
Der Untergang des Abendlandes wurde ebenso diagnostiziert wie das Verschwinden des Eigentums oder das Ende der Ideologie. Zuletzt war nun viel davon die Rede, woran die Demokratie zugrunde gehen könnte.
Wo das Ende diagnostiziert wird, geht es vor allem darum, die schlimmsten Folgen abzuwenden. So bezeichnet sich Teil der Jugend als „Letzte Generation“, das Ende des bewohnbaren Planeten ist ihr Thema. Umsteuern ist ihr Ziel, damit die nächsten Generationen doch noch ganz gut leben können.
Im Zeichen der nuklearen Bedrohung wurde vor 40 Jahren ganz ähnlich gesprochen, auch da war das Ende präsent. Wie ist diese Angstlust zu verstehen?
Jürgen Kaube, geboren 1962, ist Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. 2015 erhielt er den Ludwig-Börne-Preis. Er hat unter anderem eine beachtliche Max Weber-Biographie geschrieben („Max Weber – Ein Leben zwischen den Epochen“, 2014), für „Hegels Welt“ (2021) wurde er mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet. Mit Büchern wie „Otto Normalabweicher“ (2007) oder „Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder“ (2019) mischt er sich immer wieder in aktuelle Debatten ein, dazu gehört auch das mit dem Soziologen André Kieserling geschriebene Werk „Die gespaltene Gesellschaft“ (2022).
Seit 1947 gibt es die „Doomsday Clock“, die Weltuntergangsuhr. Eine Gruppe von Physikern aus Chicago, die im Manhattan-Projekt der Vereinigten Staaten zur Konstruktion einer Atombombe gearbeitet hatte, bildete diese Uhr auf dem Umschlag ihrer Zeitschrift Bulletin of the Atomic Scientists ab. Seitdem steht sie auf jedem Cover des Magazins. Im Juni 1947 wurde die Weltuntergangsuhr auf sieben Minuten vor Mitternacht gestellt. Die Wissenschaftler wollten zwei Jahre nach dem atomaren Angriff der Amerikaner auf Hiroshima und Nagasaki zum Ausdruck bringen, wie nahe sie die Menschheit vor einer globalen Katastrophe stehen sahen.
Zur nuklearen Kriegsführung sind heute neun Nationalstaaten in der Lage. Im Atomwaffensperrvertrag von 1968 haben die Unterzeichnerstaaten, die damals keine Atomwaffen besaßen, sich verpflichtet, auch fürderhin keine zu erwerben. Die fünf offiziellen Atommächte, die es damals gab, verpflichteten sich im Gegenzug zu umfassenden Abrüstungsverhandlungen. Nicht unterzeichnet haben den Atomwaffensperrvertrag unter anderem Indien, Pakistan und Israel.
Seit 1947 sind zum Atomkrieg neue Vorstellungen vom Weltuntergang hinzugekommen. Erstmals wurden 1956 die Folgen des gesellschaftlich bedingten Klimawandels und insbesondere der Anstieg des Meeresspiegels als erdgeschichtliche Katastrophe bezeichnet. Seit Ende der siebziger Jahre wird der Begriff „Klimakatastrophe“ verwendet. Von der COVID-19-Pandemie wurde von Januar 2020 an weltweit jedes Land erreicht, am Ende hatte sie geschätzt weltweit fünf Millionen Todesopfer und hätte ohne zügig entwickelte Impfstoffe noch viel mehr Leben gekostet. Andere Virusinfektionen wie das Ebola- oder das Marburg-Fieber lassen ebenfalls Ängste vor ihrer globalen Verbreitung aufkommen. Von künstlich erzeugten multiresistenten Viren oder ihrem Einsatz als Biowaffen ganz zu schweigen. Zu diesen befürchteten Weltkatastrophen ist inzwischen auch die Fantasie einer nicht rückholbaren Ermächtigung der künstlichen Intelligenz über alle Dimensionen unseres Lebens hinzugekommen.
