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Essay anderswo
Sind Handzeichen Selfies an Höhlenwänden?

Was hat Hand und Fuß, seit Menschen in Höhlen Unterschlupf suchten, Kunstwerke an den Wänden hinterließen und mit den Negativabdrücken ihrer gespreizten Finger signierten? Der Mensch hat wohl schon immer gerne Selfies gemacht, so zumindest könnte man die Handabdrücke in urzeitlichen Höhlen interpretieren.

Von Patricia Görg |
Handabdrücke in der Cueva de las Manos, UNESCO-Weltkulturerbe, Rio Pinturas Canyon, Provinz Santa Cruz, Patagonien, Argentinien
Kult, Kunst oder einfach erste Selfies? (imago images / imagebroker Karol Kozlowski)
Handzeichen und Fußspuren sind das Signum der Menschentiere, doch im Nebenraum arbeitet schon ein Pflegeroboter, der stabil auf den Beinen steht, während er seine Ellenbogen unter den Patienten schiebt, um ihn umzubetten. Archäologen und Anthropologen schlingern von Hypothese zu Hypothese, während in der digitalen Gegenwart versehentlich auch eingescannte Hände auftauchen. Über das Rätsel der steinzeitlichen "Selfies" weiß man bislang nur: 75 Prozent von ihnen stammen wahrscheinlich von Frauen.
Patricia Görg, geboren 1960, lebt in Berlin und ist als Schriftstellerin und Autorin für Radiosender tätig. Letzte Buchveröffentlichungen "Handbuch der Erfolglosen" (2012) und "Glas. Eine Kunst" (2013) sowie das Hörspiel "Die Gesänge der Raumfahrer. Ein Fernlehrgang" (Dlf Kultur 2019).

Eins: Höhlenhände

Wie alles begann? Mit Bildern in Höhlen. Vor 30- bis 40.000 Jahren hielten Menschen ihre Hände an Felswände, pusteten durch ein hohles Rohr Ocker- oder Holzkohlenstaub darauf und schufen so die ersten Handnegative: geheimnisvolle, helle, mit Farbe umrandete Abdrücke an den dunkelsten Orten der Erde. In manchen Steinzeithöhlen gibt es hunderte von ihnen.
Selbstverständlich schlingern Archäologen und Anthropologen wie wüste Spekulanten von Hypothese zu Hypothese, wenn es um Sinn und Zweck dieser Zeichen geht. Sie könnten religiös sein, sie könnten kultisch sein, sie könnten die menschliche Kunstproduktion einleiten oder einfach erste Selfies darstellen, à la „Ich war hier“.
Die Grotten schweigen, einige von ihnen mit rot umrandeten Händen und lakonischen Farbflecken übersät, als hätten sie Scharlach. In den meisten von ihnen lebt ja zusätzlich das Pandämonium der alten Tiere: Mammuts, Bisons, Pferde, Löwen und Bären sind auf die Wände gemalt in wilder, magischer Präsenz.
Weil dies so ist, und weil man sich angewöhnt hat, die Gegenwart der Tiere als Jagdszenen zu interpretieren, gingen die Forscher bislang davon aus, dass es männliche Handnegative sind, die als Signaturen und Wächter der Werke in den Höhlen wesen. Einer der Anthropologen stutzte jedoch: Die Proportionen der Hände brachten ihn darauf, es vielleicht mit den Abzeichen von Frauen zu tun zu haben. Man kann die Geschlechter oft relativ eindeutig dadurch unterscheiden, dass bei Männern der Ringfinger länger als der Zeigefinger ist, wohingegen es bei Frauen umgekehrt ist oder beide Finger gleich lang sind. Noch niemand war auf die Idee gekommen, dies zu prüfen.
Der neue Befund lautet: 75 Prozent der steinzeitlichen Handnegative stammen vermutlich von Frauen.
Damit haben sich die Geheimnisse natürlich nur verschoben: Pusteten die Frauen Farbe auf ihre Hände auf den Felsen aus kultischen, religiösen, künstlerischen oder Selbstdarstellungsgründen? Sie spreizten die Finger, hinterließen einen Abdruck ihrer Gegenwart, der magisch die Zeiten vom Aufbruch des Menschen bis heute kurzschließt, denn kein Touchpad hat etwas an der Anatomie des Körpers verändert, mit dem wir uns in der Welt festhalten und verewigen wollen. Die sehr alten Hände sehen also aus wie unsere, bleiben aber trotzdem in der immer gleichen Entfernung eines Rätsels.
Noch undurchschaubarer ist die Höhle von Gargas in den französischen Pyrenäen: Von 154 Handabdrücken, die man in ihr gezählt hat, stammen 144 von wie verstümmelt aussehenden Händen – also solchen, die nicht mehr preisgeben, ob sie Männern, Frauen oder Kindern gehörten.
Ein Tatort? Ein Monstrositätenkabinett? Eine Mutation? Ein Unfall, der hier aktenkundig gemacht wurde?
Was bleibt, sind wüste, schweigsame Spekulationen.

