Ein vereintes China nach dem Willen der kommunistischen Partei soll mit den zurückgeholten Provinzen als großes Reich neu erstrahlen. Politische Beobachter warnen davor, dass Chinas Militär sehr bald stark genug sein könnte, Taiwan zu erobern.
Mit ökonomischen und diplomatischen Schachzügen nimmt China Taiwan seit Jahrzehnten in die Zange und glaubt, eine Vereinigung sei nur eine Frage der Zeit. Die Insel mit ihren rund 24 Millionen Einwohnern bewegt sich außenpolitisch auf dünnem Eis: Man verwehrt sich gegen die chinesischen Einverleibungswünsche, will den großen Nachbarn gleichzeitig nicht zu Aggressionen provozieren.
„Essay anderswo“ heißt die Reihe, in der wir Sie mitnehmen an ferne Orte und in die Welt der internationalen Magazine, in denen große Reportagen und Essays erscheinen.
Das New York Times Magazine ist die aufwändig gestaltete Beilage zur Sonntagsausgabe der New York Times und bietet unter anderem lange Reportagen, Features und Essays.
„Als nächstes Taiwan?“ lautet der Titel eines großen Essays von Sarah A. Topol, den das New York Times Magazine im August 2021 veröffentlichte.
Der Text ergründet die verschlungene Geschichte Taiwans. Der Inselstaat sieht sich gerade heute wieder der Bedrohung Chinas ausgesetzt, das Taiwan als abtrünnige Provinz betrachtet und eine Vereinigung beider Länder anstrebt – womöglich könne es dem Land wie Hongkong ergehen, fürchten viele vor Ort.
Sarah Topol arbeitet als Reporterin und Feature-Autorin für das New York Times Magazine. Sie hat zahlreiche Länder bereist und preisgekrönte Reportagen in den renommiertesten US-Magazinen veröffentlicht, hat auf CNN, NPR und in der BBC sowie an renommierten US-Universitäten von ihrer Arbeit erzählt. Beeindruckend zeigt sich ihr journalistisches Können im folgenden Text, den wir in Auszügen und übersetzt aus dem Englischen senden. Denn Sarah Topol kristallisiert die neueste Geschichte Taiwans in der Familiengeschichte von Nancy Tao Chen Ying, einer jungen Taiwanerin, die zugleich als Aktivistin Exilanten hilft, die vor Repressionen in Hongkong geflohen sind. Nancy ist 1993 geboren.
Als die Flüchtlinge aus Hongkong ankamen, taten die Politiker wenig, um ihnen zu helfen. Taiwan glaubte, seine eigene Zukunft könne der Lage in Hongkong ähneln. Und man fürchtete, dieses Szenario könne noch schneller eintreten, wenn man Hongkong zu offenkundig unterstützte.
Ein spontan entstandenes Netzwerk von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Einzelpersonen versuchte stattdessen, sich um die Neuankömmlinge zu kümmern – sie brauchten Unterkunft, Essen, Geld und medizinische Versorgung. Einige Taiwaner, wie Nancy, hatten Kontakte zu Aktivisten oder Politikern in Hongkong, welche die Flüchtlinge zu ihnen schleusten. In anderen Fällen griffen Hongkonger auf Netzwerke in Taipeh zurück.
Nachdem sie den ersten Demonstranten abgeholt hatte, begleitete Nancy weitere in die Stadt und fuhr manchmal bis zu drei Mal täglich zum Flughafen. Sie arbeitete als Fernsehproduzentin und widmete sich nach Feierabend stundenlang der Aufgabe, den Flüchtlingen dabei zu helfen, sich in ihr neues Leben einzufinden. Viele der Neuankömmlinge waren schwer traumatisiert, konnten weder schlafen noch verarbeiten, was ihnen widerfahren war. Sie hatten ihre richtigen Namen, ihre Fotos und ihre Familien zurückgelassen. Dass Nancy sie in die Stadt fuhr und ihnen Gesellschaft leistete, das waren an sich nur kleine Gesten, aber Nancy glaubte, dass sie damit Teil von etwas viel Größerem war, von einem Kampf.
