Samstag, 20. April 2024

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Kunst und Gegenwart (3/3)
Theater, Performance und Digitalität

Welchen Einfluss nimmt die Digitalisierung auf das Theater? Hat der digitale Schub der Pandemie das Theater geradezu umgekrempelt? Oder erfordern die Künste des Körperlichen, Räumlichen und Unmittelbaren ein „zurück auf die Bühne“?

Von Maren Butte | 03.10.2022
Die Choreographin und bildende Künstlerin Eisa Jocson, hier bei einer früheren Performance im Hebbel am Ufer in Berlin
Auch die Choreographin und bildende Künstlerin Eisa Jocson, hier bei einer früheren Performance, begibt sich mit ihrem Stück "Manila Zoo" auf neue Wege (picture alliance / ZB / Claudia Esch-Kenkel)
Die zunehmende Technologisierung der Gegenwart betrifft in vielschichtiger Art und Weise auch das Theater: von Körpertechniken des Schauspielens, Tanzens und Singens zu Formen digitaler Medienperformance und Game Theatre. Maren Butte betrachtet in ihrem Essay die  Auswirkungen, die digitale Technologien und Techniken auf das Theater haben, und wie grundlegend der Zusammenhang von Performance und Publikum dabei bleibt.
Maren Butte (Dr. phil.) ist Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie forscht an der Schnittstelle von Performance und Medien.
„Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist.“ Peter Brook.

Neue Formen des Online-Theaters

Die Theaterhäuser sind seit einiger Zeit wieder geöffnet und zahlreiche neue und nachgeholte Produktionen sind auf den Bühnen zu sehen. Während der Pandemie-Lockdowns waren die Theater wegen der Ansteckungsgefahr geschlossen. Viele probierten gezwungenermaßen ganz neue Formen des Online-Theaters aus. Die Schließungen bedeuteten eine Öffnung ins Neue und ins scheinbar Unbekannte: ins Digitale.
Was ist geblieben von der Zeit der Krise und des Aufbruchs ins Digitale?
Rückblickend lässt sich fragen: Zu welchem Formwechsel hat die zwangsweise Verlagerung des Theaters ins Internet geführt? Hat der digitale Schub das Theater umgekrempelt? Oder erfordern die Theater-Künste das Körperliche, Räumliche und Unmittelbare doch so unbedingt, dass dringend eine Rückkehr des Theaters auf die traditionelle Bühne erfolgen muss?
Es stellen sich weitere Fragen: Ist das Theater eine analoge Insel im Meer der Digitalisierung oder soll es den digitalen Raum auch dauerhaft erobern? Könnte es gar helfen, die technischen Bedingungen und Forderungen der digitalen Gegenwart an den Menschen besser zu verstehen?