Zwei: Die schwarze Hand

Was, wenn Sie ein eingescanntes Buch lesen wollen, die Seite, die Sie interessiert, aber von einer versehentlich mit-eingescannten Hand verdeckt wird? So geschehen bei Google Books, einem Service, der bekanntlich unzählige Buchseiten digitalisiert und dadurch allgemein zugänglich macht.
In diesem Fall jedoch hat sich die Materie zurückgemeldet im Reich des virtuellen Zugriffs. Sie ist aus Fleisch und Blut, hat schwarze Haut und trägt auf dem Zeigefinger einen rosa Gummiüberzug, um besser umblättern zu können. Wir lernen daraus: Bücher digitalisieren sich nicht von selbst, sondern werden in Nachtschichten von Latinos und Afroamerikanern umgeblättert und unter Scanner geschoben.
Diese Lesart legt das lakonische filmische Résumé „Workers leaving the Googleplex“ des Dokumentarfilmers Andrew Norman Wilson nahe. Er war auf dem Firmengelände von Google im Silicon Valley beschäftigt und sah dort von seinem Büro aus, wie aus einem abseitig gelegenen Gebäude zu einer bestimmten Uhrzeit stets größtenteils farbige Mitarbeiter strömten und nachhause fuhren, die mit den anderen Arbeitern keinerlei Kontakt hatten. Als er sich ihnen näherte, um sie nach ihren Aufgaben zu fragen, wichen sie ihm aus, weil sie nicht mit ihm sprechen durften. Stattdessen war Wilson durch diese Annäherung verhaltensauffällig und somit sicherheitsrelevant geworden: Ein Fall für den Google-Sicherheitsdienst.
Es zeugt von Witz, wie Wilson auf der Tonspur unter seinen heimlich gefilmten Bildern vom Werksgelände das Protokoll seiner peinlichen Befragung und der anschließenden Entlassung erzählt. Er erzählt auch, dass bunte Abzeichen die Google-Belegschaft zu dieser Zeit in Klassen unterschiedlicher Privilegien unterteilten – die sogenannten ScanOps, Scan Operators, mit denen er zu sprechen versuchte, hatten seinen Aussagen nach keinerlei Zugang zu den Vergünstigungen, die anderen Mitarbeitergruppen zustehen.
Die Hand einer dieser schwarzen Google-Arbeiterinnen ist also vor einer Buchseite ins Bild geraten, als gespenstisch-plastisches Fragment des Lebens, das den Text verdeckt. Es sieht aus, als wollte sie uns die Augen öffnen, indem sie die Informationen verdeckt, und natürlich fallen einem dazu Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters ein, zum Beispiel „Wer baute das siebentorige Theben?“
Gar nicht mal so selten gelangen solche Fingerzeige auf die digitalisierten Kulturgüter.
Ein Professor monierte, er habe Goethe und Schillers Briefwechsel deswegen nicht zur Gänze studieren können. Ein Grafiker entdeckte seine erste Hand auf einer Dezimal‑Klassifikation, begann diese Fehler sofort zu sammeln, machte einen eigenen Bildband daraus. Wir finden in ihm eine Geschichte von Arbeitsbedingungen und vom Vervielfältigen, und zwar Schwarz auf Weiß.

