Dienstag, 16. April 2024

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200. Geburtstag von Heinrich Schliemann
Vom Kaufmann zum Gründervater der Archäologie

Steinreicher Selfmade-Man und Gründer-Held der Archäologie: Vor 200 Jahren wurde Heinrich Schliemann geboren, er behauptete, Troja ausgegraben zu haben. Das ist aber bis heute umstritten – ebenso wie die Leistungen des Autodidakten Schliemann selbst.

Von Matthias Hennies | 06.01.2022
Das Grabmal des Archäologen Heinrich Schliemann auf dem ersten Athener Friedhof in Form eines antiken Tempels
Griechenland als Sehnsuchtsort - das Grabmal des Archäologen Heinrich Schliemann auf dem ersten Athener Friedhof (imago/Andreas Neumeier)
Wo erstach Achill den großen Hektor, den Superhelden der Trojaner? Wo lag die Stadt Troja, die ein griechisches Heer eine Ewigkeit belagerte? Diese Frage trieb das aufstrebende Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts um. Auch viele Altertumsforscher waren überzeugt, dass es den Schauplatz von Homers „Ilias“ tatsächlich gab, dass man ihn ausgraben könne – und eines Tages präsentierte dieser Heinrich Schliemann der Welt tatsächlich die Lösung! Hatte ihn sein Lebensweg nicht geradewegs zu diesem Ziel geführt, von Kindheit an?
„Wurden doch sozusagen Hacke und Schaufel für die Ausgrabung Trojas schon in dem kleinen deutschen Dorfe geschmiedet, in dem ich acht Jahre meiner ersten Jugend verbrachte.“

So hat Schliemann es 1880 in einer Autobiografie dargestellt. Doch die Episode ist erfunden – wie so viele andere. Nachträglich inszenierte er sein Leben, verlieh ihm einen durchgehenden Sinn, der zu Ruhm und Anerkennung führte. Die Halbwahrheiten und Übertreibungen seiner zwei Autobiografien haben das Leben des Laien-Archäologen, der dem Mythos „Troja“ nachjagte, ebenfalls zu einem Mythos gemacht, schrieb Justus Cobet vor einigen Jahren, Archäologe und Biograf Schliemanns: „Mythos ist nicht nur der von Homer erzählte Troische Krieg, sondern sind auch Schliemanns phantastische Biografie und die Vorstellung, was moderne Archäologie sei: eine positive Wissenschaft, die unumstößliche Gewissheiten schaffe.“

Kindheits-Traumata

Was also hat der „Gründerheros“, wie Cobet ihn nannte, tatsächlich zur Archäologie beigetragen? Und wie verlief die Lebensgeschichte, die er glaubte, mit so viel Erfundenem ausschmücken zu müssen?

„Da müssen wir erst mal daran erinnern, dass er als Kind unglaubliche traumatische Erlebnisse hatte. Als er neun Jahre alt war, starb seine Mutter und im gleichen Jahr wurde sein Vater, Pastor in Ankershagen, wegen unmoralischen Lebenswandels vom Dienst suspendiert. Und er war dann kurze Zeit im Gymnasium, doch das musste er wegen Geldmangels wieder verlassen.“ Auf diese Ereignisse ging sein übermäßiges Geltungsbedürfnis zurück, meint Dr. Reinhard Witte, Vorsitzender der Heinrich-Schliemann-Gesellschaft, die in Ankershagen in Mecklenburg, dem Geburtsort des Archäologen, ein Museum unterhält.

Schliemann kämpfte sein Leben lang um Ruhm und Anerkennung – und hatte sagenhaften Erfolg: Mit 14 begann er sein Berufsleben als Krämergehilfe - noch ehe er 30 wurde, war er ein reicher Mann. „Das war seine Kaufmannstätigkeit in Russland, er war aber auch ein Jahr in den Vereinigten Staaten und hat dort in Sacramento eine Goldgräber-Bank aufgemacht, Goldstaub aufgekauft und ist auch dadurch sehr reich geworden - aber hauptsächlich wegen seiner Handelstätigkeit in Russland zwischen 1846 und 1864.“

Vom Tellerwäscher zum Millionär

Schliemann handelte dort mit Indigo, Baumwolle, Tee – und während des Krimkriegs auch mit Salpeter für Sprengstoffe und Blei. Seinen Geschäften widmete er sich mit obsessiver Rastlosigkeit, war ständig auf Reisen, verfasste Tausende von Briefen und eignete sich mit unerschöpflicher Disziplin 20 Fremdsprachen an.

Seine Karriere spiegelt die Dynamik einer Epoche, die die althergebrachte Gesellschaftsordnung wegfegte: Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wuchsen in Europa und den USA die Schlote der Fabriken in den Himmel, Tag und Nacht dröhnte das Hämmern der Maschinen und aus verarmten Agrarregionen strömten Millionen Menschen in die lichtlosen Mietskasernen unaufhaltsam wachsender Städte.

