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Impfempfehlungen
STIKO-Arzt: Wir wären oft gerne schneller, haben aber nicht genügend Ressourcen

Der Biontech-Impfstoff für Kinder wird erst ab dem 20. Dezember in Deutschland verfügbar sein. Vorher wird es auch keine Empfehlung der Ständigen Impfkomission dazu geben. Noch fehlten Daten, sagte STIKO-Mitglied Martin Terhardt im Dlf. Zudem sei die mangelnde personelle Ausstattung der STIKO ein Problem.

Martin Terhardt im Gespräch mit Philipp May | 26.11.2021
Eine Ärztin impft ein Mädchen
Die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA hat den Corona-Impfstoff für Kinder des deutsch-amerikanischen Herstellers Bionteck/Pfizer zur Zulassung empfohlen. Offiziell zulassen muss ihn die EU-Kommission. Das gilt aber als Formsache. (Mark Hertzberg/ZUMA Press Wire)
Die europäische Arzneimittelbehörde EMA hat am Donnerstag (25.11.2021) grünes Licht für die Zulassung des Corona-Impfstoffs von Biontech/Pfizer für Kinder von fünf bis elf Jahren gegeben. Der Kinderarzt im Ruhestand Martin Terhardt, Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO), betonte im Deutschlandfunk, dass es sich nicht um denselben Impfstoff wie für die Erwachsenen handele.
Thema: EMA empfiehlt Zulassung eines Corona-Impstoffs für Kinder
Der Impfstoff speziell für Kinder sei daher zuverlässiger wirksam als die Gabe einer geringen Dosierung des Erwachsenen-Impfstoffs an Kinder. Dies werde im sogenannten Off-Label-Use zwar getan, das Vorgehen bewege sich aber in einem juristischen Graubereich und sei riskant, sagte Terhardt. Es könne zu Dosierungsfehlern kommen und die sehr geringen Mengen des Erwachsenen-Impfstoffs landeten möglicherweise nicht sicher im Muskel. Eine Empfehlung der STIKO dazu könne es daher nicht geben.
Der Kinderimpfstoff von Biontech steht in Deutschland allerdings erst ab dem 20. Dezember zur Verfügung. Daher könne sich die STIKO in diesem Fall mit ihrer Impfempfehlung noch einige Wochen Zeit lassen, so Terhardt. Die Mitglieder tendierten dazu, wie bei der Empfehlung für die Zwölf- bis 17-Jährigen auch hier zunächst eine Empfehlung für die Kinder zu geben, die ein höheres Risiko der Erkrankung haben. "Denn wir haben noch nicht genügend Daten, was die Sicherheit des Impfstoffes bezüglich seltener Komplikationen angeht. Auch aus den USA liegen diese Daten bisher nicht ausreichend vor."
Terhardt wies darauf hin, dass die STIKO mit allen Aufgaben zur Covid-Impfung "wirklich ausgelastet" und "am Rande der Möglichkeiten" sei, was ihre Ressourcen angehe. "Wir würden gerne oft schneller sein", erklärte der Mediziner, die Geschäftsstelle der STIKO am Robert-Koch-Institut sei aber personell völlig überfordert. Andere Abteilungen müssten aushelfen, die Mitarbeitenden stünden aber auch unter hohem Druck und arbeiteten "an ihrem körperlichen Limit", so Terhardt. Das sei ein strukturelles Problem in einer Pandemie.

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Das komplette Interview im Wortlaut:
Philipp May: Wieso brauchen Sie wieder so lange?
Martin Terhardt: Die Frage sind wir ja mittlerweile gewöhnt. In diesem Fall können wir uns diese Zeit erlauben, ohne dass es zu irgendwelchen Verwerfungen kommt, weil der Impfstoff ja auch erst ab dem 20. Dezember verfügbar sein wird. Das heißt, die Impfung, die jetzt von der EMA zugelassen worden ist, steht im Moment noch nicht zur Verfügung, weil es sich nicht um denselben Impfstoff wie für die Erwachsenen handelt.

"Off-Label-Impfungen sind ein juristischer Graubereich"