„Heute Hongkong, morgen Taiwan“ – das hatten junge Aktivisten jahrelang in beiden Regionen skandiert, um auf ihr ineinander verschlungenes Schicksal aufmerksam zu machen. Seit seinem Antritt 2012 hatte Xi Jingping die Freiheiten auf dem chinesischen Festland massiv eingeschränkt, während er seine Rivalen aus dem Weg geräumt, die erzwungene Assimilation Tibets weiter forciert und einen systematischen kulturellen Völkermord in der Region Xinjiang begonnen hatte. Dann richtete die Kommunistische Partei der Volksrepublik Chinas ihre Augen auf Hongkong. Viele befürchteten, Taiwan sei als nächstes dran.
China hatte stets geleugnet, dass Taiwan ein eigenständiges Land war und es als abtrünnige Provinz abgetan. Mit Chinas zunehmendem Einfluss in der Welt wollte China Taiwans Existenz nach und nach auslöschen. Es hatte Taiwan erfolgreich aus einer Vielzahl von Institutionen gedrängt, von der Weltgesundheitsorganisation bis zur Vogelschutzorganisation BirdLife International.
Das Wort „Taiwan“ verschwand von den Buchungswebseiten der Fluggesellschaften, so dass es nur noch möglich ist, einen Flug nach „Taipeh, Taipeh" oder „Taipeh, China“ zu buchen. Ein Land mit 24 Millionen Einwohnern, mehr als in ganz Skandinavien, existierte weder auf Landkarten noch bei Interpol oder bei den Vereinten Nationen. Seine Regierung wird nur von 14 Ländern in der Welt und dem Heiligen Stuhl / dem Vatikan anerkannt.
Als Nancy in Taipeh aufwuchs, gab es Vieles, was für sie keinen Sinn ergab. Es passte nicht ganz zusammen, dass in den Schulbüchern stand, Taiwan sei eine Provinz der viel größeren Republic of China. Diese umfasse das chinesische Festland, Taiwan, Hongkong und Macau, die Hauptstadt heiße Nanjing. Nanjing war eine Stadt in der Volksrepublik China, und in der war Nancy noch nie gewesen. Warum also wurde Nanjing als Hauptstadt ihres Landes aufgeführt? Als sie von ihrer Lehrerin eine Erklärung einforderte, sagte diese ihr, sie solle einfach das tun, was alle anderen auch täten – die richtige Antwort ins Heft schreiben und weitermachen.
Es war wirklich verwirrend. Üblicherweise wird die „Republic of China“, so der offizielle Name, international Taiwan genannt. Sie ist im Großen und Ganzen nicht als Land anerkannt und wird stattdessen von vielen Medienorganisationen, einschließlich des New York Times Magazine, als „selbstverwaltete Demokratie“ bezeichnet.
Aber der Archipel, dessen größte Insel Taiwan ist, besitzt eine Verfassung, einen Präsidenten und eine Gesetzgebung. Seit 1992, ein Jahr vor Nancys Geburt, haben Taiwans Bürger Volksvertreter in freien und fairen Wahlen bestimmt. Die Bürger dienen in ihren eigenen Streitkräften und führen auf Reisen einen grünen Pass der Republik China mit sich. Allerdings beschwerten sie sich 2003 darüber, dass sie ständig mit dem kommunistischen China verwechselt wurden, woraufhin die Regierung den Pass änderte, so dass nun sowohl „Republik China“ als auch „Taiwan“ darauf steht.
Dieser gordische Identitätsknoten war das Ergebnis einer umstrittenen Geschichte. Jahrhundertelang war Taiwan der Willkür von Kolonisatoren, Siedlern, Warlords und Diktatoren ausgesetzt. Schon 1544, als ein portugiesisches Schiff die Insel passierte und ein Passagier „Ilha Formosa“ – schöne Insel – rief, hatten Auswärtige sogar den Namen der Insel bestimmt. Ursprünglich war die Insel von indigenen Austronesiern bewohnt, doch mit der Ankunft der europäischen Händler, darunter der Niederländischen Ostindien-Kompanie, wanderten immer mehr Han-Chinesen ein.
Die Qing-Dynastie übernahm 1683 die Kontrolle über die Insel, doch nach einer demütigenden Niederlage im Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg 1895 trat sie Formosa an die Sieger ab. Die Japaner machten die Insel zu ihrer Musterkolonie um zu beweisen, dass sie mit den weißen europäischen Imperialmächten konkurrieren konnten. Sie bauten japanische Schulen und schufen einen Großteil der Infrastruktur auf der Insel.