Das Theater ist viral geworden

Im März 2020 ist das Theater viral geworden - in doppelter Hinsicht. Als Ort der Versammlung von Theaterliebhabern und -abonnenten geriet es angesichts der Möglichkeit der Ansteckung mit dem Corona-Virus selbst zur Gefahr und wurde weltweit vielerorts geschlossen. Um nicht zu verstummen, verlagerten die Häuser, ob Staatstheater, Landesbühnen oder Bühnen freier Gruppen, ihre Projekte in den digitalen Raum.
Zunächst in Form von Streaming-Angeboten mit archivierten Videos von Sprechtheater-, Opern- und Ballettaufführungen, dann auch mit einer verstärkten Präsenz in den Sozialen Medien, um zu neuen Interaktionen mit dem Publikum anzuregen. Parallel dazu gab es Online-Opern Quizzes, Gedichtrezitationen, Probenvideos und Tanztrainings per Live-Homevideo, oder gar abgefilmte Mini-Konzerte von einzelnen Orchestermitgliedern für jeweils einzelne Zuschauerinnen und Zuschauer.
Einige Theater wichen zwar auf Aufführungsformen im Freien aus, wie beispielsweise der Theater-Autoparcours des Deutschen Theaters Göttingen oder die Audiowalks des Gorki-Theaters Berlin. Andere hofften auf die baldige Rückkehr zum Normalbetrieb. Doch die meisten eroberten den digitalen Raum für neue Kommunikations- und Produktionsweisen.
Mit Holzbrettern sind die Zugänge am Haupteingang zum Deutschen Theater zugestellt. Mit einer künstlerischen Aktion macht das Deutsche Theater in Göttingen auf die Folgen des Teil-Lockdowns aufmerksam
Mit Holzbrettern sind die Zugänge am Haupteingang zum Deutschen Theater zugestellt. Mit einer künstlerischen Aktion macht das Deutsche Theater in Göttingen auf die Folgen des Teil-Lockdowns aufmerksam (picture alliance / dpa / Swen Pförtner)
Zu jenen digitalen Theater-Homevideos, den „Anwesenheitsnotizen“, wie es das Staatstheater Nürnberg liebevoll nannte, kamen 2020/21 zunehmend eigens für die digitale Sphäre inszenierte und komponierte Arbeiten. Die Münchner Kammerspiele beispielsweise boten virtuelle Exkursionen in Harry Potters Hogwarts-Welt mit einer Schauspielerin an; das Ensemble des Staatstheaters Nürnberg zeigte eine Adaption des Fernsehformats Big Brother als Webserie.
Das Theater Augsburg - immer schon ein Pionierort für digital-theatrale Experimente - hatte bereits vor dem ersten Lockdown 500 Virtual Reality-Brillen für eine Operninszenierung von Orfeo ed Euridice angeschafft, die pandemiebedingt dann leider auch abgesagt werden musste. Stattdessen bekamen die Zuschauer nun auf Anfrage eine Brille nach Hause gebracht und erlebten so ein virtuell programmiertes Tanzstück namens Shifting Perspectives. Mit der VR-Brille tauchten sie ein in das computergenerierte 3D-Abbild der Theaterbühne und konnten vorproduzierte Tanz-Avatare beim Pas de deux aus nächster Nähe und aus wechselnden Perspektiven betrachten.

Theatertreffen im Livestream

2020 und 2021 fand dann auch das jährliche Theatertreffen in Deutschland digital statt. Livestream-Arbeiten wurden gezeigt, wie Sebastian Hartmanns Adaption von Thomas Manns Der Zauberberg, produziert vom Deutschen Theater Berlin. Die Inszenierung war eine komplex geschnittene Videoadaption, die das Live-Erlebnis der Bühne nicht nur wiedergab, sondern ihr durch Perspektiven, Montagen und Phrasierungen neue Bedeutungsebenen hinzufügte.
Freilich sind solche Formate nicht neu. Man kennt die aufwendigen Theater-, Oper- und Tanzverfilmungen des National Theatre London und der Metropolitan Opera New York, die in Kinos weltweit laufen und inzwischen auch als Stream gezeigt werden.
Die Praxis der Theaterverfilmung erinnert auch an die zahlreichen Mitschnitte von Aufführungen für das öffentlich-rechtliche (Bildungs-)Fernsehen in der Bundesrepublik vor der Wende. Diese Mitschnittsendungen wurden in den letzten 20 Jahren aber sukzessive im Fernsehangebot zurückgefahren. Eine mediale Zugänglichkeit zu den performativen Künsten war beschränkt. Während der Pandemie kehrte all dies zurück; diesmal nicht mehr massenmedial modelliert, sondern aufbereitet für die digitalen audiovisuellen Medien.
Dabei waren die digitalen Theaterformate und der Einsatz von Social Media nicht mehr nur ein Add-on zum Theaterbesuch oder ein Marketing- und Kommunikationstool, jetzt wurden die digitalen Kanäle selbst Teil des Theaterspiels. Es entstand ein seltsames Netzwerk aus Akteuren und Zuschauern, auch aus technischer Infrastruktur und medialen Inhalten, das wie um eine nun leere Mitte, die Live-Aufführung, zu kreisen schien.

