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Erneute Aufklärung
Wissenschaft und ihre Erkenntnisse brauchen Vertrauen

In der Pandemie ist ein grundsätzliches Problem moderner Gesellschaften offenbar geworden: Erkenntnisse der Wissenschaften, von denen unser Leben abhängt, lassen sich durch natürliche Erfahrung, unmittelbaren Augenschein oder sinnliche Evidenz nicht beglaubigen. Oft genug widersprechen sie unseren Erfahrungen.

Von Jochen Rack | 27.02.2022
Blick in eine Pfizer-BioNTech-mRNA-Produktionsstätte in Puurs, Belgien. In einem langen Gang stehen links und rechts Reihen von Maschinen.
Was bei der Herstellung von mRNA-Seren auf der molekularen Ebene vor sich geht, bleibt für die meisten im Verborgenen (imago images/Stephanie Lecocq/Reporters)
Die Erkenntnisse der Wissenschaften sind für den Laien kaum begreiflich. Die sogenannte Impfskepsis und der teils sture, teils militante Widerstand gegen das Impfen resultieren auch aus einem tiefergehenden Unbehagen an der szientifischen Kultur: Wissenschaftliche Erkenntnisse führen zu kognitiver Überforderung und existentieller Verunsicherung.

Die Welt ist kompliziert, prominente Sportler wie Joshua Kimmich und Novak Djokovic sind nicht die einzigen, die sich schwer tun, denn eine Entscheidung für oder gegen die Corona-Impfung lässt sich ohne virologisches Fachwissen kaum sinnvoll treffen. Da wir als Bürger von Epidemiologie und Immunologie in der Regel kein zureichendes Verständnis haben, müssen wir auf den Rat von Experten vertrauen.
Bei einer Frage von Leben und Tod sind Angst und Zweifel unvermeidlich. In der Pandemie wird ein grundsätzliches Problem moderner Gesellschaften offenbar: Die Erkenntnisse der Wissenschaften, von denen unser Leben abhängt, lassen sich durch natürliche Erfahrung, unmittelbaren Augenschein oder sinnliche Evidenz nicht beglaubigen, ja oft genug widersprechen sie der lebensweltlichen, leiblichen, sinnlichen Erfahrung.

Der Augenschein trügt

Im alltäglichen Leben sind wir Ptolemäer: Die Sonne dreht sich um die Erde, obwohl wir seit Galileo Galilei und Nikolaus Kopernikus wissen, dass es sich genau anders herum verhält. Der Augenschein trügt. Das ist im Makrokosmos genauso wie im Mikrokosmos. Das Corona-Virus können Wissenschaftler durch Elektronenmikroskope sehen, Normalbürger müssen sich mit Fernsehbildern von Impfstofflaboren begnügen, in denen Mitarbeiter mit Pipetten hantieren. Was bei der Herstellung von mRNA-Seren auf der molekularen Ebene vor sich geht, bleibt im Verborgenen.
„Die Lage wird dadurch so kompliziert, dass weniger denn je eine einfache ‚Wiedergabe der Realität‘ etwas über die Realität aussagt.“
„Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht.“
Das bemerkte schon vor 100 Jahren Bertolt Brecht. Er hatte als Beispiel Fotografien der Krupp-Werke oder der AEG vor Augen, heute lässt sich seine Aussage auf die Produktionsstätten von BioNTech/Pfizer oder Moderna übertragen.

Erkenntnisse führen zu kognitiver Überforderung

Die Erkenntnisse der Wissenschaften und die Techniken ihrer Anwendung sind für den Laien kaum begreiflich. Die sogenannte Impfskepsis und der teils sture, teils militante Widerstand gegen das Impfen resultieren auch aus einem tiefergehenden Unbehagen an der szientifischen Kultur: Wissenschaftliche Erkenntnisse führen zu kognitiver Überforderung und existentieller Verunsicherung.
Die „kopernikanische Mobilmachung“ erzeugt Schwindelgefühle, schrieb Peter Sloterdijk schon während der Ökologiekrise der 1980er Jahre:
„Die Hilflosigkeit der Zivilisationsbürger gegenüber ihrem eigenen Entwicklungstaumel hat die Hilflosigkeit des Frühmenschen vor gnadenlosen Umwelten eingeholt.“