Drei: Aus dem Handgelenk

Es war einmal ein marxistischer Studentenführer namens Rudi Dutschke, der in den späten 60er-Jahren in Berlin die Weltrevolution plante. Was er wollte, war die Abschaffung von Hunger, Krieg und Herrschaft.
Nun musste unser Rudi auch mal essen und trinken, wenn er mit seinen Gefährten an der Freien Universität lange genug debattiert hatte. Preiswert sollte das Gasthaus sein, ehrlich und gut. Man fuhr ins alte Charlottenburg, denn dort gab es eine Institution, die Hunger, Krieg und mehrere Herrschaften überlebt hatte und nun die unterschiedlichsten Zeitgenossen ohne Ansehen des Standes gleichmäßig in Zigarettenrauch einhüllte, während sie Eisbein, Leber oder Schlachtplatte aßen und Bier mit Korn tranken.
Es war einmal die Traditionskneipe „Wilhelm Hoeck 1892“. Sie bot ihren Gästen zwischen beißenden Nikotinschwaden den Ausblick auf eine wie halluzinierte Spirituosenbatterie, die schon damals an Feuchtpräparate aus dem Medizinhistorischen Museum der Charité‑Klinik erinnerte, nur dass keine missgebildeten Föten in ihr schwammen. Flaschen, deren Inhalt die alchemistischsten Farbtönungen angenommen hatten, reihten sich seit der Kaiserzeit an den Wänden auf, unbeschadet von Querschlägern aus dem Zweiten Weltkrieg, beleuchtet von einer roten Jägermeister-Reklame und flankiert von einer Kupfer-Messing-Registrierkasse aus dem Hause Krupp.
Die Wände und die Decke: tiefbraun. Hildchen Knefs Gesang aus einer Musikbox: „Eins und eins, das macht zwei, drum küss und denk nicht dabei, denn Denken schadet der Illusion....“, Gäste, die mitsingen. Archäologische Schnäpse. Eine Preisliste des Reellen in der Mitte der Theke. Fässer voller Undefinierbarem, die keiner mehr aufmacht.
Dort saß also auch Rudi Dutschke, aber er war viel harmloser, als alle denken, denn er trank nur Tee. ‚Gebt mir einen Teebeutel, und ich hebe die Welt aus den Angeln‘, könnte er gesagt haben, denn zumindest die physikalische Schwerkraft der Verhältnisse überlistete er im „Wilhelm Hoeck“, und zwar aus dem Handgelenk.
Noch heute klebt dort an der Decke ein Teebeutel, den unser Rudi dorthin geschleudert haben soll, als der Tee lange genug gezogen hatte. Das war Revolutionärssport. Heute ist es eine Sehenswürdigkeit aus dem nostalgischen Anekdotenschatz der späten 60er-Jahre. Man sieht den Beutel oben kleben, besser denn je, seit das Rauchverbot eingehalten wird. Man sieht ihn kleben, den Schutzgeist des Ortes.
Hunger, Krieg und Herrschaft sind nicht abgeschafft, Rudi Dutschke ist tot, aber die Erinnerung an ihn lebt, solange seine Hinterlassenschaft nicht von der Decke fällt.