Die Wissenschaftler des Bulletin oft he Atomic Scientists erwähnen alle diese Gefahren. Nach Jahren abnehmender Sorge vor Atomkriegen ist außerdem, ausgelöst durch den Krieg in der Ukraine sowie die Konflikte im Nahen Osten und das Nachdenken über nukleare Bewaffnung in vielen Ländern, auch diese Sorge wieder angestiegen. 1991 sahen uns die Chicagoer Physiker 17 Minuten vor Mitternacht, was der längste Abstand seit Erfindung der Uhr war. Im Januar 2025 haben wir den kürzesten Abstand jemals erreicht. Die Doomsday Clock sieht uns heute nur noch 89 Sekunden von einer globalen Katastrophe entfernt.
Zu beachten ist allerdings: Der Zeigerstand der Weltuntergangsuhr meint keinen zeitlichen Abstand. Das Bild „Fünf vor Zwölf“ steht vielmehr für die Wahrscheinlichkeit einer Zerstörung der Welt. Die Zeitangabe entspringt überdies keiner Messung, sondern dem Eindruck einer Forschergruppe. Ihre Gefahreneinschätzung bezieht sich dabei auf ganz unterschiedliche Quellen globalen Unheils. Teils geht es auf politische und militärische Entscheidungen zurück, teils handelt es sich um Nebenfolgen kollektiven Handelns, etwa des Konsums, des Stromverbrauchs oder der Mobilität, teils sind es auch technologische und biomedizinische Eigendynamiken, die zugleich erhofft wie befürchtet werden. Der Weltuntergang, vor dem gewarnt wird, droht also aus ganz verschiedenen Richtungen. Deshalb wären zur Abwehr der jeweiligen Gefahren auch ganz unterschiedliche Prozesse nötig: Abrüstung, Lenkung des Energieverbrauchs, Zurückhaltung im Konsum, wissenschaftliche Forschung.
Wer auf technologische und biomedizinische Innovationen zur Abwehr von Weltverwüstungen setzt, muss überdies deren Dialektik in Rechnung stellen: Schon die Atombombe sollte einen Weltkrieg beenden. Ermöglicht war ihre Konstruktion außerdem durch Erkenntnisgewinne, die zunächst völlig außerhalb militärischer Zusammenhänge stattfanden. Später war von der „friedlichen Nutzung“ der Kernenergie die Rede. Diese Dialektik ist nichts Neues: Mit Feuer kann man kochen oder Siedlungen niederbrennen.
Kompliziert wird die Einschätzung der Möglichkeiten, die Doomsday Clock auf einen größeren Abstand zu Mitternacht zurückzustellen, also durch die Wechselwirkung von globalem Segen und globalem Unheil. Dieselbe Forschung, die sich dem medizinischen Fortschritt in der Bekämpfung von Viruskrankheiten widmet, kann zur Quelle von Epidemien werden, wenn die Viren nicht im Labor bleiben. Dieselbe Geldwirtschaft, aus der die Mittel für Forschung und Umweltschutz stammen, lebt vom ungeheuren Energieverbrauch, der, was das Klima angeht, in die Misere führte. Dieselbe Atomenergie, die weitgehend CO2-neutral funktioniert und damit einen gesellschaftlich erwünschten Beitrag leisten kann, geht mit dem erheblichen Risiko katastrophaler Entwicklungen einher. Dieselbe Aufrüstung, die zur Gefahr nuklearer Kriege geführt hat, soll als Mittel der Abschreckung helfen, sie zu verhindern.