Wissenschaftsfeindlichkeit bedroht unser Gemeinwesen

Wissenschaftliche Fachexpertise und ptolemäischer Alltagsverstand finden nicht mehr zueinander. Die Reaktion auf Hilflosigkeit und Desorientierung kann der Rückzug auf vermeintliches Körperwissen in der Heil- und Esoterikszene sein, aber auch wütendes Querdenken und der Glaube an Verschwörungserzählungen. Eine ptolemäisch verbissene Wissenschaftsskepsis oder Wissenschaftsfeindlichkeit bedroht unser Gemeinwesen.
Diese „Dialektik der Aufklärung“ ist alles andere als neu. Die Welt war immer schon furchteinflößend und schwer zu begreifen. Um ihre Angst vor der Natur zu bannen, erschufen die Menschen Mythen, die Ordnung ins Chaos bringen und Lebenssicherheit stiften sollten.
Die ältesten Kulturzeugnisse des Homo sapiens sind Tiermalereien in den prähistorischen Höhlen der Dordogne oder Statuetten aus der Vogelsteinhöhle von der schwäbischen Alb: Ausdruck animistischer Verehrung und Beschwörung bedrohlicher Naturkräfte. In der Höhle von Lascaux gibt es das Abbild eines Mannes mit erigiertem Glied und Vogelkopf, den Anthropologen als Schamanen deuten. Solche steinzeitlichen Priester mögen im Innern der Höhlen, die man als Uterus und Geburtskanäle der Erde verstehen kann, Rituale praktiziert haben, um die Angst vor den Naturkräften zu bannen.

Wissenschaftliche Erklärungen ersetzen Mythen

Die Höhlenbilder sind Weltbilder. Zwar bieten sie keine wissenschaftliche Erklärung der Natur, aber sie sind ihr Anfang, denn „schon der Mythos ist Aufklärung“, schreiben Horkheimer und Adorno.
Indem der Mensch die Wesen und Kräfte seiner Welt benennt und in erzählerischen Zusammenhang setzt - zum Beispiel berichtet Hesiods Theogonie von den Abstammungsverhältnissen der Götter - unterwirft er sie der Vernunft und macht sie tendenziell beherrschbar. Im Prozess der Aufklärung werden dann die Mythologien, die die Welt aus einem heiligen, göttlichen Ursprung heraus erklären, sukzessive abgelöst durch wissenschaftliche Erklärungen, die vor allem mit Zahlen operieren.
Mathematik ersetzt die Erzählung, macht die Welt manipulierbar, allerdings auch immer weniger anschaulich.
„Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft“, folgerten Horkheimer/Adorno „leisten die Menschen auf Sinn Verzicht.“

Wissenschaften sind nur Experten verständlich

Der Fortschritt ist doppeldeutig: Einerseits ermöglicht er die Entwicklung von mRNA‑Impfstoffen, aber wer, außer den Medizinern, versteht ihre Wirkungsweise?
Die Mythologien schufen Sinn für jedermann, die modernen Wissenschaften sind nur Experten verständlich. Die Lebenswelt der Menschen mit ihren sinnlichen Deutungen lässt sich nach Edmund Husserls Einsicht nicht mehr mit der objektivierenden Naturwissenschaft, die auf mathematischen Konstruktionen beruht, in Einklang bringen. Das führte zur „Krisis der europäischen Wissenschaften“, der Frage nach ihrer Legitimation und dem kopernikanischen Schwindelgefühl:
„Ist die anschauliche Welt unseres Lebens bloß subjektiv, so sind die gesamten Wahrheiten des vor- und außerwissenschaftlichen Lebens, welche sein tatsächliches Sein betreffen, entwertet.“

Realität ist in die Funktionale gerutscht

In Bezug auf die Gesundheit bedeutet das, dass wir die Verantwortung für unseren Körper an Mediziner delegieren müssen, die besser als wir selbst die in ihm ablaufenden physiologischen Prozesse begreifen, zum Beispiel die Immunabwehr. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Ärzte wissen, was zu tun ist, um uns vor unsichtbaren, gleichwohl tödlichen Bedrohungen zu schützen. Wir selbst spüren eine Infektion im Zweifel erst dann, wenn es zu spät ist. Das leibliche, ptolemäische Fühlen trägt nichts zum Verständnis einer Viruserkrankung und ihrer Vorsorge bei.
Die Verantwortung für den eigenen Körper abgeben zu müssen aber macht Angst. Diese Ängste zu beschwichtigen, ist die eigentliche Aufgabe der Gesundheitspolitik - nicht nur die Beschaffung und Verteilung von Impfstoff. Sie muss Vertrauen schaffen in das medizinische System und für die Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnisse sorgen.

