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Katar
Politologe Nicolas Fromm porträtiert den Fußball-WM-Gastgeber

Aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet der Politologe Nicolas Fromm den Golfstaat Katar. Dabei weist er auch auf Vorurteile und koloniale Denkmuster des Westens hin, ohne die Probleme des Landes zu verharmlosen.

Von Jan Kuhlmann | 14.11.2022
Im Juli 2022 trifft der Emir von Katar Sheikh Tamim bin Hamad Al Thani den saudischen Kronprinz Mohammed bin Salman in dessen Palast in Jeddah, Saudi Arabien. 
Buchcover Nicolas Fromm: "Katar. Sand, Geld und Spiele. Ein Porträt"
Die Macht in Katar liegt fest in den Händen der Herrscherfamilie Al Thani - hier Emir Sheikh Tamim bin Hamad Al Thani im Gespräch mit dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman im Juli 2022 (Foto: IMAGO / ZUMA Wire / IMAGO / Saudi Press Agency, Buchcover: C.H. Beck Verlag)
Katar und die westliche Welt, das ist ein schwieriges Verhältnis. Das Emirat am Golf erregt die Gemüter in Deutschland und anderen Ländern. Je näher der Anpfiff der WM rückt, desto mehr. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht über Menschenrechtsverletzungen in Katar berichtet wird.
Nicolas Fromm legt in seinem Buch dar, warum diese Kritik berechtigt ist. Und doch stößt er sich an der hiesigen Sicht auf das Land. Er bemängelt etwa die „manchmal ignorant-überhebliche Berichterstattung“, wie er es nennt. In Kritik an katarischen Investitionen in Deutschland mischten sich hin und wieder „Vorurteile und Klischees“, schreibt er. Fromm macht eine – so wörtlich – „latent (neo)-kolonialistische Perspektive“ aus:
„Immer wieder wird auf das Klischee des schwerreichen Ölscheichs gebaut, der zwar über viel Geld, jedoch nicht über Bildung, wirtschaftliche Erfahrung und rationale Entscheidungsinstrumente verfügt. Dieser Sichtweise folgend, werden arabische Geschäftspartner regelmäßig als inkompetent, sprunghaft und naiv dargestellt.“
Mit seinem Buch will Fromm dazu beitragen, Katar besser zu verstehen. Und in der Tat ist die Fußball-WM ein guter Zeitpunkt für einen differenzierten Blick. Dank seiner Öl- und vor allem Gasvorkommen hat das Emirat das weltweit höchste Pro-Kopf-Einkommen. Es stößt wegen eines hohen Energieverbrauchs pro Kopf so viel CO2 aus wie kaum ein anderes Land. Diese Fakten tragen zum negativen Image von Katar bei.

Modernisierung und Eigenständigkeit

Das Golfemirat ist aber auch ein junges Land, das in Rekordtempo die Transformation in die Moderne vollzogen hat. Noch vor 100 Jahren war die Halbinsel ein karger Wüstenlandstrich. Die wichtigste Einnahmequelle: die Perlenfischerei. Die Gesellschaft ist bis heute geprägt von beduinischen Traditionen und Sozialstrukturen. Das Modernisierungstempo legte vor allem ab Mitte der 1990er-Jahre zu, als Emir Hamad die Macht übernahm:
„Mit der Machtübernahme Hamads begann eine neue Ära für Katar. Mit ambitionierten Zielen, selbstbewusstem Auftreten und unkonventionellen Ideen erreichte er, was zuvor als abwegiges und aussichtsloses Unterfangen gegolten hatte: Es gelang ihm, Katar weltweit bekannt zu machen.“
Vor allem trat Katar damals aus dem Windschatten des großen Nachbarn Saudi-Arabien heraus, wie Fromm schreibt. Und das Land setzt bis heute auf eine eigenständige Außenpolitik. Ein Instrument: der Nachrichtenkanal Al-Jazeera:
„Während in anderen Ländern des Mittleren Ostens staatliche Nachrichtenkanäle bis heute lediglich Haus- und Hofberichterstatter der jeweiligen Regime sind, zeigte Al-Jazeera investigative Reportagen, brisante Informationen und kritische Kommentare. Der kalkulierte Tabubruch wurde von massiven Investitionen in den Aufbau eines weltweiten Korrespondentennetzes flankiert, sodass der Sender nicht nur durch Skandale auf sich aufmerksam machen, sondern auch mit journalistischer Qualität überzeugen konnte.“