Vier: Handanlegen

Wer wird uns aufrichten, wenn wir alt, klapprig und womöglich bettlägerig sind, unsere Hände untätig auf der Decke ausgebreitet? Ein ganz leises Surren kündigt ihn an. Plastikummantelte, gepolsterte Arme schieben sich unter unseren Körper, Sensoren messen unser Gewicht. Dann geht es aufwärts. Zwei pfannkuchengroße Handteller klappen ein, damit wir nicht abrutschen. Wir ruhen an einer elektronischen Brust, schauen in ein gutmütiges Mausgesicht, dessen Ausdruck sich nie ändert. RIBA-II trägt uns. Er fährt beinahe lautlos zurück, setzt uns langsam im Rollstuhl ab.
RIBA-II kann „Guten Tag“ sagen und auf Aufforderung Hände schütteln. Da er in Japan entwickelt wurde, kniet er sich sogar hin und hebt bis zu 80 Kilogramm schwere Patienten von der Bodenmatte Tatami auf, ohne dabei umzustürzen.
Irgendwann werden wir müde und traurig, weil die Welt eng, immer gleich, aber trotzdem unkalkulierbar ist. Da eilt die Pflegerin mit dem drei Kilogramm schweren Robbenbaby PARO heran. Es ist ganz von weißem Plüsch überzogen, erkennt unsere Stimme, wendet uns den Kopf zu, öffnet und schließt seine Lider, fiept vor Behagen, wenn wir es streicheln. Wir umarmen es und wiegen es in den Schlaf.
Leise streiten derweil nebenan, in einem Parallel-Universum, die Experten: Sind Pflege-, Hebe- und Therapie-Roboter Lösungen oder zeigen sie nur schreiend deutlich die Probleme? Fragen der Sensorik und der Ethik werden beredet. RIBA-II, der Muskelprotz, kommt noch am besten weg, greift er doch den immer weniger werdenden, meist kreuzlahmen Pflegenden buchstäblich unter die Arme – aber auch hier meldet sich eine Philosophin zu Wort, sagt, alten Menschen aufzuhelfen bedeute viel mehr als eine Kraftübertragung.
Wir schlafen, unsere Hände behutsam auf dem Fell einer Emotionsmaschine abgelegt, und hoffen, im Glück der Nähe aufzuwachen.

Fünf: Körpersprachen

In einem Winkel des Pentagons, des großen Weltbeherrschungs-Fünfecks, wird Geld bewilligt für die Arbeit der Politologin und ehemaligen Tänzerin Brenda Connors. Sie lehrt am Naval War College, einem US-Zentrum für strategisches Denken. Dort erforscht Connors, wie man die Bewegungen gefährlicher Herrscher liest. Beispielsweise studiert sie die Auftritte Wladimir Putins. Sie beobachtet, dass er beim Gehen nur seinen linken Arm extrem energisch, fast kämpferisch schwingt, wodurch er seinen ganzen restlichen Körper mit vorwärts reißt. Er bugsiert sich also mit links durch Raum und Zeit, während seine rechte Seite fast wie gelähmt wirkt, nachgeschleift wird. Nach links greift er aus, hat gelernt, eine alte, tiefe Schwäche kontrolliert zu überspielen, vielleicht eine ehemalige, schlecht ausgeheilte Kinderlähmung, so Brenda Connors. Sie will herausfinden, was Putin im Schilde führt, denn nicht erst seit er die Krim annektiert hat, gilt er als schwer durchschaubar. Sie analysiert die Bewegungen des einstigen KGB-Agenten, schaut sich in slow motion buchstäblich an, wie er einen Fuß vor den anderen setzt, vorwärtsgebracht von der Motorik seines linken Arms, und will dieses Grundmuster in mögliche Schachzüge übersetzen.
Solange er nicht spricht, denkt sich wohl das Pentagon, agiert jeder Mensch verräterisch. Die ehemalige Ausdruckstänzerin Brenda Connors ahmt Wladimir Putin sogar nach, durchquert die Bühne wie er, um sich in seine Rolle einzufühlen und zu spüren, wohin er will im großen Machtballett. „Er ist wie ein Reptil“, sagt sie dann. „Auch Reptilien stürzen sich auf ihre Feinde, sobald ihr Territorium bedroht scheint.“
Vor Jahren hat sie auch den Diktator Saddam Hussein begutachtet. Wochenlang betrachtete sie die Aufzeichnungen einiger Minuten, fand heraus, dass Hussein im Stress stets mit der linken Hand nervös sein rechtes Augenlid rieb, dann plötzlich mit dem Zeigefinger in die Luft stach. Denken, Fühlen und Handeln, so Connors, seien bei ihm schlecht verbunden gewesen. Seine Gestik habe nahegelegt, dass er seine Hand mittels Massenvernichtungswaffen zu einem schrecklichen Zeigefinger habe erheben wollen, dass er unausgesprochen stets drohte, mit Raketen in die Luft zu stechen.
Adolf Hitler schließlich, fand Connors in ihrem Entschlüsselungsprojekt heraus, verdrehte seine Arme beim Hitlergruß in einer merkwürdigen schraubenförmigen Bewegung nach innen. Ihre Lehren daraus sind genauso hanebüchen wie die Erkenntnisse über Putin und Hussein.
Machthaber mögen zwar ihre Körper nicht ganz im Griff haben, aber die Situation dafür meist umso mehr.