Mit anderen Worten: Das Ausmaß der Gefahr globaler Katastrophen mag mittels eines einfachen Mechanismus, mittels einer Uhr nämlich, abgebildet werden. Die globalen Gefahren selbst entspringen aber keiner einfachen Mechanik. Es würde deshalb, selbst wenn man wüsste, wie es zu bewerkstelligen wäre, nicht helfen, auf technologischen Fortschritt zu verzichten, auf wirtschaftliches Wachstum oder auf militärische Macht, um die Weltuntergangsprobleme loszuwerden. Das Gute und das Schlechte wachsen in unserer Gesellschaft gleichermaßen und aus denselben Gründen. Entwürfe einer Weltgemeinschaft, in der kein Unheil mehr anzutreffen wäre, weil die Quellen des Unheils trockengelegt wären, greifen darum an unserer paradoxen Situation vorbei.
Die berühmte Dialektik der Aufklärung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die in ihrer endgültigen Fassung im selben Jahr 1947 publiziert wurde wie die Doomsday Clock, sagte genau dies: Dieselbe Aufklärung, an die sich alle Hoffnungen auf einen Ausgang aus dem Ausgeliefertsein an Natur und Herrschaft knüpfen, dieselbe Aufklärung bringt Ausgeliefertsein an die zweite Natur der Gesellschaft und erhebliche Unterdrückung hervor.
Weniger pathetisch formuliert: Wir können das, was uns als globales Unheil erscheint, nicht auf Distanz bringen, denn es stößt uns nicht von außen zu. Anders als in vielen Science-Fiction-Fantasien ziehen nicht Angriffe aus dem All die größte Angst auf sich. Anders als in der Offenbarung des Johannes, dem Vorbild vieler Apokalypsen, sind es keine mythologischen Wesen, keine mit Posaunen versehenen Engel, die den Untergang bewirken. Wir selbst sind es.
Das trennt unsere Vorstellungen von der Weltzerstörung von älteren religiösen Erwartungen, das Weltende gehe von Gott aus. Die Prophezeiungen mancher Sekten, die ständig ein neues Datum des Endgerichts ansetzen, sind deshalb nicht nur hilflos, weil sie sich ständig korrigieren müssen. Sie verfehlen vielmehr das Besondere unserer Situation. In älteren Gesellschaften konnte eine Wirksamkeit auf die ganze Welt nur den Göttern und später einem einzigen Gott zugeschrieben werden. Unterdessen hat die Menschheit längst diese Stelle des planetarischen Überblicks und der planetarischen Auswirkungen ihres Handelns besetzt.
Der Begriff des „Weltkriegs“ als eines zerstörerischen Konflikts, der die ganze Welt ergreift und jeglichen Nationalstaat in sich hineinzieht, kam schon im 19. Jahrhundert auf. Anschaulich wurde er durch den von Europa aus auf den ganzen Globus ausstrahlenden Krieg von 1914 bis 1918. Dass es sich um den „Ersten Weltkrieg“ handelte, hielten erstmals 1920 der britische Offizier und Kriegsberichterstatter Charles à Court Repington und kurz darauf der deutsche Dichter Stefan George fest. Der Begriff unterstreicht, was bis heute gilt: Die Welt als Ganze und das Erfasstwerden dieses Ganzen durch einen einzigen Konflikt ist ein empirischer Tatbestand und nicht nur eine religiöse Fantasie.
Das führt zu einem zentralen Element der Weltuntergangsuhr, zur Vorstellung eines „Doomsday“. Denn es ist eines, von grauenhaften Geschehnissen, Massentötungen und Massensterben zu sprechen, ein anderes aber ist es, dafür Begriffe wie „Apokalypse“ oder eben „Weltuntergang“ zu verwenden. Das galt schon für die Atombomben am Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Abwürfe über Hiroshima und Nagasaki waren für die Bewohner dieser Städte die Hölle. Ob sie jedoch die ganze Welt in eine Hölle verwandelt haben, steht dahin. Das globale Atomwaffenpotential heute wäre gewiss imstande, den gesamten Erdball unbewohnbar zu machen. Doch das würde voraussetzen, dass die meisten Nuklearbomben in kurzer Abfolge gezündet würden und ein Krieg sich so homogen über den Globus erstrecken würde, bis das so geschehen ist. Erst dann wäre die Welt untergegangen und nicht nur große Teile von ihr.