May: Könnte man nicht einfach mit dem gleichen Impfstoff und davon die Hälfte oder ein Drittel impfen?
Terhardt: Das machen ja schon einige Ärzte in den letzten Wochen. Das wird ja auch im Internet propagiert. Das ist mit gewissen Risiken behaftet und es ist auf jeden Fall nicht von der Zulassung gedeckt. Das ist ein juristischer Graubereich, wir nennen das "Off Label", und das ist in diesem Fall vor allen Dingen dadurch ein Risiko, weil die Menge, die dann geimpft wird, 0,1 Milliliter ist, eine sehr kleine Menge. Da kann es Dosierungsfehler geben und es kann auch sein, dass nicht alles von dem Impfstoff wirklich im Muskel landet. Insofern ist das ein Verfahren, das nicht empfohlen wird, und jetzt gibt es eine Zubereitung, die anders ist, wo die Menge dann auch größer ist, wo es zuverlässiger ist, dass das, was wirksam ist, dann auch wirklich im Muskel landet. Das ist eine Situation, die wir sonst nicht haben, dass dieser Ausweg genutzt wird, und das halte ich weiterhin nicht für empfehlenswert.
May: Wäre das denn auch immer noch Off Label jetzt nach der EMA-Freigabe, wenn Ärzte das machen mit dem Erwachsenenimpfstoff?
Terhardt: Ja, das ist so. Ich kann trotzdem Situationen verstehen, wo das gemacht worden ist. Es gibt viele Kinder mit einem hohen Risiko für eine schwere Erkrankung. Deren Eltern sind sehr verzweifelt und da kann ich verstehen, dass es Situationen gibt, individuell, wo im Beratungsgespräch mit den Ärzten so entschieden worden ist, weil in Kenntnis des Risikos und der Unsicherheiten beide damit einverstanden waren. Aber es kann keine öffentliche Empfehlung dazu geben.

"Unsere Ressourcen sind begrenzt"

May: Herr Terhardt, viele fragen sich, jetzt sind in den USA schon viele Millionen, ich glaube knapp drei Millionen Kinder mittlerweile geimpft. Kanada impft, Israel impft Kinder zwischen fünf und elf. Aber Deutschland kann nicht.
Terhardt: Das müssten Sie, glaube ich, eher die EU fragen, woran das liegt. Das hat jetzt nichts mit der Stiko zu tun. Wir als STIKO sind verpflichtet, Impfempfehlungen für Deutschland zu geben bei zugelassenen Impfstoffen. Das werden wir tun. Wir haben uns jetzt das Recht herausgenommen, das bis zum 20. Dezember zu tun, weil der Impfstoff nicht vorher verfügbar ist. Wir sind in der STIKO mit allen Aufgaben zur Covid-Impfung wirklich ausgelastet und am Rande der Möglichkeiten, was die Ressourcen hergeben. Wir würden gerne oft schneller sein, aber das liegt daran, dass wir nicht genügend Ressourcen an der Geschäftsstelle im Robert Koch-Institut haben, um das wirklich in dem Maße leisten zu können.

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May: Das ist ja interessant. Ist das ein großes strukturelles Problem, das die STIKO hat, dass ein ehrenamtliches Gremium solch wichtige Entscheidungen in der Pandemie treffen muss? Nichts gegen Sie! Ehrenamt ist ja ganz toll. Aber ist das möglicherweise ein strukturelles Problem, das wir hier haben in Deutschland?
Terhardt: Wenn es um eine Pandemie geht, ist das sicherlich richtig, dass es ein strukturelles Problem ist. Aber ich würde es nicht am Ehrenamt festmachen. Ich halte das für ein gutes Konstrukt, dass das in Ehrenamt ist, dass die Menschen unabhängig sind, die diese Entscheidungen fällen. Aber die wissenschaftliche Arbeit, das Durchwälzen aller Studien, die in Frage kommen können, das machen ja hauptamtliche Mitarbeiter des Robert-Koch-Instituts im Auftrag der STIKO. Wir haben eine Geschäftsstelle am Robert-Koch-Institut und die ist personell völlig überfordert in der jetzigen Situation und muss sich ständig Hilfe von anderen Abteilungen suchen und die stehen auch zurzeit unter hohem Druck und da arbeiten alle völlig an ihrem körperlichen Limit. Das ist ein strukturelles Problem, da haben Sie recht. Viele andere Impfthemen sind in den letzten anderthalb Jahren auch liegen geblieben, weil wir dafür keine Ressourcen hatten.
May: Aber das könnte man doch ganz einfach lösen, indem man mehr Geld gibt und mehr Leute einstellt.
Terhardt: Wenn Sie meinen, dass das so ganz einfach ist, dann wäre das vielleicht der Weg. Man muss diese Leute ja auch haben und man muss aber auch den festen Willen haben, das so strukturell zu ändern. Vielleicht kommt da jetzt ja neue Bewegung rein nach den Koalitionsverhandlungen.

