Donnerstag, 02. Mai 2024

Kommentar
Nahost-Proteste bei Biennale gefährden die freie Kunst

Zuhören, Verstehen, Empathie: Das seien seit der Aufklärung wesentliche Elemente einer freien Kunst, meint Kulturredakteur Stefan Koldehoff. Bei der Biennale in Venedig könnte uninformierter Aktivismus diese Werte nun zunichtemachen.

Ein Kommentar von Stefan Koldehoff | 20.04.2024
Demonstranten mit palästinensischen Fahnen protestieren beim Pre-Opening im Giardini auf dem Gelände der Kunstbiennale in Venedig.
Demonstranten mit palästinensischen Fahnen protestieren beim Pre-Opening im Giardini auf dem Gelände der Kunstbiennale in Venedig. (picture alliance / dpa / Felix Hörhager)
Es gab einen sehr ruhigen Moment auf der sonst so lauten und bunten Biennale in Venedig: Am Donnerstagmittag versammelte sich eine Gruppe von vielleicht 40 Menschen in den Giardini, jenem großen Gelände im Süden der Stadt, in dem Dutzende von Ländern ihren eigenen Pavillon haben.
Der israelische liegt fast in der Mitte. Er ist seit Beginn der größten Kunstausstellung der Welt geschlossen. Die Künstlerin Ruth Patir und ihre beiden Kuratorinnen wollen ihn erst öffnen, wenn es in ihrer Heimat einen Waffenstillstand gibt und alle Geiseln frei sind. Bewaffnete italienische Soldaten bewachen seitdem das verglaste Gebäude und die Kunst darinnen, die nicht mehr frei ist. Und das ist ein Problem.
Am Mittwoch hatten lautstark Aktivistinnen und Aktivisten gegen Israels Anwesenheit in Venedig demonstriert. „No Death in Venice“ stand auf den blutroten Zetteln, die sie in die Luft warfen – und: „Nein zum Genozid-Pavillon“. Einen Tag später trafen sich dann auf der anderen Seite des Pavillons, an einer kleinen eisernen Tür, Freunde der Künstlerin und jener Museen, die sie unterstützen. Geöffnet wurde der Pavillon auch für diese Gruppe nicht. Aber Ruth Patir war es wichtig, in dieser Runde wenigstens im Hinterhof einmal zu sagen, was sie hätte zeigen wollen – und was sie vom Krieg im Gazastreifen hält. Und dann stellte Kuratorin Mira Lapidot die Frage, die so viel über die Biennale 2024 sagt: „Wie können wir ihr den Raum geben, eine Künstlerin zu sein – und nicht nur für Israel zu stehen?“
Der israelische Pavillon auf dem Biennale-Gelände in Venedig
Der israelische Pavillon wird bei der Kunstbiennale 2024 geschlossen bleiben. (picture alliance / ipa-agency / Matteo Chinellato / ipa-agency.n)

Ein Spannungsfeld zwischen Kunst und Politik

Es ist diese Frage, die sich die Kunstwelt spätestens seit der gründlich misslungenen documenta-Ausstellung in Kassel im vergangenen Jahr stellt: Ist die Kunst wirklich noch frei? Darf sie auch Positionen vertreten, die nicht überall auf der Welt Konsens sind? Und geht es überhaupt noch um die Kunst? Oder um die Politik in den Ländern, aus denen sie kommt? Dass in Kassel ausgestellte Werke antisemitisch gelesen und entfernt wurden, haben manche damit erklärt, dass in Deutschland eben andere Regeln gelten.
In Venedig zeigt sich nun, dass es sich keinesfalls um ein deutsches Problem handelt. Protestaktionen von Aktivistinnen und Aktivisten aus der Kunstszene gab es in den vergangenen Tagen nämlich auch vor den Pavillons der USA, von Frankreich und Großbritannien. Weil diese Länder an der Seite Israels stehen. Und vor dem deutschen, in dem unter anderem die israelische Künstlerin Yael Bartana eine Arbeit zeigt. Deutschland sei ein Nazi-Staat wurde dort skandiert. Und die Eröffnung, zu der in vergangenen Jahren regelmäßig Außenminister nach Venedig gereist sind, fiel diesmal sehr bescheiden aus – aus Sicherheitsgründen.

Eine Künstlerin – auf ihre Nationalität reduziert

Ruth Patir wurde kritisiert, weil sie das Thema Mutterschaft in Israel zum Thema macht, während in Gaza Mütter und Kinder sterben. Wer der 40-jährigen Künstlerin im Hinterhof zugehört hat, konnte erkennen, mit wie viel Balance und Empathie sie ihr Thema behandelt hat. Und mit wie wenig Ideologie und Aktivismus. Und versteht den Satz ihrer Kuratorin, dass hier eine Künstlerin auf ihre Nationalität reduziert wird, ohne dass ihre Kritiker die Arbeit überhaupt kennen können.
Zuhören, Anhören, Verstehen, Empathie: Das waren wesentliche Elemente einer freien Kunst, seit sie sich in der Aufklärung von den Obrigkeiten emanzipiert hat. In Venedig kann man gerade den Eindruck gewinnen, dass wütender, oft uninformierter Aktivismus diese alten Werte zunichtemacht. Für eine Gesellschaft, die sich auch als Kulturgemeinschaft versteht, sind das keine guten Signale.