Daraus, dass das buchstäblich verstandene Weltende unwahrscheinlich ist und jedenfalls bislang immer nur eine, aber nicht die Welt untergegangen ist, lässt sich angesichts des Schreckens nicht viel Trost ziehen. Doch ab welchem Ausmaß von Verheerung von „Apokalypse“ und „Weltuntergang“ gesprochen werden sollte, bleibt eine offene Frage. „Jede Welt geht zu ihrer Zeit auf ihre Art unter“, schreibt der Philosoph Hans Blumenberg. Das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755, als die Frage nach dem gütigen Gott und den Weltübeln noch bestimmend war, erschütterte deshalb das zeitgenössische Bewusstsein ganz anders als der Tsunami im Indischen Ozean des Jahres 2004, der sich der Art nach gar nicht von dem Ereignis des 18. Jahrhunderts unterschied.
Die Frage nach dem Sinn des Wortes „Weltuntergang“ ist vor allem deshalb schwer zu beantworten, weil seit langem schon alles Mögliche als „Apokalypse“, „Hölle“ oder als „Armageddon“ bezeichnet wird. Die Begriffe sitzen sehr leicht, sie werden offenkundig rhetorisch verwendet und erscheinen dadurch abgenutzt.
Als Donald Trump im Jahr 2016 erstmals zum amerikanischen Präsidenten gewählt wurde, bildete das Nachrichtenmagazin Der Spiegel einen riesigen brennenden Kometen ab, der Trumps Kopf ähnlich war und auf die Erde zuraste.
Ein weiteres gegenwärtiges Beispiel ist der vielzitierte Ausdruck des SPD-Politikers Rolf Mützenich, Friedrich Merz habe das „Tor zur Hölle“ aufgestoßen, als seine Fraktion im Bundestag einen Entschließungsantrag zur Einwanderungspolitik einbrachte, der Zustimmung durch die AfD fand. Auch das war ein Beispiel für die Rhetorik der Übertreibung mittels religiöser Bilder und Vokabeln. Man könnte auch sagen: ein Beispiel für die Verwendung drastischer Worte zur Erzeugung dramatischer Gesten. Oder noch knapper: ein Beispiel für politischen Kitsch.
Die „Letzte Generation“ ökologischer Aktivisten wiederum suggeriert in ihrem Namen, es gehe mit der Welt bald zu Ende, weil sie die letzte Generation sei, die noch etwas gegen die Klimakatastrophe tun könne.
Auf einem ganz anderen Gebiet sieht der Philosoph Alexander Dugin, ein Ideologe Wladimir Putins, Russland in einem Kampf mit dem Antichristen, der bekanntlich am Ende der Zeiten kurz vor der Wiederkehr Christi stattfindet. Dieser Antichrist ist für Dugin die westliche Welt.
All diese Begriffsverwendungen sind unterschiedlich ernst gemeint und von ganz unterschiedlicher Boshaftigkeit. Zwischen Rolf Mützenich, der Letzten Generation und Alexander Dugin gibt es keine politischen Gemeinsamkeiten. Gemeinsam aber dokumentieren sie und die vielen weiteren Beispiele, die sich geben ließen, den hohen Verbrauch an religiöser Krisensprache, der unsere Gesellschaft charakterisiert. Das Weltende, das letzte Gefecht und die Hölle stehen ständig und überall und aus allen Richtungen bevor.
Ihrer religiösen, jüdisch-christlichen Herkunft nach wird die Vorstellung einer Apokalypse von der Erwartung begleitet, ihr Schrecken werde vom Aufgang einer neuen Welt, eines neuen goldenen Zeitalters überwunden. Der chiliastischen Formel, es müsse erst ganz schlimm werden, bevor es nach dem letzten Gefecht dann ganz gut werde, haben sich geschichtsphilosophische Heilserwartungen bis tief hinein in den Marxismus bedient.