Misstrauen gegenüber den Fachleuten wird größer

Je größer der wissenschaftliche Fortschritt, desto notwendiger das Vertrauen in die Experten. Desto größer aber auch das Misstrauen gegenüber den Fachleuten und die Neigung, ihre Erkenntnisse anzuzweifeln und sich auf subjektive, scheinbar einfache lebensweltliche Wahrheiten zurückzuziehen.
Einst verteidigte die Kirche verbissen das geozentrische, ptolemäische Weltbild gegen Kopernikus‘ Einsichten und verfolgte diejenigen, die es in Frage stellten, als Häretiker. Das wohlgeordnete Universum soll zertrümmert werden, in dem der Mensch im Mittelpunkt steht und die Sphären der göttlichen Ordnung mit den Planeten und Sternen die Erde wie schützende Zwiebelschalen umgeben? Die Stellung des Menschen wäre nicht mehr im Zentrum der Welt? Das kann und darf nicht wahr sein!
Zumal der wissenschaftlichen Kosmologie das wesentliche Element der religiösen Schöpfungsmythologie fehlt, nämlich das schöne Wort aus der Genesis: „und Gott sah, dass es gut war.“

Paradigmenwechsel bedeuten Stress

Nicht nur erklärt das Alte Testament, wie die Welt entstanden ist, sondern spricht den göttlichen Segen über sie. So wehrt der Mythos die existentielle Angst ab und stiftet Weltvertrauen, ohne das Menschen nicht leben können.
Paradigmenwechsel aber bedeuten Stress, denn sie führen zu kognitiver Desorientierung und dem Verlust der lebensweltlichen Geborgenheit. Die Angst kehrt zurück, die die Mythen bannen sollten. Zu Recht spricht man von den kopernikanischen Schocks:
Die Sonne dreht sich nicht um die Erde (Galileo);
der Mensch ist nicht von Gott geschaffen (Darwin);
wir sind nicht Herr im eigenen Haus (Freud),
sogar die Zeit, deren Ablauf wir mit der physischen Gewissheit unseres Alterns in eine Richtung ablaufen sehen, ist angeblich relativ (Einstein).

Wer Mythen zerstört, macht sich keine Freunde

Aus diesen narzisstischen Kränkungen resultieren Gegen- und Abwehrreaktionen. Sokrates wurde wegen Verführung der Jugend zum Unglauben an die Götter und Sitten zum Tode verurteilt, Galileo, der das kopernikanische, heliozentrische System verteidigte, als Ketzer verurteilt. Heute schicken Impfgegner Morddrohungen an Virologen und Politiker und versuchen sie mit Shitstorms, Hasspostings und Fackelmärschen einzuschüchtern.
Wer Mythen zerstört, macht sich keine Freunde. Die Aufklärung erzeugt einen Retroeffekt und Reboundeffekt: Auf die Zumutungen der Wissenschaft reagieren nicht wenige mit Wut, Ressentiments und der Leugnung wissenschaftlicher Erkenntnisse. So geht das Gespenst der alternativen Fakten um, die Grenze zwischen Lügen, Fake News, Fehlinformationen und realen Tatsachen wird verwischt.
Corona-Leugner behaupten, das Virus existiere nicht. Oder: Das Virus existiere, aber es mache nicht krank. Oder bewirke nicht mehr als eine Grippe. Man brauche keine Impfstoffe, an denen nur die großen Konzerne verdienen. Und der Staat nutze die Epidemie, um seine Bürger zu Untertanen zu machen und eine Diktatur zu errichten, dabei kräftig unterstützt von der sogenannten Lügenpresse oder den Mainstream-Medien.

