Samstag, 27. April 2024

Zeitdiagnostische Erkundung
Aufklärung über Romantik

Mit dem 250. Geburtstag von Caspar David Friedrich wird in diesem Jahr einmal mehr die Gedankenwelt der Romantik heraufbeschworen: die vermeintliche Innerlichkeit, die unterstellte Sehnsucht nach der ursprünglichen Natur. Das gilt es, zu überprüfen.

Von Hans von Trotha | 03.03.2024
Das Gemälde "Der Mönch am Meer" von Caspar David Friedrich, eine kleine Mönchssilhouette steht vor einer Meereslandschaft.
Die Romantik Caspar David Friedrichs kapriziert sich auf die Natur als Landschaft, darin verloren der vereinzelte, einsame Mensch (imago images / Artepics / Artepics via www.imago-images.de)
Ob wir nicht zurückkehren sollten zu großen Projekten wie denen der Romantik, sei es in der Philosophie, in der Kunst, in der Musik oder auch in der Politik? Das wird immer wieder gefragt, wenn der Ennui das Bedürfnis nach der Flucht aus der Gegenwart befördert. Was für ein Begriff von Romantik liegt dem zugrunde? Eine Rückkehr, meint Hans von Trotha, ist schon deswegen nicht möglich, weil wir der Romantik immer noch verhaftet sind.
Wenn wir wirklich etwas ändern wollten, stünde eher eine Rückkehr zur Aufklärung an, von der wir einen ebenso einseitigen, in die Irre führenden, wenn nicht falschen Begriff haben wie von der auf sie folgenden romantischen Epoche. Ein Versuch der historischen Sondierung, um uns in unserer Zeit zu verorten und besser zu erkennen, wohin wir womöglich zurückkehren sollten, wenn wir vorankommen wollen. 
Hans von Trotha hat mit einer Arbeit über die Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Philosophie und Gartenkunst im 18. Jahrhundert promoviert. Zehn Jahre hat er einen Verlag geleitet, zehn Jahre die Berlinale beraten. Heute lebt er als freier Publizist in Berlin und ist Autor zahlreicher Bücher, darunter Im Garten der Romantik (Berenberg) und zuletzt der Roman Pollaks Arm (Wagenbach) sowie die Essays Die große Illusion (über den Neubau des Berliner Schlosses, Berenberg) und Der französische Garten rund um Paris (Wagenbach).

Man sagt, Hegel habe das letzte System gedacht. Seither sei Philosophie Reden über Philosophie. Vor Hegel war in der europäischen Geistesgeschichte das Denken, ein Erklären der Welt in umfassenden Systemen gang und gäbe. Ja, es war das, was von der Philosophie erwartet wurde. Im Rückblick erkennen wir in den aufeinanderfolgenden Epochen, in die wir die europäische Geschichte einzuteilen gewohnt sind, diese Gedankensysteme wieder – in der bildenden Kunst, in der Architektur, in der Literatur, in der Musik, aber auch in Organisationsformen der Gemeinschaft, also in der Politik, im Umgang mit verschiedenen Gruppen der Gesellschaft und mit anderen Kulturen und nicht zuletzt in einem sich wandelnden Verhältnis zur Natur. Es sind die philosophischen Systeme, die unserer Vorstellung von den historischen Epochen, von der Renaissance etwa, vom Barock, von der Aufklärung oder von der Romantik, Halt und Kontur geben.
Die Philosophie der Moderne hat – von einigen Versuchen abgesehen – keine vergleichbaren Systeme mehr hervorgebracht, stattdessen eine Vielzahl konkurrierender, sich ablösender Ansätze, oft in Verbindung mit spezialisierten wissenschaftlichen Theorien, die immerhin Teilbereiche einer unübersichtlich gewordenen Welt zu durchdringen versprechen.
Unübersichtlich – das ist das entscheidende Stichwort, wenn es darum geht, unser 21. Jahrhundert zu charakterisieren. Die philosophischen Systeme der Vergangenheit dienten immer auch dazu, die jeweils neuesten Errungenschaften in Wissenschaft, Technik, Ökonomie und Sozialwesen in ordnender Absicht zu beschreiben und damit für einen Überblick über die eigene Zeit zu sorgen. In dieser Dynamik zunehmender Komplexität kündigt sich die Kapitulation der Moderne vor der Herausforderung an, umfassende philosophische Systeme zu formulieren. Georg Lukács hat dafür Anfang des 20. Jahrhunderts die Metapher von der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ geprägt.