Währenddessen wurde 1912 im weit entfernten Nanjing die Republik China gegründet, nachdem Revolutionäre die Qing-Dynastie gestürzt hatten. Doch die japanische Invasion und die innerpolitischen Konflikte zwischen der nationalistischen Kuomintang und den Kommunisten rissen die Republik auseinander. Nachdem Japan den Zweiten Weltkrieg verloren hatte, wurde Formosa durch ein Dekret der Alliierten an die Republik China übergeben. Die Bevölkerung konsultierte man nicht, aber nach 50 Jahren unter japanischer Herrschaft waren viele Taiwaner aufrichtig begeistert über ihre chinesischen Befreier. Ihre Hoffnungen darauf, die eigene Sprache sprechen, die eigene Kultur pflegen und die eigenen Volksvertreter wählen zu dürfen, schwanden jedoch schnell. Die Kuomintang fand, die Einheimischen hätten mit den Japanern kollaboriert, sie regierte Taiwan mit eiserner Faust und plünderte die Ressourcen der Insel, um den anhaltenden Bürgerkrieg auf dem Festland führen zu können.
1949 besiegten die Kommunisten die Nationalisten und gründeten die Volksrepublik China. Was von der Republik China übrig blieb, floh unter dem Kommando von Chiang Kai-shek nach Taiwan. Beide Regierungen erklärten, sie herrschten rechtmäßig über ganz China. Ein Tsunami von etwa 1,5 Millionen Exilanten, die Chiang nach Taiwan folgten, brachte zwei Kasten hervor: die „Benshengren“ – „Menschen aus dieser Provinz“ – und „Waishengren“ – „Menschen von außerhalb“. Nancys Großmutter väterlicherseits wuchs unter japanischer Herrschaft auf und musste mit ansehen, wie die Neuankömmlinge die besten Arbeitsplätze und Ressourcen an sich rissen. Später heiratete sie einen dieser Neuankömmlinge, aber er machte Spielschulden und floh dann zurück aufs Festland, so dass sie seine Schulden bezahlen musste. Sie verkaufte ihr Haus und zog mit der Familie nach Taipeh, wo sie Nancys Vater und seine drei Geschwister durchbrachte, indem sie Früchte und Eis auf der Straße verkaufte.
Die Kuomintang begann mit der systematischen Zwangssinisierung. Anstelle von Hokkien, das Nancys Großmutter zusammen mit der überragenden Mehrheit von sechs Millionen Einheimischen sprach, wurde Mandarin zur offiziellen Regierungssprache gemacht. Straßen in Taipeh wurden nach chinesischen Städten umbenannt, und die Schulbücher lehrten die Geografie des Festlandes und die Geschichte der Republik China aus Sicht Taiwans. Chiangs Geheimpolizei sorgte dafür, dass niemand aus der Reihe tanzte.
1987 hob Chiangs Sohn und Nachfolger Chiang Ching-kuo auf Druck aus dem In- und Ausland das Kriegsrecht auf. Es hatte 38 Jahre lang gegolten.
In den Jahrzehnten davor erlebte die taiwanische Wirtschaft einen Aufschwung, angetrieben von der petrochemischen Industrie, der Konsumgüterindustrie und zunehmend auch von der Technologiebranche. Nach dem Tod Chiang Ching-kuos im Jahr 1988 übernahm der erste Präsident aus den Reihen der einheimischen Benshengren, Lee Teng-hui, das Amt des Regierungschefs und beschleunigte den Übergang Taiwans zur Demokratie. 1992 fanden in Taiwan die ersten Direktwahlen zum Parlament statt; die ersten Präsidentschaftswahlen gab es 1996. Lee warb für eine neue nationale Identität, um das Land zu einen: Die Menschen seien weder Waishengren noch Benshengren, sondern „Neue Taiwaner“.
Als Nancy geboren wurde, hatte ihre Großmutter in kleine Grundstücke investiert, die sie zu Parkplätzen machte. Sie kaufte drei Wohnungen, darunter diejenige, in der Nancy dann mit ihren Eltern, ihrer älteren Schwester und ihrem jüngeren Bruder lebte.