Performative Künste konnten weiter existieren

Anders als in vielen anderen Ländern konnten die performativen Künste in Deutschland dank der Subventionierung des Theatersystems durch Finanzierungshilfen wie das groß angelegte Rettungsprogramm der Bundesregierung „Neustart Kultur“ in den Jahren 2020/21 weiter existieren. Auch haben verschiedene europäische Förderungen die digitale Infrastruktur der Theater selbst vorangetrieben. Sie unterstützten die Gründung von im Netz zugänglichen Archiv-Websites. Diese sind einerseits video-on-demand-Webseiten für Theatermitschnitte, die einerseits Angebot für ein interessiertes Publikum und Theaterstudierende, andererseits ein Vernetzungstool für Künstler geworden sind.
Weitere Fördergelder flossen in die Erforschung der Phänomene des digitalisierten Theaters sowie an Theater- und Kulturwissenschaftliche Diskurs-Projekte. So gründete sich 2021 das „Lebendige Archiv“, in dem die neuen Formen und Themen des pandemischen Theatermachens und -erlebens gesammelt und erforscht werden. Lebendiges Archiv heißt es deshalb, weil es keine stillstehende Sammlung sein soll, sondern eine, die sich in ständiger Veränderung befindet. Es ist ein zweifaches Zeitdokument, denn es zeigt auf, welche neuen Ideen, Themen und Produktionsweisen durch die pandemiebedingte Digitalisierung entstanden sind. Es zeigt aber auch eine Suchbewegung in die Zukunft. Wie wollen wir Theater als Kunstform verstehen in einer Welt, die nicht mehr in analog und digital aufgeteilt ist, sondern in der sich beide Erfahrungsweisen vermischen?
Wie Theater in Zukunft aussehen könnte, spekulierten und probierten zahllose Theater-Produktionen während der Lockdowns. Live-Übertragungen, Virtual-Reality-Experimente, Theaterfilme, Streamingtheater - all dies veränderte aber auch das Publikum des pandemischen Digitaltheaters, das nun als vereinzelte User am Bildschirm zu Hause saß statt auf den Theatersitzen.

Theater ereignete sich als ein Interface-Effekt

Der Medienkulturwissenschaftler und Programmierer Alexander Galloway aus New York bezeichnet diese Entwicklungen als Interface-Effekt. Interface, englisch für Schnittstelle, bezeichnet Übergänge zwischen verschiedenen Komponenten eines IT-Systems, über die der Datenaustausch oder die Datenverarbeitung realisiert werden. Dies können Computer-Computer-Schnittstellen oder Mensch-Computer-Schnittstellen sein.
Theater ereignete sich nun als ein Interface-Effekt, an der Schnittstelle zwischen Mensch und Computern im Netzwerk.
Dennoch unterscheidet sich das Theaterpublikum hier von Nutzern gängiger Formate wie dem TV-Serienstream oder einem Scrollen durch Social Media Apps. Das digitale Theater-Publikum findet einen inszenierten und gestalteten Live-Raum vor, auf den es reagieren und in dem es selbst zum aktiven Mitgestalter werden kann.
Ein Beispiel: Die Performance-Gruppe machina eX, die seit jeher mit hybriden digitalen Theaterräumen arbeitet, zeigte während der Pandemie zwei programmatische Produktionen: Homecoming. Ein Live-Theater-Game für Zuhause (2021) und Lockdown. Ein kooperatives Wohnzimmer-Game (2020).
Die Bedienungsanleitung lautete: „Zum Mitspielen werden ein Computer mit Internetzugang, ein Telefon und ein Briefkasten benötigt.“
Die Handlung entspann sich ausschließlich online auf der Messenger-App Telegram und enthielt sowohl Live-Kommunikation mit Performern, kurze Videos, Fotos, Sprachnachrichten und Spielanweisungen. Das Publikum begab sich in komplexe narrative Spiel-, Rätsel- und Entscheidungssituationen, die man gemeinsam entschlüsseln musste, um das Spiel voranzutreiben und eine vermisste Person zu finden. Dabei navigierte man zusammendurch digitale Spielwelten und trainierte gleichzeitig Wissen über Filterblasen, Algorithmen und Manipulation.

