schnarchen und Telefonklingeln brachial echt nachahmt.
Zwei Ozeanauten spielen Schach. Hinter ihnen, im magischen Blau des Fensters, erscheinen (wie in einer Einstellung aus Raumschiff Orion) die Silhouetten vorbei schwebender Fische – und ein kopfüber ins Bild ragender Taucher, der sie mit Kaninchenfleisch füttert.
„Man weiß bald nicht mehr, wo das Aquarium ist: drinnen oder draußen.“
Ziel der Mission war keineswegs, pittoreske Wohngemeinschaftsszenen zu liefern.
Es werden jede Menge Fische gefangen und in transparenten Beuteln nach oben geschickt für das Aquarium von Monaco. Nachts wird Plankton gekeschert, durchs Mikroskop gefilmt (was zu einigen der beeindruckendsten Aufnahmen führt) und direkt vor Ort im Unterwasserlabor identifiziert und präpariert.
Vor allem aber brechen zwei der Männer auf, um für eine Woche in der Deep Cabin, in 26 Metern Wassertiefe und ständigem Halbdunkel, Aufenthalt zu nehmen. Dort ist so viel Helium in der Atemluft notwendig, dass sie bei der Sprechverbindung wie Micky Maus klingen und lieber gar nicht mehr reden. Gespannt beobachtet die Tauchmedizin dieses extreme Experiment. Die beiden unternehmen tägliche Tauchgänge in noch deutlich größere Tiefen, ihre einzige Freude, denn der Aufenthalt in der engen Stahlzigarre erweist sich als ziemlich bedrückend, wenn auch nicht gesundheitsschädlich.
Als die Probanden dann wohlbehalten ins Starfish House zurückkehren, heißt es: „Sie kommen aus einer anderen Welt.“
Dorthin dringt Conshelf II jedoch nicht nur aus Übermut und wissenschaftlichem Interesse vor. Die französische Petroleumbehörde hat das Projekt mit 1,2 Millionen US Dollar finanziert, weil sie zu diesem Zeitpunkt über mögliche Bohrplattformen auf dem Meeresboden nachdenkt.
„114. Tauchfahrt zur Erforschung des nordwestlichen Sektors, bis auf 300 Meter Tiefe.“
Zum großen Finale des Films erleben wir dennoch den Rausch, scheinbar aus reiner Neugierde ins Ungesehene vorzustoßen. Cousteau und André Falco besteigen wieder das U-Boot Diving Saucer, und seine Kameras zeigen beim allmählichen Absinken in die vollkommene Schwärze märchenhafte Wesen: fein verzweigte Gorgonenhäupter, die tückisch von der Steilwand winken; unendlich langsam flüchtende Fische auf Beinen; einen Tiefseehai von sechs Metern Länge; tausende Krabben auf minus 300 Metern.
Beim Aufstieg wird das Fazit gezogen:
„Wir waren im Herzen des Meeres, und das Meer hat uns geduldet. Doch es waren nur die ersten Schritte über die Schwelle eines neuen Raums. Andere Abenteuer warten noch auf die Bewohner der Welt ohne Sonne.“
Nach beendeter Mission baute man die Hauptelemente des Unterwasserweilers wieder ab, nur der U-Boot-Hangar und ein Geräteschuppen blieben stehen.
Heute chartern ambitionierte Taucher Schiffe im Hafen von Port Sudan, lassen sich zum Riff Sha'ab Rumi bringen und finden dort in elf Metern Tiefe überwachsene Relikte eines Traums. Die U-Boot-Garage, völlig überkrustet von Meeresbewohnern, birgt in ihrem Inneren noch immer einen Luftvorrat von 1963.
Zeitgleich, zwischen 1964 und -69, führte die US-Marine ähnliche Experimente durch, Sealab I-III benannt. Ihre Stationen waren in ungefähr 60 Metern Tiefe platziert; die letze sollte sogar 180 Meter tief positioniert werden.