Trotzige Zuflucht zu Verschwörungsmythen

Im „Kränkungseifer“, (zitiert nach Horst Dreier), nimmt man trotzig Zuflucht zu Verschwörungsmythen, die einfache Erklärungen liefern, die es in einer komplizierten, unübersichtlichen Wirklichkeit nicht mehr gibt und nicht mehr geben kann.
An der Pandemie sind dann wahlweise Bill Gates, Klaus Schwab, die Pharmaindustrie oder das Weltjudentum schuld.
Gleichzeitig zieht man sich auf den eigenen Körper zurück, vor allem Esoteriker nehmen in Anspruch, einen alternativen Zugang zu medizinischen Wahrheiten zu besitzen. Mit Rousseau geht es zurück zur Natur und seiner Zivilisationskritik:
„Unsere Seelen sind in dem Maße verdorben, in dem unsere Wissenschaften und unsere Künste vollkommener geworden sind.“

Antiintellektualismus mit Mordlust

Gegen die „Seuche einer eitlen Gelehrsamkeit“, die alles verkleinert, „was unter den Menschen heilig ist“, setzt man die Gewissheiten des eigenen Herzens und „die Einfalt der ältesten Zeiten“.
Die ptolemäische Abrüstung gegen die kopernikanische Mobilmachung der Moderne wird zur neurechten Regression freier Sachsen, die sich in kernig-völkischer Kraftmeierei gegen die staatlichen Gesundheitsmaßnahmen sträuben und mit Bürgerkrieg drohen.
Ein Antiintellektualismus mit Mordlust, der sich nicht zufällig mit der Esoterik-Szene verbindet. Beide Bewegungen haben eine Wurzel in der deutschen Romantik, die gegen die Aufklärung neue Mythen propagierte.

Eine entzauberte Welt ohne Götter

„Die Welt muss romantisiert werden“, schrieb Novalis, denn in einer entzauberten Welt ohne Götter zu leben, ist nicht für jeden angenehm, selbst wenn die Waschmaschine funktioniert und ein Impfstoff vor Pocken schützt. Gegen die Mechanik einer maschinenhaften Welt stellt das Systemprogramm des deutschen Idealismus, das Hegel zugeschrieben wird, aber mit Gedanken von Hölderlin und Schelling korrespondiert, eine neue „Mythologie der Vernunft“ beziehungsweise „sinnliche Religion“, die die Entfremdungen in der kalten naturwissenschaftlich entzauberten Moderne heilen soll. Der Staat wird dabei als etwas Äußerliches und zu Überwindendes aufgefasst:
„Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll der aufhören.“

Identitäre Bewegungen in neoromantischer Tradition

Das klingt angesichts der staatsfeindlichen Proteste gegen die Pandemiepolitik auf unheimliche Weise aktuell. Pankaj Mishra wies in seinem Buch "Das Zeitalter des Zorns" darauf hin, dass die antinapoleonischen Befreiungskriege unter Beschwörung nationaler Mythologien Züge eines Dschihad trugen. Die Liebe zu Grimms Märchen und ein blutrünstiger Franzosenhass vertrugen sich gut:
„In einem Augenblick politischer Katastrophe und kultureller Krise mutierte das frühromantische Streben nach einer Wiederverzauberung in Deutschland angesichts der Demütigung durch Napoleon und die Kollaboration der deutschen Eliten mit dem Eroberer zu einem chauvinistischen und sogar militaristischen Mythos von Volk, Vaterland und Staat.“
In neoromantischer Tradition beschwören heute identitäre Bewegungen eine Volksgemeinschaft der bodenständigen Somewheres gegen die wurzellosen Anywheres und wollen sich in ihrem gesunden Volksempfinden von nichts und niemandem, schon gar nicht den Eliten und Experten etwas vorschreiben lassen. Wissenschaftsmüde Esoteriker und neurechte Reichsbürger sind irregeleitete Romantiker. Sie sehnen sich nach spirituellen Werten, die in der modernen Welt nicht mehr leicht zu haben sind. Es ist ein Traum von einem Leben in unkorrumpierbarer Echtheit und Wesentlichkeit, das sich nicht von Fremden, seien es Viren oder Migranten, die ins eigene Territorium oder den eigenen Körper eindringen, ins Bockhorn jagen lassen will. Rechte Xenophobie und esoterisch inspirierte Corona-Leugnung passen gut zusammen.

Wütender Protest gegen Modernisierung

Die kognitive Regression und der aggressive Widerstand sind verständlich als Reaktion auf Überforderungserfahrungen in der kopernikanisch kränkenden Welt: Ein wütender Protest gegen Modernisierung. Aus dem geozentrischen Paradies lebensweltlicher Gewissheiten vertrieben, finden sich die Menschen in eine Welt unverständlicher wissenschaftlicher Systeme und einander widersprechender Experten geworfen. Das Leben ist zu kompliziert geworden. Die Leute kommen nicht mehr mit.
Doch was soll man gegen die grassierenden Ängste tun, wie die Wut besänftigen? Wie kann das verlorene Vertrauen in die Wissenschaften und den Staat wieder zurückgewonnen werden? Wie lassen sich falsche Mythen auflösen und der gesellschaftliche Frieden wiederherstellen?