Sechs: Handlung

Werner Herzog unternimmt keine halben Sachen. Er weiß, dass das Schicksal sich nur beeindrucken lässt durch Anläufe mit Hand und Fuß –  solche, die den ganzen Mann erfordern vom Scheitel bis zu Sohle. 1974 schließt er mit dem Fatum eine Wette ab. Als er erfährt, die von ihm verehrte Filmhistorikerin Lotte Eisner liege todkrank in Paris, drohe zu sterben, handelt er innerlich folgendes aus: Gelingt es ihm, von München bis zu ihr zu Fuß zu gehen, bleibt sie am Leben.
Es ist später November. Herzog macht sich auf, trägt einen kleinen Matchsack und neue Stiefel, schreibt unterwegs ein Tagebuch, das später unter dem Titel Vom Gehen im Eis veröffentlicht wird. Von Anfang an beobachtet er vor allem die stummen Ränder der Wirklichkeit, schafft in seinen Notizen eine erstaunte Leere, die selbst das Trivialste fremd wirken lässt, also wie neu gesehen.
Seine Hände brechen verlassene Wochenendhäuschen auf, um darin zu übernachten. Seine Füße gehen, zunächst unter der Maxime „Weg von hier“; nach einiger Zeit, als ihn Landschaft und Wetter zurecht geschliffen haben, unter der Maßgabe „Das Gehen geht“. Er erleidet ein Martyrium aus diversen Schmerzen und dauerndem Durchgeregnet-Werden, doch seine Mission steht außer Frage. Und die Hand schreibt auf, was die Füße erfahren.
Einmal schildert er als Höhepunkt der Menschenverlassenheit, dass ein einsamer Apfelbaum in der Kälte, von ihm geschüttelt, all seine letzten Äpfel fallen lässt, danach ungeheuerliche Stille herrscht. Trauriges Paradies!
Regen-, Schnee-, sowie Wolkenwände treiben um den Gehenden, reißen dann plötzlich auf, geben den Blick frei auf einen Wolfshund mit gelben Augen, Skatspieler, im Sturm schwankende Tannen, einen vergessenen Plastikfußball, oder eine Frau, die Holz sammelt – also den ewigen Alltag, eindrucksvoll aufgehoben in diesem alterslosen Text.
Obwohl er nach drei Wochen ankommt, obwohl er die Wette gegen den Tod gewinnt und seine Aufzeichnungen schönstens beendet, nämlich mit dem Satz, er könne nun fliegen, sieht man Werner Herzog immer noch unterwegs – und nie die Hand ausstrecken nach der Klingel Lotte Eisners in Paris.