Diese ältere Abfolge von Apokalypse und neuer Welt, der Zusammenhang von Vernichtung und Erlösung entfällt in den Doomsday-Bildern des 20. und 21. Jahrhunderts. Die ersten Nuklearmächte, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, standen sich als Vertreter entgegengesetzter Fortschrittskonzepte gegenüber, die jeweils durch Marktwirtschaft und Sozialismus und auf beiden Seiten durch den technischen Fortschritt die globale Beseitigung der wichtigsten Weltübel in Aussicht stellten. Niemandem jedoch, der den nuklearen Krieg befürchtete, half über seinen Schrecken hinweg, dass am Ende immerhin der Sieg der jeweils sich für gut Haltenden stehen sollte. Anders als in den alten Apokalypsen, etwa derjenigen des Johannes, bestand nicht die Aussicht auf den Untergang einer ganzen sündenbeladenen Welt, die durch eine völlig neue, paradiesische ersetzt würde.
Der Sieg der einen über die andere Welthälfte, der allenfalls Hoffnungen auf sich zog, wurde schließlich ohne Apokalypse erreicht. Das Sowjetimperium zerfiel aus wirtschaftlicher Schwäche, aufgrund der Überlastung seines politischen Systems und aufgrund des Widerstands katholischer polnischer Werftarbeiter, die dem System den entscheidenden Haarriss beigebracht hatten.
Auch die ökologische Katastrophe legt durch ihre allmähliche Dynamik nur nahe, sie aufhalten oder aufschieben zu wollen. Auch hier entfällt das letzte Gefecht, denn die Rettung soll innerhalb bestehender Strukturen und mittels eingeführter Verfahren bewirkt werden. Deutlich wird dieser Unterschied zu den tradierten Vorstellungen vom Weltuntergang in einem heute anrührend wirkenden Satz der ehemaligen Bundestagsabgeordneten Petra Kelly: „Die Menschheit ist verloren. Nur wenn Grüne gewählt werden, wird sie errettet.“ Auch hier ist das Echo religiöser Stimmungen zu vernehmen. Aber es wird kein Endkampf angestrebt, sondern veränderte Mehrheiten.
Die angebliche demographische Katastrophe entzieht sich schließlich ganz der Zeitform zunehmender Beschleunigung einer Krise. Dazu dauern demographische Veränderungen einfach zu lange. Es sei nicht fünf vor zwölf, es sei 30 Jahre nach zwölf, notierte folgerichtig einst der Demograph Herwig Birg für die überalterte Gesellschaft. Der mitternächtliche Glockenschlag konnte also überhört werden, der „Doomsday“ dehnt sich zu einer ganzen Untergangsepoche. Dem Fortpflanzungsverhalten der Menschheit fehlt bei erheblichen Folgen jegliche kollektive Dramatik, nicht zuletzt deshalb, weil es auf millionen- und milliardenhaften Einzelentscheidungen beruht und sich nicht auf einen Schlag ändert.
„Weltuntergang“ und „Apokalypse“ werden also, wenn sie, um hervorzutreten, großer Zeiträume bedürfen, zu bloßen Metaphern. Halten wir darum fest: Der gegenwärtige Gebrauch von Begriffen wie „Apokalypse“ oder „Weltende“ hat sich stark von ihrer hergebrachten Verwendung abgelöst. Weder geht mit ihnen der Gedanke an ein letztes Gefecht einher, dessen Sieger alles besser machen wird, noch sind sie überhaupt in eine Geschichtsphilosophie mit religiösen Endabsichten eingebunden. Zumeist handelt es sich um maßlose Übertreibungen mit dem leicht erkennbaren Zweck der Erzeugung von Aufmerksamkeit. Im Rückblick gilt das sogar für die biblischen Prophezeiungen der Apokalypse. Versprochen war den Jüngern im Markusevangelium, manche von ihnen würden den Tod noch nicht geschmeckt haben, bevor Christus wiederkomme. Doch was kam, war nicht das Weltende, was kam, war die katholische Kirche.