Nötig ist eine erneute Anstrengung der Aufklärung

Nötig ist sicherlich, ganz allgemein gesprochen, eine erneute Anstrengung der Aufklärung. Das heißt eine Stärkung und Bekräftigung der Idee einer verbindlichen Vernunft, die durch die philosophische Kritik der letzten Jahrzehnte geschwächt wurde und einem Relativismus Tür und Tor geöffnet hat, der alternative Fakten, Mythen und Lügen mit wissenschaftlicher Erkenntnis gleichwertig setzt.
Der Abschied vom Universalismus als Geste der Bescheidenheit gegenüber Weltanschauungen und Kulturen, die anders sind und nicht ins eurozentrische System der Vernunft passen, hat das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Als Konsequenz des „postmodernen Wissens“, das sich von der Hybris der „Großen Erzählungen“ des Fortschritts verabschiedet, wollte Jean-François Lyotard nur noch „lokale, defensive Stellungnahmen“ gelten lassen und setzte dem Intellektuellen, der an der Allgemeinverbindlichkeit unbezweifelbarer Wahrheiten festhält, ein „Grabmal“. Angesichts der Pandemie, die universelles Handeln und verbindliche Normen verlangt, ist das zu wenig.

Zweiflern mit „zivilisierter Verachtung“ begegnen

Nicht alle Meinungen, die zum virologischen Geschehen vertreten werden, sind gleichwertig. Es gibt einfache Fakten, die nicht bestreitbar sind: Das Virus existiert, auch wenn man es nicht sieht. Das Virus kann töten. Das Virus lässt sich durch Impfstoffe eindämmen und das kann Leben retten. Die Impfstoffe wirken, auch wenn man als Laie nicht genau begreift, wie.
Wer das bezweifelt, dem sollte man, wie der israelische Philosoph und Psychologe Carlo Strenger schrieb, mit „zivilisierter Verachtung“ begegnen.
Die sogenannten esoterischen Weltanschauungen sind mit wissenschaftlichen Einsichten nicht gleichwertig und sollten als Aberglaube entlarvt werden. So heißt es in Diderots und d´Alemberts berühmter Encyclopédie, einem der zentralen Werke der Aufklärung:
„Tatsächlich ist der Aberglaube ein falscher, irregeleiteter religiöser Kult voll unnützer Furcht, ein Kult, welcher der Vernunft & den gesunden Ideen widerspricht. (...) Als unglücklicher Sohn der Phantasie verwendet er, um Sie zu erschrecken, Gespenster, Träume &Visionen. (...) Sobald er in irgendeiner Religion, einer guten oder schlechten, tiefe Wurzeln geschlagen hat, vermag er die natürlichsten Erkenntnisse auszulöschen & die vernünftigsten Köpfe zu verwirren. Kurz: er ist die schrecklichste Plage der Menschheit.“

Der zwanglose Zwang des besseren Arguments

Die Realität mag in die Funktionale gerutscht sein, aber das heißt nicht, dass sie unerkennbar wäre und alles eine Frage der Perspektive, kulturell gleichwertiger Weltbilder und zu tolerierender unterschiedlicher Meinungen. Es gibt harte Tatsachen, die Pflicht des „Faktenchecks“, den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Habermas) und wissenschaftliche Beweise. Aberglaube, Lügen und Verschwörungstheorien, die quasi religiöse Gewissheiten verbreiten und eine romantisch inspirierte Gegenaufklärung betreiben, müssen entlarvt und angeprangert werden.
Daraus folgt aber auch, dass man der in Mode gekommenen Verachtung der Eliten und der Experten entschieden entgegentreten muss. Wissenschaftlern und Intellektuellen sollte man nicht Grabmäler bauen, sondern Ruhmestempel wie es noch im 19. Jahrhundert selbstverständlich war. Schon in der Encyclopédie findet sich ein Artikel über Impfung und ihre Nützlichkeit im Hinblick auf die im 18. Jahrhundert umgehenden Pocken. Dass man bei der Einführung einer Impfung den Experten vertrauen sollte, daran bestand für die Autoren kein Zweifel:
„Es obliegt also der theologischen & der medizinischen Fakultät, den Akademien, den obersten Richtern, den Gelehrten & den Schriftstellern, die Bedenken zu beseitigen, die durch Unwissenheit genährt werden, & dem Volke klarzumachen, daß sein eigener Nutzen, die christliche Nächstenliebe, das Wohl des Staates & die Erhaltung der Menschen an der Einführung der Impfung beteiligt sind.“