Das „theatrale Potenzial“ von Social-Media-Plattformen

Auch das deutsche Performance-Kollektiv Interrobang brachte ein interaktives Livestream-Theater auf die virtuelle Bühne. In Familiodrome wurde zusammen mit dem Online-Publikum sozusagen ein Kind auf die Welt gebracht und durch Abstimmungstools und Kommunikations-Apps über dessen Erziehung verhandelt. Inspiriert von Jean Jacques Rousseaus Klassiker Emile oder Über die Erziehung, erforschte das Kollektiv, ob und wie das Soziale sich heute in einem Netzwerk von biologischen und digitalen Körpern ereignet und in welchem Alter sich soziale Prägungen vollziehen. Gleichzeitig entstand eine Studie über das „theatrale Potenzial“ von bestimmten Social-Media-Plattformen wie Twitch oder Zoom.
Es stellen sich wieder neue Fragen, denn: „Inwieweit kann man diese Plattformen als (digitale) Bühnen betrachten? Welche Art von Interaktion zwischen Performern und Publikum ermöglichen sie uns?
Und um weiter zu gehen: Diese neuen Bühnen sind Plattformen digitaler Global Player. Welche Politik steckt hinter bestimmten Plattformen und wie kann man diese sichtbar machen?“
Diese Fragen stellten auch andere Theater-Produktionen. Eine Vielzahl an Theatergruppen erarbeitete sich den Umgang mit so genannten Videocalls, die sie für ihre Performances zum Erreichen eines Publikums nun benötigten. Videomessenger-Apps wie Skype, Zoom oder WebEx, wurden dabei für ästhetische und forschende Zwecke entfremdet.
In ihrem Stück Manila Zoo beschäftigte sich die Choreografin und bildende Künstlerin Eisa Jocson 2021 mit den psychologischen Auswirkungen der Pandemie, die ihrer Ansicht nach nicht gleichmäßig verteilt seien, sondern von Klasse, Geschlecht, Alter und anderen sozialen Faktoren abhingen. In ihrem Stück untersuchte sie Machtstrukturen und Ökonomien des Blicks, arbeitete mit Bildmaterial von Sexarbeit und Selbstinszenierungen philippinischer Performer in ostasiatischen Disney-Parks. Die sechs Performer, die in einem theatralen Online-Zoom-Meeting als kleine Kacheln in den Bühnenraum des Mousonturm Frankfurt projiziert wurden, zeigten repetitive Bewegungen, die an Verhaltensstörungen von in Gefangenschaft gehaltenen Tieren erinnerten.
Macho Dancer - Performance von und mit Eisa Jocson im Rahmen des Tanzfestivals Tanz im August im HAU 3, Hebbel am Ufer, in Berlin.
Macho Dancer - Eisa Jocson bei einer früheren Aufführung in Berlin (picture alliance / Eventpress Hoensch)
So wurde eine Politik des Digitalen deutlich: Jocson zeigte die Verflechtungen von Geschlecht, affektiver Arbeit, Migration, Medientechnologie und Körperlichkeit. Wer ist frei, sich zu bewegen? Wer darf schauen? Wer ist Objekt des Blicks?

Unterhaltungen am Telefon, per Whatsapp oder Skype

Regelrecht verzaubert zeigte sich das Publikum von einem weiteren Livestream-Theaterstück, das komplett als Desktop-Theater der geöffneten Computer-Fenster funktionierte. Das freie Theaterkollektiv punktlive um Theaterregisseurin Cosmea Spelleken adaptierte 2020 Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers und verlegte das berühmte Sturm-und-Drang-Drama von 1774 in die Zeit des Lockdown, wo Lotte und Werther sich lediglich über digitale Apps begegnen können. Die beiden finden über Ebay Kleinanzeigen zueinander anstatt bei einer Tanzveranstaltung. An die Stelle von poetischen Briefen und romantischen Waldspaziergängen treten Unterhaltungen am Telefon, per Whatsapp oder Skype. Und die beiden Protagonisten verfolgen die Schritte der anderen Figuren über charakterisierende und eigens für die Performance eingerichtete Instagram-Profile. Man hätte erwarten können, dass Kritiker diese Banalisierung der klassischen Werther-Handlung komplett verreißen, doch das Gegenteil war der Fall: Von der Kritik wurde werther.live bejubelt und die Produktion erhielt obendrein den Deutschen Multimedia-Preis 2020.
Werther.live bewegt sich vollständig in einer Welt der digitalen Jugend, schreibt ihr aber gleichzeitig auch eine theatrale Distanz ein. Bemerkenswert virtuos und flüssig spielt die Inszenierung mit der affektiven Teilhabe seines Publikums an der Online-Performance. Als Zuschauer betrachtet man durchgehend Werthers Desktop, er allein wird zur Bühne und zum Interface mit dem Publikum. Dabei werden auch Fotos und Filmmaterial zu erzählerischen Elementen. Jene Ästhetik ist nicht neu; intermediales Theater gab es schon vielfach zuvor. Neu ist aber die viel technisches Know-How erfordernde Komplexität des Echt-Zeit-Spiels. Zudem sind Interaktionen des Publikums mit den ‚real‘ existierenden Instagram-Profilen der fiktiven Figuren möglich. Das Stück bildet einen Reflexionsort über zeitgenössische Konzepte und Techniken von Liebe und Beziehung im digitalen Raum; gleichzeitig ist es auch ein kontemplativer Ruheort für ästhetische Theater-Erfahrung.