Dort, wo die Zerstörung ungeheurer Mengen an Leben und die Verwüstung ungeheurer Mengen an Lebensräumen eine tatsächliche Bedrohung darstellt, im Bereich des Nuklearwaffeneinsatzes und der ökologischen Verwüstung, hat die Apokalyptik jede Form des Kampfes zwischen Gut und Böse abgestreift. Die jeweiligen Konfliktparteien versuchen zwar mitunter, ihre Gegner dem Reich des Bösen zuzuordnen, wahlweise dem Kapitalismus, dem Fundamentalismus oder der Tyrannei. Aber weder der Massenkonsum noch die Finanzmärkte, weder die Autofahrer noch die Freunde des Grillens, weder Donald Trump noch die Staaten mit Atomwaffen eignen sich, bei aller moralischen Fragwürdigkeit, als Repräsentanten des Antichristen, des Satans oder des Weltendes.
Warum greifen solche personalisierten Vorstellungen von den Auslösern eines Weltuntergangs an unserer gegenwärtigen Situation vorbei? Weshalb genügt es nicht einmal, abstraktere Komplexe wie den Kapitalismus, politische Gruppierungen oder einzelne Nationalstaaten für die Gefährdung der Menschheit verantwortlich zu machen?
Die Antwort liegt in verschiedenen Eigenschaften weltweit sich verbreitender Vorgänge. So konnte es zu Weltkriegen nur kommen, weil die Nationalstaaten in Bündnissen fast unübersehbar miteinander verflochten waren. Hinzu kam die weltweite Erweiterung der nationalen Interessenssphären durch den Kolonialismus. Hinzu kam vor allem die mimetische Konkurrenz vieler politischen Mächte, die unter Einsatz von grausamen Ideologien nach Imperien vor allem deshalb strebten, weil andere schon eines hatten. Vor allem das nationalsozialistische Deutschland tat sich mit seinem Bedarf an Revanche, Expansion und eliminatorischen Raubzügen hervor. Überall auf der Welt entstanden so Anlässe für unversöhnliche Konflikte, die Flächenbrände entzündeten. Am Ende gab es dann fast niemanden mehr, der nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Eine zweite Eigenheit der zu apokalyptisch eingefärbten Weltkriegen fähigen Weltgesellschaft ist die Verflechtung ihrer Funktionsbereiche. Scharfe politische Konflikte haben in ihr sogleich wirtschaftliche Folgen, weil die Trennbarkeit der politischen Passionen von den ökonomischen Interessen allenfalls im Frieden möglich ist, aber nicht im Krieg. Von Napoleons Versuch einer Kontinentalsperre gegen England über den Versailler Vertrag von 1918 bis zu den gegenwärtigen Handelskriegen ist die Zahl der Belege für eine politische und eben nicht kosmopolitische Ökonomie Legion. Umgekehrt geht die Verteilung der fossilen und geologischen Ressourcen in die Form der politischen Koalitionsbildungen ein. Was den einen als rein wirtschaftlicher Sachverhalt erscheint - etwa, dass es wohlhabende und arme Staaten gibt -, betrachten die anderen als das Ergebnis kolonialer Machtausübung und darum als Rechtfertigung politischer Feindseligkeit. Religiöse Gegnerschaften wiederum, etwa die des fundamentalistischen Islams zur Welt der für ihn Ungläubigen, führen ganz leicht zu terroristischen Aktionen, die wiederum Kriege auszulösen vermögen.
So springt die Bereitschaft zu Gewalt von einem Funktionsbereich auf den benachbarten über. Der Hunger und die politische Repression in einem Weltteil führt zu Massenmigration in andere Weltgegenden. Diese Massenmigration führt zu Aversionen nicht nur in den Einwanderungsländern, sondern auch zu solchen zwischen ihnen. Diese Aversionen wiederum sowie die Schwierigkeiten der Politik, die Integration der Einwanderer zu finanzieren, werden von nationalistischen Parteien bewirtschaftet. Nichts lässt sich mehr trennen, die ökologische Krise und der Krieg um Ressourcen nicht von der Migration, die Migration nicht vom Zustand der lokalen Wohlfahrt und deren Zustand nicht von der Zustimmung zum Rechtsstaat.