Das Vertrauen in die Experten stärken

Ein vernünftigeres Plädoyer für eine Impfpflicht kann man auch heute nicht halten. Die Warnung vor einer sogenannten „Expertokratie“ ist dabei unangebracht, im Gegenteil gilt es das Vertrauen in die Experten - Virologen, Epidemiologen, Ärzte, Impfstoffentwickler und so weiter - zu stärken, die uns mit ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen die Bekämpfung der Pandemie ermöglichen.
Das verlangt von den Bürgern, wie Carlo Strenger schreibt, eine gewisse seelische Größe, nämlich die Bereitschaft, die Kränkung zu ertragen, dass andere mehr über die Welt wissen als wir selbst.

Es geht nicht um ein blindes Vertrauen

„Komplexe Gesellschaften funktionieren ohne Spitzenleistungen nicht, daher müssen wir alle in einem gewissen Ausmaß mit der Erfahrung der Unterlegenheit zurecht kommen. (...) Die Ethik der verantwortlichen Meinungsbildung hat also nicht nur kognitive, sondern auch emotionale Komponenten: Wir alle müssen lernen, mit Zorn, Neid und Ressentiment zu leben, ohne unsere Urteilskraft auszuschalten. Das erfordert die Selbstdisziplin, vor dem seelischen Schmerz angesichts der Überlegenheit des anderen nicht zurückzuschrecken, sondern uns darin zu üben, diesen Schmerz auszuhalten.“
Dabei geht es nicht um ein blindes Vertrauen in die Wissenschaft oder einzelne Wissenschaftler, sondern um Vertrauen in das Wissenschaftssystem, das auf gegenseitiger Kontrolle seiner Institutionen und dem Popperschen Ethos der Falsifikation beruht. Wissenschaftliche Studien werden von der Wissenschafts‑Community beurteilt, gegengecheckt und diskutiert. Wenn sie sich als falsch herausstellen, werden sie verworfen. Solange sie aber bewiesen werden können und kein neuer Kopernikus kommt, der ihre Gültigkeit über den Haufen wirft, müssen sie anerkannt und zur Leitlinie des Handelns gemacht werden. Eine freie Gesellschaft kontrolliert in transparenten Verfahren ihre wissenschaftlichen Organisationen und Institutionen. Daher leben wir nicht in einer Expertokratie, sondern in einer von Experten beratenen Demokratie, in der am Ende von Bürgern gewählte Politiker entscheiden.

Neuer Bedarf an Aufsicht und Regulierung

Eine wesentliche Funktion fällt in diesem System einer offenen, von den Wissenschaften bestimmten Gesellschaft den Medien zu. Da es durch die sozialen Medien aber zu einem „erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit“ gekommen ist, wie Jürgen Habermas schreibt, gibt es einen neuen Bedarf an Aufsicht und Regulierung. Denn die Allgemeinheit der Kommunikation ist durch die Pluralisierung der Medienwelt zerfallen. Menschen kommunizieren in sogenannten Filterblasen, in denen Lügen, Verschwörungstheorien, Falschinformationen und alle möglichen alternativen Fakten verbreitet werden. Die redaktionelle Kontrolle, wie sie in der klassischen Presse oder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gewährleistet ist, fällt dabei weg. Nicht jeder irre Tweet, nicht jede in einer Blase sozialer Medien vertretene Verschwörungstheorie kann mit soliden Recherchen und Informationen, die Qualitätsmedien vermitteln, gleichgesetzt werden. Jürgen Habermas:
„Ein demokratisches System nimmt im Ganzen Schaden, wenn die Infrastruktur der Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit der Bürger nicht mehr auf die relevanten und entscheidungsbedürftigen Themen lenken und die Ausbildung konkurrierender öffentlicher, und das heißt: qualitativ gefilterter Meinungen, nicht mehr gewährleisten kann.“