„Natürlich gab es solche Aufstiege immer wieder und das hat sicherlich die Industrialisierung befördert – aber Schliemann ist da ein Extrembeispiel; jemand, der nicht nur im Deutschen Reich bekannt war, sondern er ist weltberühmt geworden. Jemand, der dann tatsächlich noch mal in einem ganz neuen Feld reüssiert hat, er ist dann noch einen weiteren Schritt gegangen, in dem er auch noch in der Wissenschaft Karriere gemacht hat.“ „Vom Tellerwäscher zum Millionär“, diese Karriere reichte Schliemann nicht, erzählt die Kulturwissenschaftlerin Stefanie Samida, Professorin an der Uni Heidelberg. Ihm ging es nicht allein um Geld, er suchte darüber hinaus die Anerkennung der Bildungsschicht – auch das war ein Charakteristikum seiner Zeit.
Blick auf Schliemanns Ausgrabungen von "Troja" in einem historischen Stich
Was Schliemann in Hisarlik eigentlich ausgegraben hat, ist bis heute umstritten (imago/ Collection Grob/KHARBINE-TAPABOR)

Verblüffende Parallelen zu Ibsens "Peer Gynt"

Der Schliemann-Biograf Cobet verwies auf verblüffende Parallelen in Ibsens Drama „Peer Gynt“, das 1867 entstand: Der Bauernsohn Gynt, in den Vereinigten Staaten reich geworden, sucht eine neue Beschäftigung. Zuerst erwägt er, ein Buch über sein Leben zu schreiben:

„Oder halt! Ich habe Zeit –

wie, wenn ich als reisender Gelehrter

die Gier vergangener Zeiten studierte?“


Gynt malt sich aus, wie er den Spuren der Kulturgeschichte folgt: Von den Pyramiden nach Babylon -

„...dann in einem Sprung zu den Mauern Trojas

und von Troja führt der Seeweg direkt

hinüber ins herrliche alte Athen…“

Die Suche nach dem mythischen Troja

Und Schliemann? Liquidierte mit 42 Jahren sein Unternehmen in St. Petersburg, besuchte Indien, China, Japan und die großen Stätten der Kulturgeschichte. Dann kam die Schwärmerei für Homer, den Dichter des 8. Jahrhunderts vor Christus: Die antiken Epen für bare Münze nehmend, begann Schliemann nach materiellen Spuren der Helden aus „Ilias“ und Odyssee“ zu suchen. Obwohl er keinerlei Ausbildung in der Archäologie hatte, fasste er den Plan, diese Hinterlassenschaften durch Ausgrabungen ans Licht zu bringen: Vor allem natürlich den berühmtesten Sehnsuchtsort der Gebildeten, den Schauplatz des Trojanischen Krieges.

Den entscheidende Hinweis auf den Siedlungshügel Hisarlik im türkischen Kleinasien bekam er von dem britischen Diplomaten und Archäologen Frank Calvert. Doch Schliemann lohnte es ihm nicht, berichtet Reinhard Witte: „Das Problem ist ganz einfach, dass dieser Frank Calvert mit Sicherheit gehofft hatte, als er diesem schwerreichen Mann den Tipp gegeben hat, an der richtigen Stelle zu suchen, dass dieser Schliemann zu ihm sagt, komm, das machen wir zusammen. Doch dafür war Schliemann einfach nicht der Mann, er wollte den Erfolg für sich haben.“

Schliemann betrieb die Archäologie rastlos und monomanisch wie seine Geschäfte: Er ließ einen 14 Meter tiefen Graben quer durch den Hügel treiben und räumte alle Erdschichten rücksichtslos ab, die ihn hinderten, zum vermeintlichen Palast des trojanischen Königs Priamos vorzudringen.
Nachbildung des berühmten Diadems aus dem "Schatz des Priamos" im Schliemann-Museum in Ankershagen
Der originale "Schatz des Priamos" kam nach dem zweiten Weltkrieg als Beute nach Russland (dpa / Bernd Lasdin)

Der "Schatz des Priamos"

Für viele damalige Archäologen war das ein Sakrileg: Spuren der römischen und hellenistischen Bauten gingen verloren, der Kontext der Funde, unverzichtbar für eine verlässliche Datierung und Deutung, wurde weitgehend zerstört. Doch der Erfolg schien Schliemann Recht zu geben, so Wittte: „Dann kam eben dieser 31. Mai 1873, wo Schliemann in der Schicht zwei den so genannten 'Schatz des Priamos' fand. Und dann war für ihn klar, das ist das homerische Troja. Und dann hat er in die Welt hinausposaunt, ihr habt alle über mich gelacht, vor allem die deutschen Professoren, hier mit diesem Schatz habe ich den Beweis, das homerische Troja hat existiert.“

