Sonntag, 12. Mai 2024

Kommentar zum Bahn-Tarifstreit
Die EVG treibt den Konflikt auf die Spitze

Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft hat die Tarif-Verhandlungen mit der Deutschen Bahn für gescheitert erklärt und droht mit unbefristetem Streik. Das sei unverhältnismäßig, findet unser Autor. Die EVG belaste damit die Gesellschaft.

Ein Kommentar von Sebastian Engelbrecht | 22.06.2023
Der Vorsitzende der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), Martin Burkert schaut kritisch, im Hintergrund eine hellblaue Wand mit dem Schriftzug der Gewerkschaft.
Warnstreiks sind nicht ausgeschlossen, sagte der Vorsitzende der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), Martin Burkert. (IMAGO / dts Nachrichtenagentur)
Fünf Tage lang saßen die Unterhändler der Eisenbahngewerkschaft EVG und der Deutschen Bahn miteinander am Tisch. Es sah danach aus, als sei der Durchbruch geschafft. Man habe „intensiv“ verhandelt und sich „einvernehmlich“ vertagt, hieß es noch am Freitag. „Zahlreiche Kompromisslinien“ seien erarbeitet worden, teilte die EVG mit. Am Ende wurde bekannt, dass 140 Seiten „Tariftext“ fertig seien. Nach vier Monaten der öffentlichen Tarifauseinandersetzung, Warnstreiks, Annäherungen und Gesprächsabbrüchen schien die Einigung zum Greifen nahe.
Doch dann mussten die Verhandlungsführer der Gewerkschaft ihre Ergebnisse ihrer Zentralen Tarifkommission vorlegen – und die stimmte nicht zu. Auch dem Bundesvorstand reichte das Ausgehandelte nicht.

Schärfstes Schwert der EVG

Bei aller Sympathie für die Ziele der Gewerkschaft – das Verhalten der EVG in diesem Arbeitskampf ist nicht mehr zu begreifen. Die Deutsche Bahn hat einen Inflationsausgleich von 2850 Euro angeboten, dazu bis zu 12 Prozent mehr Lohn. Sogar der Streitpunkt Mindestlohn ist längst ausgeräumt. Nun stoßen sich die Gremien der Eisenbahnergewerkschaft noch an zwei Punkten: Sie fordern nach wie vor eine kürzere Laufzeit des Tarifvertrags als 27 Monate. Zudem wollen sie einen höheren Sockelbetrag erreichen, den alle Beschäftigten im Rahmen der prozentualen Erhöhung des Gehalts erhalten sollten.
Um diese Ziele zu erreichen, hätte die EVG nicht ihr schärfstes Schwert ziehen müssen, die Drohung mit einem unbefristeten Streik. Bei der geplanten Urabstimmung wird die Führung der Gewerkschaft die notwendige 75-Prozent- Zustimmung ihrer Mitglieder zum Streik mit Leichtigkeit erreichen. Dabei wäre es möglich gewesen, zumindest die Laufzeit am Verhandlungstisch zu verringern. Es wäre möglich gewesen, dem in Grundzügen fertigen Tarifvertrag mit den Mitteln der Vernunft den letzten Schliff zu geben.

Die EVG überzieht

Stattdessen bevorzugen die Arbeitnehmervertreter das ganz große Drama: Urabstimmung, gleichzeitig möglicherweise Warnstreiks und oben drauf eine unbefristete Niederlegung der Arbeit. Die EVG überzieht. Ihr jüngster Schritt ist nicht verhältnismäßig. Zum Beginn der Sommerferien trifft sie mit ihren Ankündigungen vor allem Urlauber, die ihre Reisen nicht mehr verlässlich planen können. Die EVG hält eine ganze Gesellschaft in Atem, denn möglicherweise wird sie auch den S-Bahn- und Regionalverkehr der Bahn bald lahmlegen.
Mit der Ankündigung einer Urabstimmung über einen unbefristeten Streik durch die Eisenbahnergewerkschaft sind die Tarifverhandlungen nun für fünf Wochen zur Erstarrung verdammt. So lange dauert der Abstimmungsprozess innerhalb der EVG. Die Gesellschaft hätte in unruhiger Zeit anderes verdient: einen Kompromiss.
Korrespondent Sebastian Engelbrecht
Sebastian Engelbrecht, geboren 1968 in Berlin, besuchte die Deutsche Journalistenschule in München und studierte Evangelische Theologie in Heidelberg, Berlin und Jerusalem. Promotion an der Universität Leipzig. Er war von 2008 bis 2012 ARD-Hörfunk-Korrespondent in Tel Aviv und anschließend Referent des Intendanten von Deutschlandradio. 2017-2018 unterwegs im In- und Ausland als Dlf-Reporter. Seit 2019 ist Sebastian Engelbrecht Korrespondent im Landesstudio Berlin von Deutschlandradio in Berlin-Mitte.