Je mehr Wissen über die Welt zur Verfügung steht und je schneller es verbreitet wird, desto stärker wird der Drang, sich in Blasen zurückziehen, deren Gehalt wir überschauen oder kontrollieren können. Dabei gilt: Je größer die Angst vor der Zukunft, desto verunsicherter gestaltet sich die Beschreibung der Gegenwart und desto hoffnungsbeladener wird der Blick in die Vergangenheit.
Wir verorten uns selbst, wenn wir Modelle für unser Denken, unsere Hoffnungen, aber auch für unsere Ängste in der Geschichte der Gedanken finden. Es hilft uns, die eigene Position zu verstehen. Gleichzeitig macht es uns selbstbewusster, weil wir auf eine Instanz verweisen können, die unsere Position beglaubigt. Das romantische 19. Jahrhundert hat zu diesem Zweck die Geschichtswissenschaft etabliert und dabei eine Umdeutung eines ererbten Ideenansatzes vorgenommen, die Basis für unsere Selbstvergewisserung in der Vergangenheit: Die Geschichtsphilosophie Kants etwa war darum bemüht, die Vielzahl tradierter Geschichten zu einer Bewegung zu bündeln: Und zwar eine Bewegung nach vorne, mit Blick auf die Zukunft, nicht zurück, um eine Vergangenheit zu konfigurieren. Erst die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts kehrte die Perspektive um und suchte nach Vorboten und Modellen ihrer Welt- und Wertvorstellungen in früheren Zeiten.
Und heute?
Es hat auch für uns etwas Versicherndes und dadurch etwas Beruhigendes, sich auf vergangene Epochen zu berufen – erlaubt es uns doch für einen Moment, mit Blick auf uns selbst in einem System zu denken, was uns sonst verwehrt ist. Im historischen Abstand erscheinen die Alternativen, die die Geschichte der Ideen bietet, zudem pointierter und trennschärfer gegeneinander ausgerichtet, als sie es je gewesen sind. Schaut man genauer hin in die Zeiten, die diese Gedanken hinterlassen haben, finden wir allenthalben ähnlich fordernde, verwirrende, ungeklärte Zustände wie wir sie heute erleben. Erst die Historie als Wissenschaft aber auch als Philosophie- und Ideengeschichte komprimiert einige der damals jeweils neuen Ideen zu nachvollziehbaren und damit zitierbaren Positionen einer Epoche. Wenn wir uns heute auf „die Romantik“, „die Aufklärung“ oder „die Renaissance“ berufen, dann meistens, um uns, unsere Zeit und damit uns in unserer Zeit besser zu verstehen.
Beispiel: Das Jahr 2024. In diesem Jahr jährt sich der Geburtstag von Caspar David Friedrich zum 250. Mal, dem romantischsten aller deutschen Maler. Zumindest wurde er in den letzten Jahrzehnten dazu erklärt. Bis weit ins 20. Jahrhundert hatte er diese Stellung im kollektiven Kulturgedächtnis nicht unbedingt. Es ist eine Konstruktion, deren Popularität auf der visuellen Überzeugungskraft einzelner Bilder wie Der Mönch am Meer, Wanderer über dem Nebelmeer oder Das Eismeer liegt. In ihnen erkennen wir schlaglichtartig eine Position der Romantik. Und offenbar auch uns selbst.
Die Aufmerksamkeit, die Caspar David Friedrich jetzt erfährt, steht für zweierlei: allgemein für unser Bedürfnis nach Ankerpunkten in der kulturellen Vergangenheit und konkret für eine Sehnsucht, sich mit der Epoche zu identifizieren, zu deren Repräsentant Caspar David Friedrich erklärt wird.
Das hat zunächst wenig mit dem Maler und seinen Werken zu tun. Deren Interpretation bleibt Fachdiskurs. Die Bilder sind aber offensichtlich auch ideale Projektionsflächen. Sie sind Ikonen dessen, von dem wir gern hätten, dass die Romantik es gewesen wäre, weil uns das – ja was eigentlich: Trost spenden? etwas erklären? von unserer Misere ablenken würde?