Es war oft schwierig. Als mittleres Kind gierte Nancy nach Aufmerksamkeit und war gleichzeitig von ihrer Familie frustriert. Ihr Vater war ein Taishang – ein taiwanischer Unternehmer in China – und oft für längere Zeit abwesend. Nachdem der Westen nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens Sanktionen gegen China verhängt hatte, gingen viele Taishang in die Volksrepublik, um dort ihr Glück zu suchen. Es waren hauptsächlich diese Fabriken mit chinesischen Arbeitern unter der Führung taiwanischer Unternehmer, die zum kometenhaften Aufstieg der chinesischen Industrie führten. Nancys Vater sah sich als Chinese an, als Waishengren aus der Provinz Jiangxi, wie schon sein Vater vor ihm. Wenn der Vater zu Hause war, war er unberechenbar. Nancy hasste das – und sie hasste ihn.
Nach der Demokratisierung Taiwans begann die Kuomintang, in freien Wahlen gegen die Demokratische Fortschrittspartei anzutreten, die von vielen genau derjenigen Dissidenten gegründet wurde, die die Kuomintang früher während ihrer fast 40-jährigen Militärherrschaft unterdrückt hatte. Jede Partei war für eine Parteifarbe bekannt – blau für die Kuomintang und grün für die Demokratische Fortschrittspartei. Eine echte nationale Versöhnung gab es nie.
Als Nancy klein war, regierten die Demokratische Fortschrittspartei und die Kuomintang abwechselnd. Die Parteien hatten unterschiedliche Vorstellungen davon, was Taiwan war und sein sollte. Die Kuomintang, einst der erbitterte Feind des kommunistischen Chinas, trat langsam für eine Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei Chinas ein – die überzeugendsten Kuomintang behaupteten, eine solche wirtschaftliche Zusammenarbeit würde die Volksrepublik schließlich demokratisieren und eine Wiedervereinigung unter der Flagge der Republik China ermöglichen.
Die Demokratische Fortschrittspartei vertrat eher das Gegenteil. Der harte Kern sprach sich dafür aus, die antiquierte Bezeichnung „Republik China“ aufzugeben und als ein Land namens Taiwan die uneingeschränkte Unabhängigkeit zu erklären. Man würde jegliche Ansprüche auf das Festland, Hongkong und Macau aufgeben. Die Anhänger der Demokratischen Fortschrittspartei hatten ohnehin nie irgendeine Affinität zu diesen Territorien gehabt. In diesem Fall könnten Taiwan und China als gleichberechtigte Partner zusammenarbeiten.
Die Debatte über die Zukunft Taiwans bewegte sich damit immer zwischen den etwas verworrenen Konzepten von „Unabhängigkeit" oder „Wiedervereinigung“. Die meisten Taiwaner standen in dieser Frage irgendwo dazwischen. Eine Mehrheit sprach sich für die Beibehaltung des Status quo aus, bei dem die „Republik China“ respektive „Taiwan" de facto unabhängig war. Dies schien vorteilhafter, als einen Krieg mit dem viel größeren Nachbarn zu riskieren.
China seinerseits förderte die Spaltung Taiwans, indem es mit der Kuomintang zusammenarbeitete, als diese an der Macht war, und die eigenwilligere Demokratische Fortschrittspartei isolierte, als diese am Ruder war. 1992 einigten sich die Kuomintang und die Kommunistische Partei Chinas bei einem geheimen Treffen im britischen Hongkong darauf, dass Taiwan und China Teil desselben Landes seien. Die Kuomintang teilte der taiwanischen Öffentlichkeit später mit, dass diese Formulierung unterschiedliche Interpretationen erlaube, zum Beispiel, dass das gemeinte Land die Republik China sein könne. Das sollte als der „Konsens von 1992“ in die Geschichte eingehen. Als Peking die Vereinbarung verletzt sah, übte es Vergeltung.
1995 besuchte der unglaublich beliebte taiwanische Präsident Lee die Cornell University. Die kommunistische Partei Chinas war wütend darüber, dass Taiwan eigene Beziehungen zu den USA geltend machte. Bis ins Jahr 1996 hinein führte China deshalb Militärübungen und Raketentests in der Nähe der Insel durch. Als Reaktion darauf entsandte Bill Clinton zwei Flugzeugträgergruppen in die Nähe der Taiwanstraße. Im Jahr 2005 verabschiedete Peking ein „Anti-Sezessionsgesetz“, in dem es schwor, Gewalt anzuwenden, falls sich die Republik China jemals „abspalten“ sollte – also den Titel „Republic of China“ ablegen und sich offiziell Taiwan nennen sollte.