Nichts lässt sich mehr trennen, alles aber lässt sich politisch bis zum Äußersten aufheizen. So entsteht ein globales Klima allgemeiner Reizbarkeit und der generalisierten Suche nach Sündenböcken. Sie findet inzwischen in einer ideologisch entdifferenzierten Welt statt, in der es in China den Kapitalismus einer kommunistischen Partei gibt, in Russland eine tyrannisch beherrschte Extraktionsökonomie mit Reichsfantasien anstelle einer Modernisierungsidee, in Nordamerika eine Demokratie mit einer amoklaufenden Exekutive und in Europa einen Staatenbund ohne Armee, dem nicht einmal die faire Verteilung von Flüchtlingen in sein Gebiet gelingt.
Die historische Welt der Staatenduelle, die mit Kriegserklärungen begannen und nicht auf die Auslöschung des Gegenübers zielten, oder die aufgeteilte Welt der beiden großen politischen Blöcke mit festen ideologischen Gegensätzen erscheint gegenüber dieser Situation leicht antiquiert. Im Vergleich zu ihr ist die Suche nach Sündenböcken, die seit jeher etwas Verlogenes hatte, gegenwärtig ganz orientierungslos geworden. Schon immer war die Behauptung, die Kommunisten seien schuld oder die Kapitalisten, die Linken oder die Rechten, die Katholiken, die Juden oder die Atheisten, die Amerikaner oder die Franzosen, gewalttätig an den Haaren herbeigezogen.
Heute haben sich solche Schulderklärungen vervielfacht, was apokalyptische Redensarten erheblich begünstigt. Die „Anderen“, die an allem Schuld sind, haben heute noch mehr Namen als früher. Weil aber alles, woran sie Schuld tragen, zusammenhängt und eine ganze Welt ausmacht, müssen für das apokalyptische Bewusstsein auch die vielen Schuldigen untereinander zusammenhängen: Die Kapitalisten und die Faschisten und die Konservativen und die Brüsseler Technokraten einerseits, die Grünen und die Etatisten und die Feministen, der öffentliche Rundfunk und die Universitäten andererseits. Aus dem Bereich des radikalen politischen Islam ließen sich ähnliche Schuldlisten zusammenstellen, auf denen dann die Ungläubigen, der Westen, die Weltbank, Israel und die Juden sowie die Vertreter individueller Freiheitsrechte stehen.
Die Welt ist also technologisch hochgerüstet und gedanklich stark verwahrlost. Beides zusammen ergibt die apokalyptische Stimmung des Eindrucks, es stünden letzte Gefechte bevor. Fast scheint es, als leide die Gesellschaft am Phantomschmerz der nicht geschlagenen Schlachten aus der Vergangenheit, als vermisse sie so verzweifelt die Gegnerschaften von gestern, dass sie umso weniger wählerisch ist im Erfinden neuer absoluter Feinde.
Aus Forschungen zur politischen Polarisierung wissen wir, dass die Bereitschaft, autoritäre Politiker zu wählen, die keinen Zweifel daran lassen, dass ihnen der Rechtsstaat nicht so wichtig ist, mit dem Ausmaß an Feindseligkeit gegenüber den politischen Gegnern steigt. Wenn die anderen unglaublich bösartig sind, nimmt man leichter in Kauf, was einem das eigene politische Lager zumutet. Trump mag lügen, heißt es dann, aber die Demokraten lügen ja noch viel mehr und noch viel schlimmer. Trump kümmert sich vielleicht nicht um Gerichtsurteile, heißt es, aber die Richter sind ja ihrerseits politisch nicht neutral und kümmern sich nicht um den Mehrheitswillen. Trump fährt mit den Universitäten Schlitten, aber was ist an den Universitäten zuvor nicht alles propagiert worden. Kurz: Die auf der politisch anderen Seite sind so schlimm, dass jedes Mittel, das gegen sie eingesetzt wird, gerechtfertigt ist. Denn wir befinden uns, so die Rhetorik, in einem Kampf um das Ganze.