Im Fall der Romantik ist es besonders interessant, das zu beobachten. Denn – was ist das eigentlich, die Romantik? Ist das wirklich Caspar David Friedrich? Oder Hegel? Oder Beethoven? Oder nicht vielmehr Schubert? Oder Verdi? Oder doch natürlich Schumann? Oder Schinkel? Oder die Brüder Grimm? Novalis´ Blaue Blume? Oder die Aufforstung des Waldes in Deutschland? Oder die Französische Revolution? Oder der preußische König Friedrich Wilhelm IV., den sie gern den „Romantiker auf dem Thron“ nennen und der 1848 eine Demokratiebewegung niederkartätschen ließ?
Während der Begriff „Romantik“ etwa in der britischen Kulturgeschichte für eine Einstellung zur Welt steht, deren Genealogie zurück bis Shakespeare und nach vorn bis in unsere Zeit reicht, hat er sich in Deutschland als Bezeichnung einer Epoche etabliert, grob vom späten 18. bis ins späte 19. Jahrhundert. In diese Epoche fallen umwälzende Erneuerungen in allen Bereichen des menschlichen Lebens: in den Wissenschaften, in der Medizin, in allen Künsten, in der Architektur und im Städtebau, aber auch in der Politik: So wurde die Französische Revolution als romantischer politischer Aufbruch interpretiert, der 1848 in weiten Teilen Europas eine Reprise erlebte.
Das führte zu einer radikalen Gegenbewegung auf Seiten der nicht gestürzten Herrschenden. Und so ist die Romantik eben auch die Epoche der politischen Restauration, was sich an restaurativen Tendenzen in den Künsten der Zeit ebenso ablesen lässt wie an einem weithin zu beobachtenden Rückzug ins Private. In Deutschland firmiert diese Seite der Romantik unter dem Namen Biedermeier.
Es sind am Ende weniger die Emanzipation und die Gleichheit Einzelner als die Freiheit und die Einheit von Nationen, die als die beiden großen Forderungen der Revolutionen dieser Epoche übrig geblieben sind. Die Legitimation der Idee der Nation wird zu einer der zentralen Aufgaben eines neuen Begriffs von Geschichte, zunächst mehr Erzählung als Wissenschaft, aber gerade deswegen eine enorm bild-, wirkungs- und schlagkräftige Instanz, durchaus mit dem Anspruch zu klären, „wie es eigentlich gewesen“ ist. So lautet eine berühmte Formulierung des Historikers Leopold von Ranke.
An all das lohnt es sich, sich zu erinnern – gerade in einer Zeit, in der konservative und rechte Kräfte den argumentativen Gestus, die Gegenwart aus der Vergangenheit heraus zu definieren, für sich vereinnahmen wollen. Aber – bedeutet das tatsächlich eine Rückbesinnung auf die Romantik?
Meine Antwort wäre: nein. Und zwar aus einem einfachen Grund: Ich glaube, wir stecken trotz der Rede von der Moderne, der Spät- und einer Postmoderne noch mittendrin in den unvollendeten Diskursen, die die vermeintliche Epoche der Romantik seit Ende des 18. Jahrhunderts eröffnet, angestoßen und uns hinterlassen hat. Rückbesinnen können wir uns nur auf etwas, das nicht mehr ist, das abgelöst, abgeschlossen, gewissermaßen überwunden wurde. Wenn wir Caspar David Friedrich feiern, feiern wir uns selbst, unser Weltbild, unser Lebensgefühl, wenn auch verschlüsselt und in einer Form, die über zwei Jahrhunderte abgeschliffen und in andere Kontexte integriert wurde. Rückbesinnen könnten wir uns, so gesehen, zum Beispiel auf eine Epoche, von der die Romantik, gleich, wie man sie definiert, alle ihre Themen und Ansätze geerbt hat, wobei sie sich bewusst, radikal und grundsätzlich von ihr abgrenzte: die Aufklärung.