Sieben: Gut zu Fuß

Im fernen Neuseeland haust ein Geselle, der zwar Flügel hat, aber sein Unheil gern in hüpfenden Trupps am Boden verrichtet. Der Kea oder Bergpapagei gehört zu den neugierigsten Wesen dieser Erde, und alles, was ihn interessiert, untersucht er, indem er es mit Schnabel und Füßen zerlegt oder zu zerlegen versucht. Er ist ein echter Forscher: draufgängerisch, unbeirrbar, mitteilsam, was sein Wissen anbelangt. Was ein Kea kann, lernen seine Kollegen schnell ebenso anzuwenden.
Die olivgrünen Vögel leben in den Bergen, oberhalb der Baumgrenze. In jener kargen Umgebung zählt jede Pfiffigkeit doppelt, wenn es darum geht, Nahrung oder Schutz vor Kälte, Regen und Schnee zu finden.
Schafzüchter, die hochgelegene Weiden bewirtschaften, bezichtigen die Keas überdies einer Ungeheuerlichkeit: Sie würden sich nicht nur an die Kadaver gestürzter, verendeter Schafe heranmachen, sondern sich auf lebenden Exemplaren festkrallen, ihnen die Haut aufhacken und ihre Innereien freilegen, um an das Nierenfett zu kommen. Seit dieses Gerücht in der Welt ist, wurden unzählige Keas von Schafzüchtern erschossen.
Ihre überlebenden Artgenossen sitzen derweil auf neuseeländischen Hausdächern und begehen wie jeder Forscher auch böse Irrtümer. Genüsslich ziehen sie alte Nägel aus den Dächern, halten sie im Fuß, um daran zu knabbern, sterben bald darauf an Bleivergiftung. Trotzdem üben sie – geschickt wie Mundmaler, wie Akrobaten im Ungewissen – die Kunst der Entdeckung aus.
Unter kontrollierten Versuchsbedingungen bewiesen sie: Bergpapageien können Bolzen-, Schraub- und Splint-Verschlüsse öffnen sowie ihr eigenes Spiegelbild erkennen.
Der zweite Intelligenztest läuft momentan im neuseeländischen Freiland. Umweltschützer, die Fallen gegen Hermeline aufgestellt haben, müssen in einem schon mehrjährigen Feldversuch erleben, wie die Keas ihnen ihre immer wieder modifizierten Konstruktionen jedes Mal aufs Neue unbrauchbar machen, indem sie mit Stöcken den Ködermechanismus auslösen, die Fallen in ihre Bestandteile zerlegen oder sie einfach umkippen, obwohl sie siebenfach schwerer als ihr eigenes Körpergewicht sind.
Pfiffigkeit und Dummheit treten sich allerdings hier in einem akrobatischen Zirkelschluss gegenseitig auf die Füße, denn die herbeihüpfenden Zerstörer verhindern das Einfangen eines Feindes, der die Keas durch Eierraub endgültig zu dezimieren droht.