Ist jene Form von Theater überhaupt noch Theater?

Es wären weit mehr Beispiele für digitales Theater aus der Zeit der Schließungen zu nennen, die den Bühnenraum ins Digitale verlegen. Zu Recht lässt sich fragen: Ist jene Form von Theater überhaupt noch Theater? Oder hat es seinen ureigenen Raum verlassen, sich im postmedialen Raum aufgelöst?
Ändert sich mit diesen Erfahrungen nun das Theater? Weiter gedacht hat das neue digitale theatrale Konzept natürlich auch Einfluss auf die gesamte Institution Theater, und nicht zuletzt auch auf Berufsfelder der Theatermacher.
Eine rein digitale Theaterperformance funktioniert einerseits ohne Personal im Tickethaus, Einlasskontrolle und Beleuchter, bedarf andererseits aber neuer technischer Fertigkeiten aufseiten der Macherinnen und Macher, wenn unter anderem eine digitale Übertragung und ein Live-Schnitt in Echtzeit gewährleistet werden müssen.
Festzuhalten bleibt zunächst: Das radikal-digitale Theater nimmt eine Neuaufteilung von Akteuren und Publikum vor. Es handelt sich hierbei zwar nach wie vor um eine Versammlung, aber keine im Sinne einer Zusammenkunft von Körpern am selben Ort. Bei der digitalen Versammlung im medialen Raum spricht man von immateriellen Verkörperungen und Codes und von „verrechneten Abbildern des Gesichts“, von Avataren, Spracheingaben im Chat und Klick-Entscheidungen. Mit der Publikumsforscherin Jane Bennett lässt sich hier sicher von einem Grenzfall des Theaters sprechen, weil sich eine grundlegende Sache verändert hat: die Art des Theatererlebens.
Peter Weibel, der Leiter des ZKM Karlsruhe, hat unsere Kultur einmal als die zunehmender „Ferngesellschaften“ bezeichnet. Interface-Theater verhandelt genau jene Erfahrungen von Nähe und Ferne. Das Interface-Theater entkoppelt die scheinbar unmittelbare und räumliche „Grundeinheit“ von Zuschauer*innen und Akteur*innen, schreiben die Dramaturgen Maximilian Haas und Joshua Wicke. Sie meinen mit Grundeinheit jenes Konzept von Theater, das es nicht zuerst von Inhalten, Institutionen oder Architekturen wie Theaterhäusern her denkt.
Theater im Rückblick.
Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte hatte in den 80er- und 90er-Jahren prominent den Kern des Theaters als Aufführung als Ereignis, als soziales Ritual charakterisiert. Der US-amerikanische Theatertheoretiker Peter Brook beschrieb Theater sogar wie folgt:
„Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist.“ Peter Brook

Würde Brook heute auch die digitalen Bühnen mit einbeziehen?