Von beiden, von der Aufklärung wie von der Romantik, kursieren sehr unterschiedliche Vorstellungen. Beide werden begrifflich als Spielmarken eingesetzt und entsprechend jeweils so definiert, dass es gerade passt. Genau das geschieht derzeit auch im Zuge der Caspar-David-Friedrich-Festspiele. Um ihn als den Maler der Romantik feiern zu können, bedarf es eines Begriffs von Romantik. Es ist in diesem Fall eine Romantik, die sich auf das kapriziert, was Caspar David Friedrich gemalt hat: auf die Natur, die Natur als Landschaft, darin verloren der vereinzelte, einsame Mensch.
Und damit sind wir bei den beiden großen Themen unserer Zeit: der Einsamkeit, der Vereinzelung, der Verlorenheit des Menschen einerseits und andererseits der Natur – allerdings nicht mehr als Landschaft, sondern als bedrohte und dringend zu schützende, ja zu rettende Lebensgrundlage. Das unterscheidet unsere Zeit nicht nur von der Romantik, sondern von allen Epochen vor der unseren. Beides, die Verlorenheit in einer unübersichtlichen Welt wie die Fokussierung auf die Natur, sind romantisches Erbe. Aber wenn wir nur ein wenig darüber nachdenken, und das gelingt gut vor den Bildern von Caspar David Friedrich, wird schnell klar, dass wir uns genau das: die Feier der Verlorenheit angesichts der Natur, schlicht und ergreifend nicht mehr leisten können und dürfen. Der Mönch am Meer schaut. Genauso der Wanderer über dem Nebelmeer. Sie schauen sogar für uns, die wir in ihrem Rücken stehen. Und wir lieben das. Aber es steht uns nicht mehr zu. Angesichts der weit verbreiteten gedanklichen und gesellschaftlichen Einsamkeit wäre es geboten, human und sinnvoll, vom Beobachterstatus ins Handeln überzugehen. Angesichts der Lage der Natur ist das sogar alternativlos.
Ein Blick ins romantische 19. Jahrhundert lenkt unsere Aufmerksamkeit schnell in die Vergangenheit: historistische Architektur in den Städten, Historiengemälde in den Museen, die Vollendung des Kölner Doms, das Sammeln alter Volksmärchen – all das illustriert die neu etablierte Geschichte, den Blick in eine meist national sortierte Vergangenheit als großer Errungenschaft für die Gegenwart. Das ist dialektisch gedacht. Die Beschwörung des Vergangenen soll eine bestimmte, für gut befundene Entwicklung in die Zukunft voranbringen.
Das Wort „Entwicklung“ entstammt der Biologie. Einer der ersten, die es auf die Geschichte anwandten, war Kant, bildlich noch näher am biologischen Original als „Auswickelung“ von Anlagen. Dahinter steht der aus der Theologie übernommene Gedanke, dass alles, was geschieht, auf ein festgelegtes Ziel hin geschieht. Die frühe Geschichtsschreibung der Aufklärungszeit ist dementsprechend kein Blick in die Vergangenheit, sondern einer in die Zukunft. Betrachtet wird, was geschieht, um herauszulesen, wohin es führt. Es geht weniger darum, etwas zu rekonstruieren, als darum, die Mechanismen bloßzulegen, mit denen die Geschichte ihrem Ziel entgegengeht – was immer das sein mag. Kant verwendet dafür den Begriff der „Naturabsicht“. Berühmt ist auch das Konzept des schottischen Ökonomen Adam Smith, der von einer „unsichtbaren Hand“ sprach, die Entwicklungen des Gemeinwohls und der Wirtschaft arrangiert. Die theologische Herkunft dieser Idee ist unübersehbar, aber eben auch das theoretische Bemühen, den Gedanken in eine Konstruktion hinüberzuretten, die auch ohne Gott und erst recht ohne Kirche auskommt, eine Teleologie ohne Theologie. Das derart aufklärerisch säkularisierte theoretische Gerüst einer Geschichte anstelle einer Vielzahl von Legenden und anderen Geschichten mit seiner theologischen Herkunft und seiner biologischen Metaphorik wird von Historikern, es waren wohl erst einmal tatsächlich nur Männer, des postrevolutionären bürgerlichen 19. Jahrhunderts von der Zukunft auf die Vergangenheit übertragen.