Die Machtstrukturen und ihre Gefahren

Die Macht auf der Halbinsel liegt fest in den Händen der Herrscherfamilie Al Thani. Sie kontrolliert nicht nur die politischen Institutionen, sondern auch die Wirtschaft. Loyalität und Treue der Untertanen sichert sie sich, indem sie die hohen Einnahmen durch Subventionen und attraktive Jobs verteilt. So würden Ansprüche auf Mitbestimmung effektiv unterbunden, schreibt Fromm. Das berge aber auch Risiken:
 „Sollten die verfügbaren Einkommen nicht mehr ausreichen, um das Wohlstandsniveau langfristig aufrechtzuerhalten, greift dies direkt die Legitimität des Emirs und der Al Thani-Herrschaft an, die sich zuvorderst in Schutz und Versorgung der Katarer bemisst.“
So hängt das Schicksal der Herrscherfamilie direkt von den weltweiten Öl- und Gaspreisen ab. Bislang kann sich Emir Tamim auf die loyale Elite verlassen.
„Mitglieder dieser elitären Kreise leben in Katar oft weitgehend abgeschottet vom öffentlichen Raum und interagieren größtenteils in komplexen Familienstrukturen innerhalb der eigenen Gruppe. Mit Mitgliedern der anderen Gruppen kommen sie in der Regel nur geschäftlich in Kontakt.“

Ausbeutung und Misshandlung von Arbeiterinnen und Arbeitern

Denn Katars Gesellschaft und Arbeitsmarkt sind hochgradig segmentiert. Entscheidend für fast sämtliche Aspekte des Lebens sei die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, ein Verlassen der angestammten Sphäre kaum möglich, schreibt Fromm. Am unteren Ende stehen die Millionen von Arbeitsmigranten, die nur auf Zeit im Land bleiben dürfen. Sie könnten mit harter Arbeit ein kleines Vermögen machen, seien aber auch systematischer Ausbeutung ausgesetzt. Besonders prekär sei die Lage für weibliche Hausangestellte, die Misshandlungen ungeschützt ausgesetzt seien:
„Dabei reichen die beschriebenen Misshandlungen bis zur Zwangsprostitution. Die Schilderungen lassen Zweifel an der Wirksamkeit des katarischen Arbeitsrechts aufkommen, trotz einiger Reformbestrebungen in den vergangenen Jahren.“
Doch auch das gehört zur Wahrheit: Katar hat in den vergangenen Jahren mehrere Reformen beschlossen, die die Lage der Arbeitsmigranten verbessern sollen. Auch Fromm erkennt guten Willen auf Seiten der Katarer. Trotzdem hat er weiter Zweifel: Oft genügten Änderungen nicht internationalen Standards. Oder sie würden nicht flächendeckend und konsequent durchgesetzt.

Ein differenziertes Bild

Auch beim Blick auf die internationale Bühne fällt das Fazit des Buches differenziert aus: Katar pflegt gute Kontakte etwa zu den militant-islamistischen Taliban in Afghanistan. Davon aber profitiere auch der Westen, darunter Deutschland, etwa bei der Ausreise von Hilfskräften nach der Taliban-Machtübernahme, schreibt der Politikwissenschaftler. Diplomatisch habe sich das Land immer wieder als Vermittler in Konflikten betätigt.
Fromm schreibt oft sehr trocken, fast lexikalisch. Doch sein Porträt Katars ist auch deswegen gelungen, weil es Emotionen weitgehend außen vor lässt. Der Politikwissenschaftler stellt das Land differenziert in all seinen Grautönen dar. So ist es ein wichtiger Beitrag in der oft aufgeheizten Debatte über den WM-Gastgeber.
Nicolas Fromm: „Katar. Sand, Geld und Spiele. Ein Porträt“
C.H. Beck Verlag, 170 Seiten, 16,95 Euro.