Die Rhetorik, den eigenen Mitteleinsatz durch die Dämonisierung der Gegner und die Beschwörung einer apokalyptischen Situation zu rechtfertigen, ist nicht auf den autoritären Populismus beschränkt. Das unter dem Motto „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ ausgelebte urtümliche Vergnügen daran, eine Wirklichkeit zu zerstören - ob mit der Kettensäge, mit der Kalaschnikow oder mit Flugzeugen, die in Twin Towers gelenkt werden - wächst überall in dem Maße, in dem sie als Inbegriff dessen dargestellt wird, was nicht sein soll. Als Hölle, als Abgrund der Unvernunft und der Bösartigkeit.
Die Lehre aus den europäischen Konfessionskriegen des 17. Jahrhunderts war es, von einer solchen Theologisierung des politischen Konflikts abzusehen. Nicht nur wurde gesehen, dass Kriege, die für eine Konfession geführt werden, Gewalt bis zum Äußersten entbinden. Es entstand umgekehrt auch der Eindruck, der Fanatismus entspringe nicht allein religiösen Überzeugungen. Vielmehr erschien er politisch attraktiv, um die aktive wie passive Opferbereitschaft zu erhöhen. Wem es gelingt, den Eindruck zu vermitteln, das Tor zur Hölle werde gerade geöffnet, die politischen Gegner beabsichtigten Ungeheuerliches, es stehe das Gute selbst, die Menschheit oder die Demokratie auf dem Spiel. Wer für Gott oder für religiös besetzte Ersatzsymbole (die Nation, den Glauben, letzte Werte) kämpft, kann seinen eigenen Leuten erheblich mehr abverlangen als Politiker, denen es nur um die Erfüllung von Wählerwünschen geht. Wer würde, wenn alles auf dem Spiel steht, nicht sogar von den eigenen Interessen absehen, ganz zu schweigen von Kompromissbereitschaft oder Selbstzweifeln?
Fassen wir zusammen: Die Apokalypse eines Weltkrieges unter Atommächten oder der ökologischen Weltverwüstung mit der Folge immenser politischer Konflikte ist im gegenwärtigen Weltzustand eine Möglichkeit. Zu sehr sind die gesellschaftlichen Kräfte ineinander verflochten, zu sehr erstrecken sich die Auswirkungen dessen, was in einer Region der Welt geschieht auf alle anderen Regionen, als dass globale Katastrophen ausgeschlossen werden könnten. „Beschwichtigen“, kann man mit dem Religionswissenschaftler René Girard sagen, „heißt: zum Schlimmsten beitragen“.
Zugleich leben wir in einer Gesellschaft der Instrumentalisierung des apokalyptischen und endzeitlichen Vokabulars zu politischen und massenmedialen Zwecken. Seit fast niemand mehr an den Teufel oder das Weltende glaubt, hat sich die Zahl der Teufel und der beschworenen Weltuntergänge stark vermehrt. Nicht nur in den Romanen und Kinofilmen, sondern auch im öffentlichen Gespräch. Übertreiben heißt insofern ebenfalls zum Schlimmsten beitragen. Weil es das Gespür für die Unterscheidung zwischen dem nur so oder nur zu niederträchtigen Zwecken Dahingesagten und der tatsächlichen Gefahr abtötet, in der wir leben. Ob es angemessen war, die Doomsday Clock im vergangenen Januar auf 89 Sekunden vor Mitternacht zu stellen, kann niemand wissen. Wer sich hingegen sicher ist, dass wir viel weiter von einer globalen Katastrophe entfernt sind, den können wir nur - bewundern.