Die Aufklärung hat nicht nur ihre Geschichtsphilosophie in die Zukunft ausgeworfen. Sie hat ihr Handeln und Denken an Visionen für künftige Generationen gemessen. Nicht umsonst war science fiction Literatur damals populär, und es war eine Hochzeit futuristischer Architekturentwürfe – das Gegenteil vom romantischen Historismus im Städtebau. Wer Geschichte im Aggregatzustand der Zukunft denkt, denkt und handelt anders als jemand, der oder die sie zur Illustration einer glorreichen Vergangenheit arrangiert.
Im französischen Ermenonville entstand einer der ersten Landschaftsgärten auf dem europäischen Kontinent, ein Idealzustand der Natur, gestaltet nach Motiven aus den Schriften von Jean-Jacques Rousseau. Der besuchte den Park, starb dort und wurde auf einer künstlichen Insel in einem künstlichen See begraben. Oberhalb des Grabs befindet sich auf einer Erhebung, die die ganze Schöpfung überblickt, ein Temple de la Philosophie moderne. Es ist eine Ruine. Nähert man sich, erkennt man: Es ist gar keine Ruine, sondern das Gegenteil, ein unvollendeter Bau, an dem noch gearbeitet wird. Einige Säulen sind bereits aufgerichtet. Sie tragen Namen: Rousseau, Descartes, Voltaire, Montesquieu, Newton und William Penn.Letzterer verfasste einen Essay towards the Present and Future Peace of Europe. Weitere Säulen liegen unbeschriftet im Gras. Wir sind es, die diesen Bau zuende denken und die Vollendung buchstäblich in die Hand nehmen sollen. Und wir sollen nach denen Ausschau halten, die in unserer Zeit das Richtige denken, um die Welt einer guten Zukunft zuzuführen. Das ist aufklärerische Philosophie und Philosophie der Aufklärung.
Und romantische Philosophie, beziehungsweise die Philosophie der Romantik? Bleiben wir kurz beim Garten, jenem Medium, in dem das Verhältnis einer Zeit zur Natur besonders pointiert zum Ausdruck kommt. Vollzieht man nach, wie das Konzept des Landschaftsgartens als künstlich verschönerter Natur im 19. Jahrhundert, also im Geist der Romantik weiterentwickelt wird, stellt man fest: Die Anlagen werden immer ausgedehnter, der Natur selbst immer ähnlicher, als ließe sich die Kraft natürlicher Unendlichkeit reproduzieren, wie sie die Landschaftsgemälde der Zeit beschwören, aber auch Gedichte, Romane, Lieder und Sinfonien. Doch gehört zu allen diesen Parks rund um die Häuser – die fast immer historisierende Fassaden tragen, also eine Flucht in die Vergangenheit anbieten – , ein Areal, das dezidiert künstlich gestaltet ist mit Springbrunnen, beschnittenen Büschen, Kanälen, oft geschützt durch Hecken oder Mauern. Es ist der Rückzug ins Private, gebautes Biedermeier, eine Flucht vor der eigenen romantischen Courage, der inszenierten Unendlichkeit.