Max Reinhardt, der Begründer der Theaterwissenschaft, beschrieb den „Ur-Sinn des Theaters“ im frühen 20. Jahrhundert als die Gemeinschaft. Theater sei das, was im Spiel aller für alle entstehe. Diese Diskussion um die Unmittelbarkeit, die Einfachheit und die singuläre, unwiederholbare Präsenz des Theaters, seine Aura im Sinne Walter Benjamins, ist zum Topos geworden und verankert es zunächst tief im Analogen.
Doch angesichts der zunehmenden Technologisierung und Automatisierung der Gegenwart und der Vermischung und Hybridisierung der Medien gerät dieser Topos mehr und mehr ins Wanken. Auch stellt sich schnell die Frage, ob das Theater jemals wirklich technikfrei war. Theater hat sich stets neue Technologien angeeignet, um seine Ausdrucksformen zu erweitern und die Erfahrung zu intensivieren. Piscator integrierte bereits in den 1920er-Jahren Fotografien und Filmmaterial in seine Inszenierungen und Bertolt Brecht lobte die Verwendung elektronischer Medientechniken im Theater. Seine Schauspieltheorie bezeichnete er selbst als Technik und den Verfremdungseffekt entwickelte er eindeutig als produktionstechnisches Verfahren der Fragmentierung.
Je weiter man in die Theatergeschichte hineinblickt, umso technischer erscheint sie. Theater ist seit jeher intermedial. Stets wirken Gesten, Musik, Dinge, Szenographien, Licht, Bilder, Bewegung und so weiter ineinander. Und völlig unabhängig davon, ob man Theater als Aufführung, Ritual, Inszenierung oder soziale Situation definiert, zeigt es sich als unteilbare Hybridform aus technischen und performativen Handlungen. Insbesondere die Elektrifizierung hat der Bühne ein technisches Gesicht gegeben, wie der Theaterwissenschaftler Ulf Otto herausgearbeitet hat. Aber bereits im Barocktheater und im Theater der Shakespeare-Zeit gab es je eigene Bühnentechniken und -effekte wie Falltüren, Balkone oder sogar aufwendige Hebekonstellationen, die hybride Räume als narrative und spektakuläre Zonen inszenierten.
Mit den Avantgarden, insbesondere dem Futurismus, Dadaismus, dem Bauhaus, wird das Medientechnische des Theaters erneut auffällig.
Auch im Zeichen der Happenings, Fluxus, Pop Art und intermedialer Performancekunst entstehen Projekte, unter anderem von Künstlern wie Robert Rauschenberg und Merce Cunningham, die sich technischer Konzepte bedienten.
Die New Yorker postdramatische Theatergruppe Wooster Group, gegründet 1975, Vorreiter eines Theaters der Dekonstruktion, oder die in Berlin ansässigen Gob Squad nutzen unterschiedlichste Materialebenen für ihre Performances.
Die aktuelle experimentelle digitale Performancekunst steigert diese technische Verfasstheit des Theaters noch einmal. Hier entstehen Mischformen aus mechanischen, digitalen und menschlichen Techniken, indem analoge und digitale Praktiken kombiniert werden: durch computerbasierte choreographische Werkzeuge und Interface-Szenographien, bei denen Sensoren, Motion Tracking Devices - also Bewegungsaufzeichnungsgeräte eingesetzt werden.
Angesichts dieser hochgradig technifizierten Theaterkultur erscheint es seltsam, die Unmittelbarkeit der Aufführung zu betonen. Selbst in den reduziertesten Formen der Body Art, wie in den Körperperformances von Marina Abramović, sind bestimmte Vorbereitungstechniken im Spiel.
Die Performance-Künstlerin Marina Abramovic posiert zu Beginn einer Pressekonferenz zum Opernprojekt "7 Deaths of Maria Callas" in der Deutschen Oper für die Fotografen
Die Performance-Künstlerin Marina Abramovic (picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm)
Zwar meint die Aura des Theaters die Unwiederbringlichkeit des Augenblicks, die Nicht-Reproduzierbarkeit und das Faktum, dass die Kunst hier zwischen allen Beteiligten als Gemeinsames entsteht, jedoch leuchtet nicht ein, warum dies nicht auch von technischen Elementen durchdrungen sein sollte.
Das Interface-Theater der Pandemie hat tatsächlich die theatrale Liveness, das Livegefühl mediatisiert und lässt keine binäre Unterscheidung von Analog und Digital mehr zu. Zwar ist das Publikum hier räumlich getrennt von der Theaterperformance, jedoch entsteht gerade in Stücken wie werther.live ein intensives Gefühl von Liveness, von Lebendigkeit, das eine Verbindung zwischen den Beteiligten, die nicht an einem Ort sind und dem Geschehen der Perfomance herstellt. Das Publikum teilt die Erfahrung der Zusammenkunft auf neue Weise, es bewegt sich versetzt in einem Netzwerk. Im Idealfall spüren alle die „Dringlichkeit“ des Zusammenseins im Jetzt.
Marcus Lobbes nennt Theater zwischen Analog und Digital ein Feld der „geteilten Aufmerksamkeiten“. Er ist Leiter der Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund, einem Programm der dortigen Hochschule. Es handelt sich um ein Modellprojekt des Theaters Dortmund für digitale Innovation, künstlerische Forschung sowie technische Aus- und Weiterbildung von Stipendiaten. Ein Hauptaugenmerk liegt dabei auf virtueller und erweiterter Realität sowie auf künstlicher Intelligenz.
In diesem breiteren Kontext der Akademie sind in Nordrhein-Westfalen bereits spannende künstlerische Arbeiten zum Thema Digitalität entstanden. So zum Beispiel Roman Senkls Inszenierung Das HOUSE - Reinventing the Real, bei dem die Zuschauer*innen per Virtual-Reality-Brille den 3D-Scan des Theaters besuchen und mit Avataren interagieren können. Auch Kay Voges’ Bühneninszenierung über psychische Krankheiten 4.48 Psychose der britischen Skandalautorin Sarah Kane bildete ein interaktives, digital-analoges Geflecht. Die Körperfunktionen der Schauspieler*innen wurden von Sensoren vermessen und auf einen halbtransparenten Kubus projiziert. Diese Arbeiten sind Beispiele dafür, wie digitale Verfahren den künstlerischen Ausdruck erweitern, wie sie aber gleichzeitig zum Nachdenken anregen können über die uns umgebenden Verschaltungen im Alltag.