Konkurrierender Meinungsstreit

Es gibt gute Gründe, dem sogenannten Mainstream-Medium mehr zu vertrauen als der Spezialmeinung eines Teilnehmers in irgendeinem Blog oder einer Blase der sozialen Medien. Sie sind, anders als von den Verschwörungstheoretikern behauptet, keine monolithischen Blöcke, keine gleichgeschalteten Lautsprecher, sondern stehen miteinander im konkurrierenden Meinungsstreit und sorgen für „kognitive Standards“, ohne die es, wie Habermas zu Recht sagt, „weder die Objektivität von Tatsachen noch die Identität und Gemeinsamkeit unserer intersubjektiv geteilten Welt geben“ kann.
Für ein freiheitliches Gemeinwesen, das auf den intersubjektiven Standards beharrt, die Normen überhaupt erst ermöglichen, heißt das, dass es die in den sozialen Medien verbreiteten Lügen und den Hass und die Hetze strafrechtlich ahnden muss. Und das wiederum verlangt, Internetkonzerne beziehungsweise Plattformen zu regulieren, die sich wie Twitter, Facebook oder Telegram der nationalstaatlichen Aufsicht zu entziehen suchen. Wer die Aufklärung verteidigen will, muss auch bereit sein, die Polizei einzusetzen und die Gerichte zu bemühen. Auch das schafft Systemvertrauen. Scharlatane, Lügner müssen entlarvt und gegebenenfalls strafrechtlich verfolgt werden. Das Verbreiten von Lügen und Falschinformationen ist, wenn es um Leben und Tod geht, kein Kavaliersdelikt.

Auch die Wissenschaft muss für Akzeptanz sorgen

Freilich ist auch die Wissenschaft selbst herausgefordert, für Akzeptanz zu sorgen und Vertrauen zu stiften, indem sie ihre Erkenntnisse den Nichtexperten so anschaulich wie möglich vermittelt. Eine Lehre aus der Diagnose von der „Krisis der europäischen Wissenschaften“ sollte sein, dass die Wissenschaften ihre Legitimation stärken, indem sie ihre Erkenntnisse dem subjektiven, lebensweltlichen Verstand so nahe wie möglich bringen. Menschen brauchen Bilder, um ihre Angst vor der Unheimlichkeit der Natur zu bannen. Die Schamanen der Wissenschaft müssen sie nicht mehr an Höhlenwände malen, sondern können heute die sogenannten bildgebenden Verfahren nutzen:
Der Blick durchs Elektronenmikroskop auf die molekulare Welt der Viren kann das immunologische Geschehen im Körper besser verständlich machen. Die Realität ist in die Funktionale gerutscht. Daher brauchen wir andere Bilder als die in Endlosschleife wiederholten Bilder von in den Arm gestochenen Spritzen oder im Labor aufgezogenen Pipetten. Man kann auch die visuellen Möglichkeiten der Animation nutzen, um wissenschaftliche Zusammenhänge zu erklären. Es gibt solche gut gemachten Erklärvideos auf YouTube, die zeigen, wie das Coronavirus mit anderen Zellen interagiert und von Zellen des Immunsystems bekämpft wird, sie sollten auch in der Tagesschau zu sehen sein.

Wir können dazu lernen

Und bitte, wie verläuft die Produktion der Impfstoffe genau? Darüber aufzuklären, ist die Aufgabe des Wissenschaftsjournalismus, auch für Ärzte und unsere Bildungsinstitutionen. Vertrauen in das Gesundheitssystem zu schaffen, verlangt nach der unermüdlichen Anstrengung, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Breite der Gesellschaft zu vermitteln. Dazu braucht man nicht Luftfilter in den Klassen, sondern mehr Lehrer. Dazu braucht man Ärzte, die die Zeit haben, ihren Patienten die medizinischen Zusammenhänge zu erklären, bevor sie Spritzen setzen.
Das alles kostet Geld. Eine bloß technokratische Durchsetzung der gebotenen Gesundheitspolitik wird nicht funktionieren. Der ptolemäisch veranlagte Alltagsverstand in der kopernikanisch mobilisierten Wissenschaftskultur der Gegenwart muss so gut wie möglich mitgenommen werden.
Die Welt ist kompliziert, und wir sind alle nicht schlauer als Joshua Kimmich und Novak Djokovic. Aber wir können dazu lernen.