Da fällt endlich das Stichwort: die Unendlichkeit. Alle Philosophie bekommt es irgendwann mit der Idee der Unendlichkeit zu tun. Sinnlich kennt der Mensch zwei Erfahrungen des Unendlichen: Gott und die Natur. Die Projektion des Unendlichen ins Vertikale, in den Himmel, hat die Philosophie des seit der Romantik so genannten Mittelalters geprägt. Philosophie und Kunst der Renaissance richteten die Idee der Unendlichkeit vom Vertikalen ins Horizontale und setzten damit einen Prozess in Gang, in dem die dem Menschen tendenziell bedrohliche wilde Natur zur erforschten, bewunderten, kopierten, schließlich unterworfenen Landschaft wurde. Für die Philosophie der Renaissance stehen Mensch und Gott gleichberechtigt inmitten dieser Natur, die allerdings immer mehr ästhetisch als Landschaft, immer weniger theologisch als Schöpfung wahrgenommen wird. Die Philosophie der Aufklärung erbt von diesem später so bezeichneten Humanismus die Idee eines Menschen, der mehr ist als nur Teil der Schöpfung, nämlich in vielen Bereichen selbst Schöpfer. Der Mensch wird nicht nur zum Teil der Natur erklärt, sondern auch als Teil dieser Natur erforscht, die sich ebenso erklären und zum Guten beeinflussen lassen soll. Es sind die Eindrücke der äußeren Natur, die unsere Seele, die innere Natur, formen. Daraus erwächst dem Menschen die Aufgabe, das Wesen der Natur, mit ihr das Wesen des Menschen zu erkennen, zu erklären und dieses Wissen zu verbreiten, um dann in verbessernder Absicht auf die Natur, die innere wie die äußere, einzuwirken. Die Naturwissenschaft wird zur neuen Religion. Aber auch zu Anthropologie, Archäologie, Psychologie, Pädagogik als Sujets einer Wissenschaft hat das 18. Jahrhundert im Geist der Aufklärung den Grundstein gelegt. Wissenschaft und Künste werden allmählich voneinander getrennt, aber nur, um erst recht zusammenzuarbeiten an neuer, tieferer, weiter gehender Erkenntnis über den Menschen als Teil der Natur inmitten der Natur. Das eindrucksvolle Protokoll dieser Anstrengung erscheint ab 1751 in Paris unter dem Titel Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, bekannt als Encyclopédie française.
Die Sollbruchstelle der Aufklärung als Epoche ist im Projekt selbst angelegt: Sobald die schiere Menge an Wissen nicht mehr zu überblicken ist, wankt die selbstbewusste Stellung des Menschen inmitten der neu gestalteten Landschaft, die die von ihm durchschaute Schöpfung ersetzt. Zumindest verändert sie sich. Eine unendliche Natur ohne Gott verlangt dem Einzelnen viel ab – zu viel, wie sich herausstellt. Die Konzepte der Aufklärung verlieren sich in dem, wogegen sie ihre Systeme in Stellung bringt: im Unendlichen. Das illustriert ein Blick auf die Landschaftsgemälde der Zeit – jener Zeit, in der Caspar David Friedrich sein Handwerk lernt: Zwar sind die Gebirge und der Ozean oder die Rheinlandschaft in ihrer erhabenen Größe naturgetreu gestaltet, aber die meistens mit abgebildeten Menschen befinden sich immer in sicherem Abstand. Die Aufklärung feiert die unendliche Natur immer zusammen mit dem Menschen, der dem Gedanken der Unendlichkeit durch Forschung und Philosophie mit enormem Selbstbewusstsein den Schrecken nimmt, nicht zuletzt dadurch, dass er sie abbildet, immer aus einer überlegenen Distanz heraus. Es wird zum programmatischen Kern der Romantik, diese Distanz zu überwinden und sich dem Unendlichen, ob in der Natur oder im Denken, in der Kunst oder im Gefühl auszuliefern, freiwillig schutzlos.
Hinzu kommt, dass sich der intellektuelle Überbau des Projekts Aufklärung im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend von seiner erkenntnistheoretischen Basis entfernt. Am Anfang steht die Lehre, dass wir die Welt nur über die Sinne wahrnehmen können. Mit der Aufwertung der Erfahrung ging eine enorme Aufwertung der Empfindung einher, dem Erlebnis, wie eine Wahrnehmung für mich ist. Oft wird im Rückblick dieser, der empfindsame Anteil an den aufklärerischen Konzepten ausgeblendet. Er macht die Sache komplexer, als vielen lieb ist, wenn sie bestimmte Schlagworte mit der Aufklärung verbinden. Aber tatsächlich ist es die Aufklärung gewesen, nicht die Romantik, die die vitale Bedeutung der Empfindung für unsere Erkenntnis erkannt und propagiert hat. Das Schlagwort „Empfindsamkeit“ taucht erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auf, dann schon in Gegnerschaft zu den intellektuellen Konstruktionen rund um den Leitbegriff der Vernunft und von selbsternannten Vernunftwächtern als „Empfindeley“ verunglimpft. Da ebnet ein großes Projekt, das die sinnliche und die intellektuelle Seite der Erkenntnis fruchtbar zusammenzubringen vermochte, der eigenen Auflösung den Weg, indem es seine Grundlagen bekämpft.