Auch vom Innenraum des Sealab I, das aus zwei zigarrenförmig miteinander verschweißten Minenräumungsschwimmkörpern bestand, gibt es stimmungsvolle Fotos, die Wohnküche zeigend. Ein Matrose steht vor der Spüle, neben dem abgewaschenen Geschirr, ein anderer sitzt am mit weißer Decke belegten Tisch, drückt seine Zigarette aus und liest. Beide haben nackte Oberkörper, weil die Temperatur nahezu 29 Grad Celsius beträgt. Im Hintergrund sieht man Schlafkojen und ein Paar Hausschuhe.
Sealab III, mit der Behausung in 180 Metern Tiefe das ehrgeizigste und in der Vorbereitung ungeheuer aufwendige Projekt, wurde nach massiven technischen Problemen und einem tödlichen Tauchunfall abgebrochen, noch bevor es richtig begonnen hatte. Die Navy gestand ihr Scheitern ein.
Man hätte sich allerdings denken können, dass solche enormen Investitionen der Marine nicht erfolgen, um der Menschheit die Idylle einer Wohnküche, umgeben von ewigem Dunkel und mörderischem Druck, zu eröffnen. In Wahrheit ging es, mitten im Kalten Krieg, um die Erprobung und Weiterentwicklung von militärischer Technologie.
John Craven, einer der verantwortlichen Wissenschaftler des Sealab-Programms, erklärte 2002 gegenüber Associated Press:
„Die eigentliche Absicht von Sealab III war der Test eines Systems, das Tauchern den Ausstieg aus U-Booten, die Fortbewegung am Meeresboden und das Bergen von Objekten erlauben sollte. In diesem Hinblick war Sealab III ein Erfolg. Die Einschätzung, es sei ein Fehlschlag gewesen, erwies sich als perfekte Tarnung für die Gründung eines unterseeischen Spionageprogramms (…). Zu diesem Zweck konnten wir schließlich nicht verkünden, Sealab sei ein Erfolg gewesen.“
Als in den sechziger Jahren die Idee aufkam, das Meer als möglichen menschlichen Lebensraum zu erschließen, dachte man vorrangig an revolutionäre Strategien der Landwirtschaft. Riesige Fischfarmen, unter Wasser betrieben, sollten das Ernährungsproblem zu lösen helfen. Cousteau experimentierte tatsächlich während seiner Conshelf I-Mission in diese Richtung, merkte jedoch schnell, dass dies unrealistisch war.
Von einer Verlegung ganzer Siedlungen auf den Kontinentalsockel war dann schon bald angesichts der technischen und medizinischen Rahmenbedingungen nicht mehr die Rede.
Letztes dauerhaft in Betrieb befindliches Unterwasserhabitat ist die nach einem wechselhaften Schicksal vor Kaliforniens Küste auf 20 Metern Wassertiefe verankerte Aquarius. Sie ist ein 14 Meter langes und drei Meter breites Unterwasserlabor, in dem sich vor allem Meeresbiologen einquartieren.
2014 hielt sich Fabien Cousteau, ein Enkel Jacques-Yves Cousteaus, mit einem Team 31 Tage lang dort auf und verfolgt seitdem das Projekt, eine zehnfach größere und modernere Unterwasserforschungsstation namens Proteus zu errichten. Sie soll in 20 Metern Tiefe vor der Karibik-Insel Curaçao entstehen, und seit die US-amerikanische National Oceanic and Atmospheric Administration mit in die Planung und Finanzierung eingestiegen ist, könnte diese, auch als „ISS des Meeres“ betitelte Vision Wirklichkeit werden.
Man kann also sagen: Die Utopie lebt wieder, aber sie bietet keine Ausweichperspektive für die gebeutelte Menschheit, sondern nur Platz für 12 Personen.
Während der US-Astronaut Scott Carpenter im Jahr 1965 als Proband in 62 Metern Tiefe vor der Küste Kaliforniens im Sealab II saß, hatte er Funkkontakt zu seinem Kollegen Gordon Cooper, der gerade in der Raumkapsel Gemini 5 in der Erdumlaufbahn kreiste.
Dieser Moment verband die beiden extremsten, für uns lebensfeindlichsten Sphären, in denen wir bis heute unsere mutigsten Visionen ansiedeln.