Ende 2012 wurde Xi Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas. 2013 dann war er auch dem Titel nach Präsident Chinas. Obwohl er die Freiheiten auf dem Festland immer weiter einschränkte, war Xi populär und startete eine Anti‑Korruptionskampagne, die ihn bei der Bevölkerung noch beliebter machte. Denn die hatte die Exzesse der Führungsriege satt. In einer berühmten Rede erklärte Xi 2013, China werde „danach streben, den chinesischen Traum von der großen Wiederbelebung der chinesischen Nation zu verwirklichen“.
Was dies genau bedeutete, blieb unklar – aber Xi schwor, dass dies bis 2049 erreicht werden würde, genau 100 Jahre nach Gründung der Volksrepublik China. Damit würde das Jahrhundert der Demütigung durch ausländische Mächte ab 1839 endlich rückgängig gemacht. Dieses Ziel sei erst dann vollständig erreicht, wenn Chinas Grenzen wieder mit denen der Qing-Dynastie identisch seien, die damals Tibet, Xinjiang, Hongkong und Taiwan beherrscht hatte, wenn auch nur für kurze Zeit.
Nancy war nicht die Einzige, die diese vagen Drohungen ignorierte; die meisten jungen Taiwaner interessierten sich nicht für Politik.
Sarah Topol über Nancy, eine junge Taiwanerin, die dann doch ihr politisches Erwachen erlebte. Im Jahr 2014 dann war Nancy Teil der sogenannten Sonnenblumenbewegung in Taiwan. Wochenlang besetzten junge Menschen das Parlamentsgebäude und verhinderten damit ein Gesetz der Kuomintang, das chinesische Investitionen in Taiwan vereinfachen sollte. Viele hatten befürchtet, dass China Taiwan ökonomisch erobern könne, sollte das Gesetz in Kraft treten.
Immer öfter flog Nancy nach Hongkong und geriet mitten in die Proteste dort hinein. Sie arbeitete als Producerin einer Nachrichtensendung und lernte über ihren Job berühmte Aktivisten kennen: allen voran Ray Wong, aber auch Joshua Wong, Edward Leung und Sixtus, genannt Baggio, Leung.
Als immer mehr Festlandchinesen nach Hongkong reisten, um dort bessere Waren einzukaufen und nach Hause mitzunehmen – Babynahrung, Medikamente, Haushaltswaren, organisierte Ray Wong Proteste und gründete „Hongkong Indigenous“, eine Gruppe, die Autonomie von China forderte. Früher hatten viele Hongkonger einen Lokalpatriotismus für ihr Territorium abgelehnt – aber mit dem Druck aus Peking änderte sich das. Gleichzeitig gab es bald so viele Verhaftungen, dass immer mehr Aktivisten nach Taiwan flohen. In dieser Zeit begriff Nancy, dass die Situation in Hongkong der in Taiwan kurz nach den Sonnenblumenprotesten sehr ähnlich war!
Zurück in Taipeh verfolgte Nancy regelmäßig die Nachrichten aus Hongkong. Sie beobachtete, wie Edward eine Kampagne startete und sich um einen Sitz im Legislativrat bewarb, aber wegen seiner Haltung zur Unabhängigkeit nicht antreten durfte. Baggio kandidierte für ihn und gewann. Bei seiner Vereidigung weigerte sich Baggio, den offiziellen Treueeid auf die „Sonderverwaltungszone Hongkong der Volksrepublik China“ zu schwören und verlas stattdessen seinen eigenen Eid, der „Nation Hongkong“ zu dienen. Obwohl einige Abgeordnete schon zuvor ein wenig gegen China gestichelt hatten und ihre Sitze im Parlament dennoch erhielten, erklärten die Gerichte Baggio für amtsuntauglich, und es wurden zwei Anklagen gegen ihn erhoben: eine, weil er das Procedere bei der Vereidigung behindert habe, und eine weitere, weil er sich weigerte, das Abgeordnetengehalt für den Monat zurückzuzahlen, für den er bereits Geld erhalten hatte.
Immer, wenn Nancy Nachrichten über ihre Freunde in Hongkong hörte, schickte sie ihnen kurze, mitfühlende Botschaften. Wenige, einfache Worte, die ausdrückten, dass sie in dieser schwierigen Zeit an ihre Freunde dachte.