Dass da eine Gefahr lauert, war früh erkannt worden, ebenso, dass die Berufung auf den sinnlichen Eindruck als Grundlage der Erkenntnis eine Vereinzelung und damit gesellschaftlich eine dramatische Partikularisierung zur Folge haben konnte. Einen sinnlichen Eindruck habe ich zunächst einmal schließlich nur für mich. Umso wichtiger wird es, so viel wie möglich über diese Empfindungen zu kommunizieren – in Gedichten, Romanen, Theaterstücken, Liedern, Briefen, Salons. Zur zentralen Instanz wird die Kritik – als Literatur-, Theater-, Musik- und Kunstkritik, schließlich aber auch als Erkenntnisinstrument. Kritik ist für die Aufklärung die intersubjektive Verständigung auf Standards der individuellen Erfahrung. Sie ist das zentrale Element, der zentrale Begriff der Aufklärung, theoretisch, wofür die drei berühmten Kantschen Kritiken am Ende des Jahrhunderts stehen, wie praktisch, was eindringlich das Projekt der Allgemeinen deutschen Bibliothek illustriert, das Friedrich Nicolai 1765 initiierte. Anspruch war, sämtliche Bücher in deutscher Sprache zu rezensieren, nicht nur die empfehlenswerten. Nur so ließe sich ein gemeinsamer Geschmack etablieren, über den sich dann nicht mehr würde streiten lassen. Auf diese Debatte geht die entsprechende Floskel zurück. Sie besagt gerade nicht, wie wir in einer romantischen Umdeutung meinen, dass jeder finden kann, was er mag, sie bezieht sich vielmehr auf den biologischen Hintergrund der Geschmacksmetapher und auf die Voraussetzung, diese naturgegebene Anlage sei bei allen gleich.
Das ließ sich durch Fallsammlungen allerdings auf Dauer nicht belegen. Das Projekt Allgemeine Deutsche Bibliothek scheiterte schließlich daran, dass die Buchproduktion nicht mehr zu überschauen und erst recht nicht zu rezensieren war. Die Einstellung steht sinnbildlich für das Ende der aufklärerischen Kritik.
Den Begriff vereinnahmen die Protagonistinnen und Protagonisten eines anderen Blicks auf die Welt für sich, der zunächst in kritischer Absicht als romantisch diskreditiert wurde, bis eine neue Generation von Denkenden und vor allem von Künstlerinnen und Künstlern sich das Attribut stolz an die eigene Brust heftete.
An der Formulierung eines neuen Begriffs von Kritik lässt sich die Absetzbewegung der Romantikerinnen und Romantiker von der Aufklärung ablesen. Romantische Kritik versteht sich in jeder Hinsicht als das Gegenteil der aufgeklärten, oder besser: aufklärerischen Vorgängerin. Während die in Fallbeispielen vermeintlich objektiv gültige intersubjektive Konstanten zu formulieren versuchte, verflüchtigt sich eine romantische Kritik programmatisch im Unscharfen, Unerklärten, Vagen. Sie agiert nicht etwa gegen das subjektive Erleben Einzelner im Interesse einer stabilen Gemeinschaft, sondern setzt im Gegenteil ganz aufs individuell Gefühlte. Kritik erhebt sich nicht mehr über das kritisierte Kunstwerk, sie soll Teil von ihm werden, es erst vollenden, wie es jetzt heißt. Sie ist keine objektive Instanz mehr, sondern eine subjektive Fortsetzung von Kunst mit anderen Mitteln.
In den unterschiedlichen Begriffen von Kritik spiegelt sich der Wesensunterschied zweier Epochen. Der Aufklärung war die Kritik Werkzeug, aus vielen Vereinzelten eine Gemeinschaft zu schmieden. Der Romantik ist sie eine Instanz, die nicht der Gesellschaft nützen soll, sondern der Kunst. Dieser Kritikbegriff gibt der von der Aufklärung beschworenen, zugleich aber auch immer eingehegten Empfindung als Erkenntnisgrundlage viel Raum, jetzt als ganz großes Gefühl.