Acht: Auf allen Vieren

Das Rütteln an der Artengrenze zwischen Menschen und Tieren ist keine Frage der Sentimentalität, sondern der Bereicherung. Man gewinnt nichts dabei, seinen Pudel mit Gamaschen oder Strickjäckchen auszustatten, aber eine Höhle zu graben und zu versuchen, darin wie ein Dachs zu leben, kann durchaus erhellend sein.
Charles Foster, britischer Tausendsassa mit der typisch britischen Gabe, sogenannte Sachbücher durch subjektive Wahrhaftigkeit in ein neues Genre zu überführen, hat das getan. Sein entsprechender Bericht heißt: Being a beast. Und wenn die Schmunzelsalven über den 1,90 Meter großen Spinner, der sich auf alle Viere begeben hat, um eine Grenzerfahrung zu machen, abgeklungen sind, wird es interessant.
Dann gerät in den Blick, dass er im Grunde – oder genauer: im Untergrund – als Kundschafter für unsere vernagelte Spezies arbeitet.
Unerschrocken ließ er sich in den walisischen Bergen von einem befreundeten Farmer einen Graben ausheben, den er, da Dachse gesellige Wesen sind, zusammen mit seinem achtjährigen Sohn Tom überdachte und weiter ausbaute, bis eine Rückzugs- und Schlafhöhle unter der Erde entstanden war. Schon diesen Auftakt bewältigten die beiden kriechend – ebenso die ersten Erkundungsausflüge in den umgebenden Wald. Dabei ging es vor allem darum, mit der Nase näher an den Boden zu kommen, weil die Welt der Dachse hauptsächlich eine der Gerüche ist. Wie Foster durch hartes Training schafft, seiner im Vergleich kümmerlichen menschlichen Riechfähigkeit weit genug aufzuhelfen, dass er vorher noch nie erfahrene olfaktorische Landkarten der Gegend erstellt, ist alleine lesenswert. In all dem ist ihm sein Sohn stets überlegen, der noch nicht so vernagelt, außerdem qua Körpergröße näher an Farndickicht und Wühlmauswegen ist. Foster beobachtet, dass Toms Handgelenke vom vielen Kriechen immer dicker werden, fast so, als stünde bereits eine evolutionäre Anpassung bevor.
Zum Dachs-Sein gehört, Regenwürmer zu fressen, den Tag in der Burg zu verschlafen und erst bei Einbruch der Dämmerung loszuziehen. Charles und Tom taten es. Für ihr Abenteuer gilt, was bei allen Wagnissen gilt: Wer mehr weiß, begreift mehr. Foster hat sich vorab auf den wissenschaftlichen Stand dessen gebracht, was man auf der anderen Seite der Artenschranke über Dachse lernen kann. Dies hilft ihm jedoch in entscheidenden Punkten nicht weiter.
Faszinierend schildert er, wie sich bei der Annäherung an ein fremdes Sensorium auch sein Bewusstsein ändert. Er frönt nicht länger der Gewissheit, allen anderen Lebewesen überlegen zu sein – und er beginnt, ein Gespür für die tiefe Verbundenheit der Dachse mit der Erde zu entwickeln, von der sie in ihren oft jahrhundertealten Bauten stets umgeben sind, und die auch jeden von uns eines Tages wieder fressen wird.
Bei nächtlichen Streifzügen durch den Wald hat er das Bedürfnis, wie ein Tier die Grenze seines Reviers zu markieren. Der Dachs würde dies mittels Kot tun. Foster lässt stattdessen lange seine Handfläche auf einem Felsen liegen.

Neun: Handschwingen

Könnten wir unseren Sorgen davonfliegen, wachten wir anatomisch gesehen am ehesten als Albatros auf. Im Unterschied zu den meisten anderen Vögeln, die mittels umgebildeten Handknochen fliegen, hat er, wie wir, längere Arm- und kürzere Handknochen. Sobald er seine – mit bis über drei Metern Spannweite riesigen – Flügel ausbreitet, rasten sie durch einen Mechanismus gewissermaßen ein, werden fixiert, um ihm weitere Anstrengungen zu ersparen. Er rudert nicht durch die Luft, sondern lässt sich tragen, kommt vorwärts wie wir in unseren Träumen. Seine Schwingen funktionieren ähnlich den Tragflächen eines Segelflugzeugs. Was nur fehlt, ist Wind.
Der muss mehr als zwölf Stundenkilometer stark wehen, sonst kann ein Albatros nicht starten.
Auf winzigen, abgelegenen Eilanden der stürmischen Südhalbkugel stellt er sich an den Böschungen wartend auf, bis es ihm passgenau unter die Flügel fährt, lässt sich auf Flughöhe heben und beginnt zu gleiten.
Dies kann Tage, Wochen, Monate andauern. 95 Prozent seines Lebens verbringt er im Flug über dem Meer, legt dort hunderte, tausende, unzählige Kilometer zurück.
Eigentlich ist der Albatros eine Erscheinung. Fast ohne Flügelschlag schießt er durch die Elemente, unberührt von Unwettern oder turmhohen Wellen, eine weiße Gestalt mit schwarzen Augen, die Seeleuten schon seit je scheue Ehrfurcht einflößte. Sie vermuteten die Seelen gestorbener Kameraden in jenem geisterhaften Vogel verkörpert – dabei verkörpert er vor allem eines, und das beinahe vollkommen: die Idee der Besitz- und Grenzenlosigkeit.
Albatrosse können, genau weiß man es nicht, wohl so alt werden wie Menschen.
Dass sie mittlerweile gefährdet sind, durch die Langleinen der Fischer, das allgegenwärtige Plastik im Meer und das Anthropozän als solches, versteht sich von selbst. Aber sie werden auch eingesetzt, um mit einem GPS-Tracker und einem Radar‑Detektor auf dem Rücken illegale Fischfangboote in den entlegensten Gebieten der Ozeane aufzuspüren, riechen sie doch Fischabfälle schon aus gewaltigen Distanzen.
Wenn nach einer Weile, spätestens in der nächsten Mauser, die Geräte wieder von ihnen abfallen, segeln sie weiter, vogelfrei, große Geschöpfe, die immer kleiner werden, hinter Wellen verschwinden – wie wir es nachwinkend auch unseren Sorgen wünschen.