Im Juni 2019 war Nancy in Taipeh, als auf dem Social Media Dienst Telegram alle Kanäle zu Hongkong regelrecht explodierten. Am nächsten Tag sollte über das neue Auslieferungsgesetz abgestimmt werden, und die Aktivisten riefen zu Protesten auf. Nancy buchte gleich für den nächsten Morgen einen Flug nach Hongkong.
Kaum dort angekommen, traf sie sich mit Baggio. Im Laufe der Jahre waren Nancy und Baggio enge Freunde geworden – sie versuchte, ihn zu treffen, wann immer sie nach Hongkong kam. Sie diskutierten über Politik, gingen zusammen essen, gingen ein Bier trinken und witzelten rum. Ray war wegen seiner Anschuldigungen bei den „Fischbällchenprotesten“ aus Hongkong geflohen und lebte im Exil in Deutschland, während Edward für seine Rolle bei den Protesten zu sechs Jahren Haft verurteilt worden war. Nancy befürchtete, Baggio würde der Nächste sein.
Als Nancy an diesem Tag mit Baggio und seiner Gruppe auf die Straße ging, raubte ihr die Menge der Demonstranten den Atem: eine Million Menschen in einer Stadt von sieben Millionen Einwohnern. Gegen 21 Uhr, als Nancy zum Flughafen aufbrechen wollte, war es so voll, dass Baggio einen Freund bat, sie zur U‑Bahn‑Station zu begleiten, da er fürchtete, Nancy könne im Gedränge verlorengehen. Als Nancy in Taipeh aus dem Flugzeug stieg, hatte die Regierungschefin von Hongkong, Carrie Lam, die Forderungen der Demonstranten bereits abgelehnt. Sofort wurden Pläne für weitere Demonstrationen geschmiedet. In der folgenden Woche verdoppelte sich die Zahl der Demonstranten auf zwei Millionen. Man war vorsichtig optimistisch: 2003 war ein nationales Sicherheitsgesetz durch Massenproteste verhindert worden.
Bald schon fanden die Proteste wöchentlich statt. Die Bürger drängten sich auf den Hauptverkehrsstraßen der Stadt, liefen die immer gleiche Route ab und forderten friedlich ihre Rechte ein. Jeder erwartete, dass der Marsch am 1. Juli riesig sein würde – es war der Jahrestag der Rückgabe von Hongkong an China und jedes Jahr wurde gegen die Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas protestiert. Nancy reiste ein paar Tage früher an. Baggio war besorgt darüber, wie unbedingt sie an den Protesten teilnehmen wollte. Er wusste, dass die Polizei schwächere Demonstranten, insbesondere Frauen, ins Visier nahm. Und Nancy war klein und nicht gerade stark. Sie kannte sich in der Stadt nicht so gut aus wie die Einheimischen. „Du kannst nicht wegrennen, du kannst nicht kämpfen, also halt dich zurück“, sagte er immer wieder, aber er konnte sie nicht aufhalten.
Am 1. Juli fand sich Nancy nachmittags vor dem Legislativrat ein. „Mach ein Banner, auf dem steht, dass du Taiwanerin bist, und häng es dir um“, riet ihr ein Freund. Nancy konnte kein Kantonesisch, und die Hongkonger sprechen in der Regel nicht gut genug Mandarin, um Nancys Akzent von dem der Chinesen unterscheiden zu können. Jedes Mal, wenn Baggio Nancy jemandem vorstellte, erklärte er, dass sie Taiwanerin sei. Alle waren begeistert und dankten ihr für die Solidarität und Unterstützung. Aber ihr Freund hatte gerade gesehen, wie ein Mann, der Mandarin sprach, brutal zusammengeschlagen worden war. Die Lage auf der Straße wurde langsam zu gefährlich.
Nancy war in jener Zeit besorgt über die Exilanten, die in Taiwan ankamen. In Taiwan gab es kein Asylrecht. Da die geflohenen Hongkonger mit Touristenvisa einreisten, die nach drei Monaten abliefen, durften sie nicht arbeiten – wie also sollten sie ihren Lebensunterhalt bestreiten? Viele von ihnen waren noch Schüler, aber wie sollten sie sich in taiwanischen Schulen anmelden, wenn sie keinen offiziellen Aufenthaltsstatus hatten? Wie konnten sie medizinisch versorgt werden, wenn Taiwans Gesundheitssystem dafür einen ständigen Wohnsitz im Land vorschrieb?