Zwar ist der Boden der Weltmeere – bereits übersät von Kriegsmunition, Atommüllfässern, Unterseekabeln und Millionen Tonnen Mikroplastik – noch weitgehend unkartiert, aber der Mond schon betreten. Seit Neil Armstrong 1969 wie ein Känguru über den Trabanten hüpfte, scheint nichts mehr unmöglich.
Beim Wettlauf, als Lebewesen ins All vorzudringen, hatte zunächst die Sowjetunion die Nase vorn: 1957 verschwand die Hündin Laika in einer Kapsel auf Nimmerwiedersehen; 1961 kehrte der Kosmonaut Juri Gagarin als erster Mensch von der Erdumlaufbahn zurück. Diese Triumphe wurden jedoch überstrahlt durch die bemannte Mondlandung der USA.
Der eigentliche Ehrgeiz, langfristig bewohnte Außenposten im Weltraum zu platzieren, blieb davon unberührt. Auch hier erzielte die Sowjetunion einen frühen Vorsprung, den sie allerdings mit einer Katastrophe bezahlte.
Im April 1971 gelangte von Baikonur aus die „Langzeit-Orbital-Station“ Saljut 1 auf ihre Bahn in 200 Kilometern Höhe, ausgerüstet mit wissenschaftlichen und Spionageinstrumenten. Kurz darauf startete die Mission Sojus 10, die drei Besatzungsmitglieder für einige Wochen an Bord der Saljut bringen sollte, doch der Andockmechanismus an die Station misslang und die Drei mussten unverrichteter Dinge zur Erde zurückkehren.
Man arbeitete nun fieberhaft an der Mission Sojus 11.
Die Kosmonauten Georgi Dobrowolski (Kommandant), Wiktor Pazajew (Bordingenieur) und Wladislaw Wolkow (Testingenieur), außer Wolkow nicht raumflugerfahren, starteten im Juni 1971, um die Station Saljut 1 zu besetzen. Die Ankoppelung gelang und Wiktor Pazajew betrat als erster Mensch ein Heim in der Schwärze zwischen den Sternen, meldete aber strengen Brandgeruch, woraufhin erst einmal ohne die Männer 20 Stunden lang die Luft der Station ausgetauscht werden musste. Anschließend bezogen sie ihr Domizil für 23 Tage, führten Beobachtungen und Experimente durch und bauten in der Schwerelosigkeit körperlich stark ab, da ihr Muskeltraining an einem Ergometer die gesamte Station samt Solarzellen und Kommunikationsantennen in solche Vibrationen versetzte, dass es aus Sicherheitsgründen nicht mehr durchgeführt wurde.
Schließlich stand die Rückreise bevor.
Einige Stunden vorher lautete einer der letzten Funksprüche der Pioniere:
„Wir haben Sehnsucht nach der Erde. Wir treffen uns morgen, stellt Cognac bereit.“
Auf einem Foto sind die Drei in der Raumkapsel zu sehen, mit nichts als weißen Stoffhauben auf ihren Köpfen. Zu der damaligen Zeit war es Usus, die Kosmonauten der Sojus-Schiffe ohne Raumanzüge fliegen zu lassen, da der Platz so eng bemessen war, dass sonst nur zwei von ihnen hineingepasst hätten.
Ungefähr vier Stunden nach der Abkoppelung von Saljut 1 nimmt das Verhängnis seinen Lauf: Nach beendetem Bremsmanöver und der Trennung des Rückkehrmoduls vom Orbitalmodul öffnet sich vorzeitig ein Ventil, das eigentlich für den Druckausgleich kurz vor der Landung gedacht ist, jetzt aber, noch oberhalb der Erdatmosphäre, innerhalb von nur 90 Sekunden die komplette Atemluft der Raumkapsel ins Vakuum des Weltalls entweichen lässt.
Hätten die Drei Raumanzüge getragen, hätten sie überlebt. So sterben sie den qualvollen Tod durch Ersticken, den man auch „Tauchertod“ nennt. Ihre Leichen, aus der gewasserten Kapsel geborgen und an der Kreml-Mauer beigesetzt, stehen für etwas noch nie Dagewesenes: Menschen, die draußen im All umgekommen sind.