"Geben uns größte Mühe, den Termin einzuhalten"

May: Wird es denn bis zum 20. Dezember, wenn der Impfstoff ausgeliefert wird in Deutschland, eine Empfehlung der Stiko geben?
Terhardt: Wir geben uns größte Mühe, diesen Termin einzuhalten. Ich gehe davon aus, dass wir das schaffen werden.
May: Können Sie schon absehen, wie die Empfehlung ungefähr aussieht?
Terhardt: Im Moment ist es so, dass die Tendenz eher dazu geht, einen ähnlichen Weg zu gehen wie bei den zwölf bis 17-Jährigen, dass es zunächst eine Empfehlung für die Kinder geben wird, die es wirklich dringend, dringend nötig haben, weil sie ein höheres Risiko der Erkrankung haben. Denn wir haben noch nicht genügend Daten, was die Sicherheit des Impfstoffes bezüglich seltener Komplikationen angeht. Auch aus den USA liegen diese Daten bisher nicht ausreichend vor.

"Komplikationen vorwiegend nach der zweiten Impfung aufgetreten"

May: Aber es sind doch schon drei Millionen geimpft. Bis zum 20. Dezember werden es wahrscheinlich noch mal so viele sein.
Terhardt: Richtig! Bis dahin werden vielleicht auch schon einige Zweitimpfungen durchgeführt worden sein. Die Komplikationen, die wir bei den zwölf bis 17-Jährigen und den jüngeren Erwachsenen erlebt haben, diese Herzmuskelentzündung, sind vorwiegend nach der zweiten Impfung aufgetreten. Die mussten dann erst mal gemeldet werden und dieses Signal musste erkannt werden in den Überwachungsbehörden über die Impfstoffsicherheit, und das hat einen zeitlichen Verzug. Das heißt, wir müssen schon davon ausgehen, dass es mindestens sechs bis acht Wochen nach Beginn so einer Impfkampagne dauert, bis man diese Daten generiert haben kann.
May: Werden Sie bei Ihrer Empfehlung in Betracht ziehen, ob damit beispielsweise der Schulunterricht abgesichert wird, gerade im Wissen, dass die Schulschließungen unter Kindern auch sehr viel Leid produziert haben? Es gibt, glaube ich, jetzt in jeder Schule die Situation, dass mehrere Kinder in Quarantäne sind, weil es Ausbrüche gibt.
Terhardt: Das ist ein sehr heikles Thema. Wir können auf jeden Fall als Stiko sagen, dass wir dringend davon abraten, den Besuch einer Schule oder einer anderen Tageseinrichtung oder die kulturelle Teilhabe von Kindern von ihrem Impfstatus abhängig machen zu sollen. Das wäre für die Zukunft ein ganz schreckliches Signal. Stellen Sie sich vor, wir haben nur 60 Prozent Impfquote, weil die anderen Eltern sich Sorgen machen und ihrem Kind diese Impfung nicht geben wollen. Was machen wir dann mit den 40 Prozent? Das kann nicht der Ausweg sein, dass wir jetzt denken, die Impfung der Kinder rettet uns.

Inzidenz-Lage unter Kindern nicht gleich hohe Krankheitslast

May: Aber man könnte mit einer Empfehlung dazu beitragen, mit einer positiven, einer weitgehenden Empfehlung dazu beitragen, dass sich viele Kinder impfen lassen, was dann allgemein die Inzidenz-Lage gerade unter Kindern auch wieder senken würde.
Terhardt: Da muss man trennen. Die Inzidenz-Lage unter Kindern bedeutet nicht automatisch, dass das eine hohe Krankheitslast ist. Inzidenz heißt Nachweis von Infektionen in einer Altersgruppe, in der regelmäßig Schnellteste gemacht werden, die dann durch PCR-Testung überprüft werden. Das machen wir bisher in keiner anderen Altersgruppe. Wir gehen alle davon aus, dass die Inzidenzen auch in anderen Altersgruppen ähnlich hoch sind, wenn wir die alle regelmäßig testen würden. Das werden wir jetzt wahrscheinlich auch erleben durch die 3G-Regelungen am Arbeitsplatz. Aber Kinder, die infiziert sind, sind noch lange nicht krank und erst recht nicht schwerkrank. Die meisten Kinder machen diese Infektion unbemerkt durch. Einige Kinder werden krank wie bei einer Erkältung und nur ganz wenige Kinder werden schwerkrank und eine minimale Zahl von Kindern liegt mit dieser Erkrankung in Kinderkliniken. In den Kinderkliniken liegen zurzeit Kinder mit schweren anderen Atemwegsinfekten. Covid-19 ist medizinisch in dieser Altersgruppe ein sehr kleines Problem. Wenn wir die Impfung diesen Kindern geben, dann muss sie diesen Kindern individuell nutzen. Der gesellschaftliche Nutzen, der kommt danach. Der spielt auch sicherlich eine Rolle bei der Abwägung, aber es geht vor allen Dingen darum, dass wir wirklich genügend Daten haben über die Sicherheit, was seltene Komplikationen angeht, und die fehlen uns noch. Die werden wir sicherlich noch bekommen, aber es kann gut sein, dass wir die am 20. Dezember nicht haben.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.//