Zehn: Fußspuren

Unsere eiszeitlichen Vorfahren, die vor 17.000 Jahren über den Lehmboden von Pyrenäenhöhlen liefen, hatten zu tun. Sie liefen hin und her, einzeln oder in Gruppen, folgten Ritualen, Mordgelüsten oder Haushaltspflichten – wer weiß das schon? In einigen Höhlen hinterließen sie komplizierte Fußspuren. Vollgesogen mit Dunkelheit und Kälte, warteten diese 17.000 Jahre lang auf ihre Entzifferung. Dann kamen Wissenschaftler mit Stirnlampen, beugten sich über die Abdrücke und begannen zu fantasieren: Sie sahen einen Ritualtanz. Sie sahen Höhlenmaler bei der Arbeit. Sie sahen Fluchten und Ruheplätze. Sie sahen mit aufgerissenen Augen: einen Schuh! Nein, den Abdruck eines einzelnen Schuhs, getragen während der Eiszeit. Das war die größte Sensation.
So sog sich die Materie weiter voll mit Geheimnis. Kleine Vertiefungen in großen Höhlen schwiegen. Bis eines Tages jemand auf die Idee kam, Fährtenleser aus der namibischen Wüste Kalahari aufzuspüren und auf das Problem anzusetzen.
Das Jägervolk der San ist als eines der letzten noch imstande, Tiere, Freunde und Feinde anhand ihrer Fußspuren in der Wüste zu identifizieren und zu verfolgen. Präzise lesen sie Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand und andere Details aus den Spuren, als wären sie ein Dossier. Sie interpretieren die Abdrücke der Schwerkraft wie andere Leute Handschriften, und in ihrer Welt, im Sand, hinterlässt beinahe alles, was sich dort bewegt, einen Text für sie. Solcherart qualifiziert, machten sich die Schriftgelehrten aus der Wüste, die immer im Licht badet, an die Arbeit im ewigen Dunkel der Vergangenheit. Von den Wissenschaftlern ausgerüstet mit warmen Jacken und Taschenlampen, krochen sie durch kalte, enge Gänge, robbten sich auf dem Bauch vor zu den Stellen, an denen unsere Vorfahren hin- und hergelaufen sind. Die San schmunzelten. Einen Schuh konnten sie nicht erkennen. Das vermeintliche Zeugnis eines Ritualtanzes sind die Abdrücke eines Erwachsenen und eines Kindes, die in der Höhle Lehm geholt haben, denn ihre Spuren sind beim Hinausgehen tiefer eingesunken als beim Hereinkommen. Von insgesamt 17 eiszeitlichen Höhlenbesuchern bestimmten die San Alter und Geschlecht.
Die Jäger aus der Kalahari verabschiedeten sich. Sie haben Fährten der Menschheitsgeschichte entschlüsselt – einer Geschichte, die schwankt in einem Hin und Her zwischen Ritualen, Mordgelüsten und Haushaltspflichten, als Fußnoten festgehalten in Pyrenäenhöhlen.