Raum des Wissens über technologische Bedingtheiten

Die Pandemie hat als Zeit des Umbruchs und der Krise auch das Theater verändert, es in neue immaterielle Räume verlängert; sein Wesen neu sortiert und es tatsächlich ein wenig umgekrempelt. Diese Zeit hat aber auch gezeigt, dass das Theater selbst ein jahrhundertealtes Wissen und Instrumentarium zur Hand hat, um mit der Situation umzugehen. Es ist seit jeher selbst ein Raum des Wissens über technologische Bedingtheiten.
Darüberhinaus bietet das Theater der Gegenwart in seinen unzähligen Facetten einen Raum, über digitale Kulturen nachzudenken, ohne direkt in eine Konsumhaltung oder unwissend in algorithmische Überwachungsschlaufen zu geraten. In jenen spielerischen environments können längst überfällige Fragen nach unseren commons, nach dem Gemeinwohl sichtbar und sagbar werden.
Theater kann den digitalen Raum künstlerisch mitgestalten, ohne die Datengewalt den großen Konzernen zu überlassen. Es fragt danach, wie digitale Tools unsere Erfahrungswelten und Möglichkeiten der Teilhabe strukturieren, zeigt an, dass es andere Möglichkeiten der Kommunikation und des Umgangs gibt. Der Philosoph Felix Stalder hat unsere digitale Kultur einmal als unsere Realität beschrieben und diskutiert, inwieweit die soziale und politische Teilhabe über technische Medien stattfindet. Genau hier befindet sich der Einsatz des digitalen Theaters: Es will jene Interfaces bespielen und erobern.

Theater gehört nicht ins „homeized life“

Sicher bleibt aber auch zu fragen, wann das Analoge, die ‚real-reale‘ Versammlung von Menschen unverzichtbar ist. Es ist davon abzuraten, Theater völlig zu einer „digital-interaktiven Zuschauerloge“ zu Hause verkommen zu lassen, Zuschauer zu Usen zu machen. Theater gehört nicht ins „homeized life“, wie der Theaterwissenschaftler Georg Döcker mit Bezug auf Sergio Benvenuto warnt. Döcker wünscht sich, das Theater möge sich das Chaotisch-Anarchische bewahren anstelle in der Verflüssigung des kybernetisch-digitalen Prozesses zu verschwinden.
In der Pandemie bildete sich, so beschreibt es Bettina Milz, ehemalige Referentin für Theater und Tanz im Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen, ein „window of opportunity“ für Gesellschaft und Kunst. Das Theater probierte neue Wege im Digitalen, suchte neue Verschaltungen mit dem Analogen und experimentierte auch mit Möglichkeiten, besser mit Arbeitsabläufen, Ressourcen und Vernetzungen umzugehen; Brücken zu bauen zwischen globalem Norden und Süden; es arbeitet an einer besseren Zukunft; an Orten der Kontemplation innerhalb einer beschleunigten digitalen Kultur. Milz beschreibt dies als einen „digitalen Humus“, eine schöne Metapher, die an Donna Haraways These anschließt, Menschen seien organisch und anorganisch, Cyborg und Kompost.Es sei, nicht zuletzt angekurbelt durch die Zeit der Krise, ein Nährboden für zukünftige künstlerische Arbeit und auch das Zusammenleben und für Nachhaltigkeit gegen den Turbokapitalismus entstanden. Was daraus wird, bleibt abzuwarten.