Nancy hoffte, dass ihre Regierung etwas tun würde, um die geflüchteten Hongkonger zu schützen. Die Politiker der Demokratischen Fortschrittspartei waren ja erst jüngst unter dem autoritären Regime der Kuomintang selbst Dissidenten gewesen. Doch nun betonte die Regierung oft, dass die schiere Masse von Geflüchteten aus der Volksrepublik China ein Asylsystem in Taiwan überfordern würde. Und selbst wenn es ein Asylrecht gäbe, würde es nicht für Hongkonger gelten, da diese laut Verfassung der Republik China bereits Mitbürger seien und anderen Gesetzen unterlägen als echte Ausländer. Der Anspruch der Republik China auf ganz China führt zu merkwürdigen rechtlichen Verrenkungen – so werden beispielsweise die Beziehungen Taiwans zu China vom Rat für Festlandangelegenheiten und nicht vom Außenministerium geregelt. Angesichts der heiklen Lage, in der sich Taiwan befand, waren viele Taiwaner auf Seiten der Regierung und nahmen die jungen Hongkonger lieber still und heimlich auf.
Am 1. Oktober 2019, dem 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik, sollte es Proteste in Hongkong geben, und Nancy flog ein paar Tage vorher hin. Peking wollte feiern, und die Demonstranten wollten die Stadt lahmlegen. Sicher würde es Xis Pläne für die Feierlichkeiten durchkreuzen, wenn die Nachrichten zeigten, wie zeitgleich mit der Parade anderswo junge Menschen mit Tränengas besprüht wurden.
Als Nancy landete, scannten Beamte ihren Reisepass und zogen sie aus der Warteschlange. Man führte sie in einen kleinen Raum, in dem man ihr ihren Pass und ihre Reisedokumente abnahm. Sie musste lange warten.
Die Beamten durchsuchten ihre Taschen und ihr Portemonnaie, überprüften ihre Kreditkarte und wollten wissen, wieviel Bargeld sie bei sich trug. Sie fragten Nancy, wo sie übernachten wollte, mit wem sie sich treffen wolle und was ihr Reisegrund sei. Nancy nannte ihnen ein falsches Hotel und sagte, sie treffe sich mit Freunden, weigerte sich aber, Einzelheiten preiszugeben. Die Beamten behaupteten, sie hätten sich nur Sorgen um sie gemacht und ließen sie gehen.
Am nächsten Morgen bekam Nancy auf ihrem Handy eine ganze Kaskade von Nachrichten.
"Alles OK?"
"Wie geht es dir?"
"Bist du in Sicherheit?"
"Wie geht es dir?"
"Bist du in Sicherheit?"
HK Leaks hatte Nancys Namen, Adresse und Telefonnummer im Netz veröffentlicht. HK Leaks war eine große, in Russland gehostete, pro-chinesische Website, die Demonstranten, Journalisten und Aktivisten ins Visier nahm und deren angebliche „Verbrechen“ detailliert auflistete. Neben Nancys Daten waren die von acht bekannten taiwanischen N.G.O.-Mitarbeitern und Politikern veröffentlicht worden. Nancy hatte keine Ahnung, warum sie im Datenleak auftauchte, aber man hatte ihr Foto, ihren Geburtstag, die Daten ihres Personalausweises, Baggios Namen und Details zu ihrem letzten Besuch im August veröffentlicht. Es hieß, sie habe „darüber gesprochen, Schlägern bei der Flucht nach Taiwan zu helfen“.
Nancy hatte geplant, zwei Wochen in Hongkong zu bleiben, aber ihre Freunde rieten ihr, früher abzureisen. Wenn sie noch länger bliebe, könnte auch sie verhaftet werden. Nancy wohnte innerhalb von einer Woche in vier Hotels, um sicherzugehen, dass man ihr nicht folgte, aber es war bereits zu spät. Sie erhielt Drohungen auf Facebook: „Glaub nicht, dir passiert nichts, nur weil du dich versteckst“, hieß es in einer Nachricht. „[…] Für die Köter von der Unabhängigkeitsbewegung kann es nur eine Lösung geben: Sie werden einen schrecklichen Tod sterben. Gib nur gut auf dein Leben acht...“ Es folgten Nancys Telefonnummer und Adresse. Immer wieder wurde versucht, ihr Handy und ihr E-Mail-Konto zu hacken.
Als Nancy das nächste Mal ein Visum für Hongkong beantragte, wurde sie abgewiesen.