Nach einem halben Jahr im Erdorbit stürzt auch die Raumstation Saljut 1, kontrolliert abgebremst, in den Pazifik.
Abgesehen vom US-amerikanischen Skylab-Labor, das von 1974 bis 1979 von wechselnden Besatzungen bewohnt war, bedeutete erst die große russische Raumstation Mir, von 1986 bis 2001 im Einsatz, den entscheidenden Durchbruch zu langen Weltraumaufenthalten, weiterentwickelt im bisherigen Höhepunkt des außerirdischen Wohnungsbaus, der unter internationaler Kooperation entstandenen Station ISS, die noch heute als zügiger heller Punkt auf ihrer Bahn am Nachthimmel zu sehen ist.
Seit 1998 ist die ISS ständig erweitert worden, und seit 2000 dauerhaft bewohnt. Sie ist ein fußballfeldgroßes Objekt, dessen Solarmodule wie die Segel eines gewaltigen Viermasters in den Raum ragen.
Dort oben schweben also Exemplare der Gattung Homo Sapiens in unter Druck stehenden Kabinen, arbeiten, leben und schlagen gelegentlich schwerelose Purzelbäume.
Sie schlafen in Schlafsäcken, die in Kojen befestigt sind, waschen sich trocken, essen Astronautennahrung, die nach fast nichts schmeckt, fixieren alle Gegenstände mit Magneten oder Klettstreifen auf dem Tisch, damit sie nicht umherfliegen, gehen auf Toiletten, auf denen sie sich anschnallen müssen, wobei die Exkremente irgendwann abtransportiert und in der Erdatmosphäre zum Verglühen gebracht werden, während der Urin mittels eines Rückgewinnungssystems wieder als Trinkwasser recycelt wird.
Sie führen täglich fünf bis zehn Stunden wissenschaftliche und andere Arbeiten durch, außerdem ein zweistündiges Muskeltraining, das unabdingbar ist. Trotzdem gibt es bei so langen Aufenthalten in der Schwerelosigkeit Probleme mit der schwindenden Knochendichte, der Durchblutung, dem Gleichgewichtssinn und dem Immunsystem.
Das fröhliche Winken, zu sehen bei Bildübertragungen von dort zur Erde, hat seinen Preis.
Besonders gravierend ist die Weltraumstrahlungsexposition. Obwohl die Besatzungen noch durch die Magnetosphäre der Erde geschützt sind, setzen sie sich täglich einer Dosis aus, die der durchschnittlichen jährlichen auf der Erde entspricht. Dies kann zu DNA‑Schädigungen und erhöhtem Krebsrisiko führen. Bei Sonneneruptionen, deren Vorwarnzeit kurz ist, erhöht sich die Belastung dermaßen, dass die gesamte Mannschaft spezielle Schutzräume der ISS aufsuchen muss.
Wirklich relevant wird dies, wenn man heutige Utopien der NASA und anderer Akteure zur Kenntnis nimmt. Sie denken die ISS, deren Lebenszeit irgendwann im Laufe unseres Jahrzehnts beendet sein wird, weiter, indem sie zum Beispiel von Raumstationen im sogenannten „entfernten rückläufigen Mond-Orbit“ träumen. Dort wären wesentlich stabilere, energiesparende Umlaufbahnen zu erreichen, aber sie wären erkauft mit einer ungeheuer potenzierten Strahlenbelastung, gegen die es bislang keinen Schutz gibt.
Der Milliardär und Hobby-Visionär Elon Musk hegt noch viel kühnere Pläne.
Zwar hat er mit seinem privaten Raumfahrtunternehmen SpaceX so Bahnbrechendes geleistet, dass seine teilweise wiederverwendbaren Raketen und Transportkapseln unverzichtbar für die Versorgungsflüge zur ISS geworden sind, aber – charakteristisch für ihn -- er sieht diesen Erfolg nur als Vorspiel für ein Projekt der Größe XXL.