Die unterschiedlichen Begründungen der Kritik spiegeln unterschiedliche erkenntnistheoretische Grundlagen. Die zeigen sich naturgemäß auch im Umgang mit der Unendlichkeit. Während Kunst und Philosophie der Aufklärung immer bemüht waren, die Einzelnen vor der Erfahrung der Unendlichkeit zu beschützen, die die Aufwertung der sinnlich erlebten Natur mit sich brachte, setzte die Romantik auf das möglichst intensive Erlebnis des Unendlichen als höchstem Kunst- und Naturgenuss. „Ich Flüchtling habe kein Haus, ich ward ins Unendliche hinaus verstoßen (der Kain des Weltalls) und soll aus eigenem Herzen und Kopfe mir eins bauen“, schreibt der junge Friedrich Schlegel an Novalis.
Diese Erfahrung von Kunst und Welt geht mit einer Feier jener Vereinzelung einher, die die Aufklärung mit ihrer empfindsamen Grundlage eingeleitet, gegen die sie aber mit ihren vernunftbasierten Forschungen und philosophischen Operationen immer auch tapfer angekämpft hatte.
Eine Auflösung von Kategorien und Formen ins Unendliche bestimmt den Charakter alles Romantischen. Darin erkennen wir uns in unserer Verlorenheit in der Welt heute immer noch wieder. Und das feiern wir in den Bildern von Caspar David Friedrich. Das Unvollendete, die Form des Fragments stehen dafür ebenso wie die Neigung zu Grenzen verwischenden Abend- und Nachtstimmungen, die Feier riesiger Gebirge, unendlicher Meere und des Himmels. Steht das Verb „aufklären“ buchstäblich wie metaphorisch dafür, Licht ins Dunkel zu bringen, so gehört zum „Romantisieren“ programmatisch ein Verdunkeln, Verunklaren, Verwischen von Übergängen. Das ist auch der gedankliche und motivische Raum für eine romantische Rückbesinnung auf Gott, das Mittelalter, den Katholizismus – die von der Aufklärung, wo nicht bekämpft, beflissentlich umgangen wurden.
Eine elegante Form dieses Umgehens praktiziert Kant in seinen Schriften, indem er immer wieder die Formulierung „als ob“ verwendet. Es gibt, so seine pragmatische Überlegung, Ideen wie etwa Freiheit, Unsterblichkeit oder eben Gott, deren Existenz sich zwar nicht beweisen lässt, die allerdings mit Blick auf unser Handeln so wichtig sind, dass es geboten ist, so zu tun als ob sie existierten.
Zusammen mit der handlungsgetriebenen Vision einer besseren Zukunft der Lage der Natur und der Einzelnen in der Gesellschaft, ist es diese ebenso handlungsgetriebene gedankliche Option des „als ob“, die wir von der Aufklärung lernen können – und sei es nur, dass wir für eine Zeit so tun, als ob wir es einsehen würden. Weil die Zeit so sehr drängt. Wir müssen so tun, als ob wir an kontinuierlichen Fortschritt in den Wissenschaften wie auch in den Gesellschaften glauben würden. Wir müssen so tun, als ob wenigstens einige Grundlagenforderungen wie Freiheit, Gleichberechtigung, Menschenwürde unverhandelbar wären. Damit wir handeln und nicht dem schauerromantischen Impuls nachgeben, die Katastrophe in allen Farben und auch noch wissenschaftlich untermauert auszumalen, was uns als waschechte Romantikerinnen und Romantiker ausweist.
Wobei – auch das stimmt nicht ganz: Es war der boomende literarische Markt der Aufklärungszeit, der den Schauerroman erfunden und populär gemacht hat. Sogar Schiller hat sich an einer Gespenstergeschichte mit dem Titel Der Geisterseher versucht, ist aber ausgerechnet am Ende gescheitert. Und für aufklärerische Schauerromane ist das Ende der alles entscheidende Moment, nämlich: die Aufklärung, wie schrecklich oder verwickelt das Geschehen auch immer gewesen sein mag. Romantisches Erbe ist es, diese Aufklärung zu verweigern oder sich nicht für sie zu interessieren, das Ende im Zweifelsfall offen zu lassen. Das ist spannend. Und wir haben die Kunst und die Welt lange so betrachtet, grob gerechnet 200 Jahre lang. Aber jetzt müssen wir so tun, als ob wir eingesehen hätten, dass wir uns das nicht mehr leisten können.