Schliemann ließ seine Frau mit Diadem, Halskette und Ohrgehängen aus dem Schatzfund fotografieren: Die Aufnahme ging um die Welt, sie wurde zu einer Ikone der Troja-Forschung – aber in der Fachwelt wollten die Zweifel nicht verstummen: „Es gab dann auch viel Kritik, vor allem aus der deutschen Archäologie, auch aus der österreichischen und aus England gab es den einen oder anderen Kritiker, die mit der vorschnellen Deutung nicht einverstanden waren. Also er kommt jetzt als Außenseiter, der hineinbricht in die akademische Elite, und dann hat für Kritik gesorgt die Art und Weise, wie er vorgegangen ist bei seinen Ausgrabungen.“

Seinem Ruhm tat das keinen Abbruch, sagt Stefanie Samida, im Gegenteil: Der frisch gebackene „Spatenforscher“ bediente sich geschickt der expandierende Presselandschaft, publizierte Grabungsberichte sowohl in der Augsburger Allgemeinen als auch in der Londoner Times, nutzte das junge Medium der Fotografie ebenso wie traditionelle Holzstiche, so dass Abbildungen der Ausgrabung in der aufkommenden illustrierten Massenpresse erscheinen konnten. Seine Bücher wurden internationale Bestseller. Kurz, so die Archäologin Dr. Polly Lohmann, die an der Uni Heidelberg eine Schliemann-Ausstellung vorbereitet: „Diese Art der Selbstvermarktung war auch ein besonderes Merkmal von ihm, das er anderen Zeitgenossen und anderen Archäologen voraus hatte.“
Die "Goldmaske des Agamemnon" wurde 1876 von Heinrich Schliemann in Mykene ausgegraben
Die sogenannte "Goldmaske des Agamemnon" ist wohl noch deutlich älter als von Schliemann angenommen (imago/Photo12/Ann Ronan)

Ein umstrittener Gründervater der Archäologie

Dass er immer auf der Höhe der Zeit war, neue Techniken nutzte und Fachleute aus anderen Disziplinen hinzuzog, wenn sie ihm dienlich waren, trug dazu bei, dass er heute als ein „Gründungsheros“ der jungen archäologischen Wissenschaft gilt. „Er hat natürlich ein sehr populäres Bild der Archäologie gezeichnet oder hat die Archäologie sehr stark in die Öffentlichkeit getragen, das kann man positiv oder negativ sehen.“

Positiv, weil er weltweite Aufmerksamkeit auf ein Fach lenkte, das sich gerade erst entwickelte. Aber mit seiner unerschütterlichen Überzeugung, er habe Troja „bewiesen“, vermittelte er den irreführenden Eindruck, man müsse nur zum Spaten greifen und könne so Gewissheit über Orte und Ereignisse aus fernen Zeiten gewinnen. Doch die Wissenschaft der Archäologie besteht überwiegend aus mühsamer, langwieriger Kleinarbeit und kann nie mehr als Hypothesen liefern.

Ob es Homers „Troja“ überhaupt gegeben hat, ist bis heute umstritten. Sowohl der vermeintliche „Schatz des Priamos“ wie auch Schliemanns andere Funde auf dem Hisarlik sind deutlich älter als die Schlachten der Bronzezeit, auf die das Epos vom „Trojanischen Krieg“ zurückgeht. Doch Schliemann hat damit eine Epoche entdeckt, die vorher unbekannt war. Und er hat sich große Verdienste mit späteren Ausgrabungen auf dem griechischen Festland erworben, betont Reinhard Witte: „Er ist mit seiner Ausgrabung in Mykene 1876 der Entdecker einer bisher unbekannten Kultur, nämlich der mykenischen Kultur, die zwischen dem 16. und 12. Jahrhundert vor Christus existiert; und letztendlich ist die mykenische Kultur das zweite europäische Staatswesen nach der minoischen Kultur.“

Typisches Kind des 19. Jahrhunderts

Und als rastloser Aufsteiger, als Weltbürger und erfolgreicher Autodidakt ist Heinrich Schliemann eine Gestalt, in der Umbrüche und Innovationen des 19. Jahrhunderts kulminieren. Stefanie Samida: „Man sieht es allein schon an seiner Mobilität, die Mobilität nimmt zu, es ist die erste Form der Globalisierung, die Eisenbahn wird gebaut, dann kommt die Dampfschifffahrt auf, dann gehört natürlich dazu der Telegraph, so eine Telegraphennachricht geht in wenigen Minuten um die Welt. Schliemann hat von vielen dieser Umwälzungen profitiert, er hat von der Presse profitiert, er hat von der Wissenschaft in dem Sinn profitiert, dass die Archäologie sich langsam herausbildete und dass er da noch Fuß fassen konnte und die Wissenschaft da noch offen war, da lässt sich gut an seiner Person die Entwicklung und Innovation im 19. Jahrhundert ablesen.“