Erklärtermaßen will er bis zum Jahr 2029 die ersten Menschen zum Mars bringen und bis 2050 eine Million Bewohner dort ansiedeln.
„Ich denke, das ist eine unglaublich wichtige Sache für die Zukunft des Lebens selbst (…) Es gibt die Möglichkeit, dass auf der Erde etwas schiefläuft; Sie wissen, die Dinosaurier sind nicht mehr da. (..) Und letztlich wird sich die Sonne aufblähen und alles Leben auf der Erde zerstören. Deshalb ist es langfristig wichtig, dass wir eine Multi-Planeten-Spezies werden, dass wir sogar über das Sonnensystem hinausgehen und das Leben mitbringen.“
Gegen Elon Musks Phantasma sprechen so viele kaum zu überwindende Widrigkeiten, dass man sie gar nicht alle aufzählen kann. Angefangen damit, dass die speziell für die Mars-Mission entwickelte Starship-Rakete, bislang immer explodierend, noch nicht einen Jungfernflug im Erdorbit absolviert hat, ist auch noch nicht gelöst, wie sie während ihres sechs- bis achtmonatigen Fluges zum Mars zwischenbetankt werden soll, geschweige denn, wie überhaupt und noch dazu in ausreichendem Umfang der Treibstoff für den Rückflug von den Besiedelungspionieren hergestellt würde. Die Atmosphäre dort ist hundertmal dünner als auf der Erde, enthält nur 0,13 Prozent Sauerstoff; die Schwerkraft beträgt ein Drittel der gewohnten (was auf Dauer zu ernsten medizinischen Problemen führt); es existiert kein Magnetfeld, um vor der tödlichen Strahlung aus dem All zu schützen, und die Durchschnittstemperatur sind Minus 62 Grad Celsius, bei häufigen Staubstürmen.
25 der bislang 49 unbemannten Mars-Landungen sind missglückt.
Das Zeitfenster, in dem sich die beiden Planeten nah genug kommen, um einen Start durchzuführen, öffnet sich nur alle 26 Monate für zwölf Tage.
Damit sind noch nicht die gigantischen Aufwendungen für die lebenserhaltenden Systeme auf dem Mars beschrieben – und auch noch nicht, wie sich die Gesellschaft auf diesem Außenposten organisieren soll.
Musk, der wie gehört nicht nur bis zum Mars, sondern sogar übers Sonnensystem hinaus plant, ist wie immer zweckoptimistisch:
„Wenn ein Umzug zum Mars beispielsweise 100.000 Dollar kostet, denke ich, dass fast jeder diese Summe durch Arbeit und Sparen zusammenbekommt.“
Machen wir einen Kassensturz: Die Flucht der Menschheit aus der Biosphäre, in der sie sich entwickelt hat, wird teuer. Sie führt in Weltgegenden, in denen der kleinste Fehler tödlich endet.
War die Utopiegläubigkeit zur Zeit Jacques-Yves Cousteaus und erster Wettläufe ins All noch von optimistischer Unschuld grundiert, von der Euphorie über Grenzverschiebungen des Denk- und Machbaren, so hat sich die Lage mittlerweile gewandelt. Fasziniert beobachtet man von heute aus schachspielende Taucher in einem Unterwasser-Container, der wie ein Wochenendhäuschen anmutet – während die Umsiedlungsvisionen Elon Musks eher an untergründig verzweifelte militärische Planungen für Zufluchts- und Schutzräume erinnern.
Seit der Veröffentlichung des Berichts Die Grenzen des Wachstums im Jahr 1972 definierte sich das Machbare neu. Die Prognosen und Simulationen des Club of Rome erschütterten die Hoffnung, man könne allein mittels forciertem technologischen Fortschritt dem Zusammenbruch eines ressourcenerschöpften Systems entkommen.
Und so wunderbar der Blick aus den Bullaugen des Starlight Casino auf die vorbeiziehenden Fische und aus den Fenstern der ISS auf die Erde auch ist – es wäre wohl dringlicher, unseren Heimatplaneten einigermaßen instand zu setzen, um auf seinen aus dem All so zerbrechlich und klein wirkenden Landmassen zu überleben