Die Virusvariante Omikron dürfte bereits jetzt circa 90 Prozent aller Fälle in Deutschland verursachen, sagte Thorsten Lehr. Während der Norden aktuell schon stark betroffen sei, werde sich die Mutante in den kommenden zwei Wochen auch im Westen und Süden noch weiter ausbreiten, prognostizierte der Professor für Klinische Pharmazie an der Universität des Saarlandes.
Seit fast zwei Jahren füttert der Wissenschaftler wöchentlich ein ausgefeiltes Computermodell mit den neuesten Daten und berechnet Prognosen darüber, wie das Pandemiegeschehen in den nächsten Wochen aussehen könnte.
Mehr zum Thema:
Die sogenannte Reproduktionszahl (R-Wert), also die Rate, die angibt, wie viele Menschen eine infizierte Person durchschnittlich ansteckt, könnte sich zwar zwischen 1,2 und 1,5 einpegeln, so Lehr. Mit Blick auf die Entwicklung der Sieben-Tage-Inzidenz hält der Modellierer aber Werte von „locker über 2.000“ für möglich. „Ich denke, das werden wieder ganz neue Dimensionen sein, die wir da sehen werden.“
PCR-Testkapazitäten werden ans Limit kommen
Große Sorge bereite Lehr vor allem der Osten Deutschlands, „weil wir hier natürlich noch schlechte Impfquoten haben und auch die Krankenhäuser durch die hohe Delta-Infektionswelle, die dort herrschte, wirklich noch stark beansprucht sind.“ Vor dem Hintergrund zahlreicher zu erwartender Infektionen müsse damit gerechnet werden, dass die verfügbaren Kapazitäten irgendwann nicht mehr ausreichen werden, um alle PCR-Tests durchzuführen, die eigentlich notwendig seien.
Lehr rechnet zwar mit einer saisonbedingten Abschwächung der Infektionsquote im April oder Mai. Dennoch betonte der Wissenschaftler, die Wichtigkeit der Booster-Impfung. Lehr: „Das wird der einzige Weg sein, wie wir rauskommen“
Das Interview in voller Länge:
Ralf Krauter: Wie stark beeinflusst der Mangel an zuverlässigen Daten zum Infektionsgeschehen im Gefolge der Feiertage an Weihnachten und Neujahr die Genauigkeit der Corona-Prognosen für die nächsten Wochen?
Thorsten Lehr: Ja, bei einem Auto würde ich sagen, dass wir uns gerade auf einer Autobahn befinden, auf die wir aufgefahren sind, und jetzt den Turbo auf dem Beschleunigungsstreifen zünden. Das heißt also, Omikron hat die Dominanz in Deutschland übernommen, dürfte jetzt deutschlandweit auch ungefähr 90 Prozent der Fälle verursachen und legt jetzt richtig los. Wir sehen zwar noch lokale Unterschiede, das heißt wir sehen ein abnehmendes Gefälle der Omikron-Ausbreitung von Nordwesten nach Südwesten, von da nach Osten. Das heißt also, da dürften in der Ausbreitung zwischen dem Nordwesten und dem Osten so zwei bis vier Wochen liegen, die sich dann aber auch in den Fallzahlen niederschlagen.
Krauter: Jetzt sind die aktuellen Infektionszahlen, die heute gemeldet wurden, rund 80.000 Neuinfektionen, die Sieben-Tages-Inzidenz ist über 400 geklettert, das ist ein Rekordwert. Was sagt denn der Blick in die IT-Glaskugel, mit welcher Entwicklung der Sieben-Tages-Inzidenz und R-Werte müssen wir bis Ende Januar, also in den kommenden zwei Wochen rechnen?
Lehr: Falls sich da an der Situation nicht viel ändert, dann wird sich der R-Wert gar nicht mehr so stark steigern, wird sich irgendwo auf Werte zwischen 1,2 und 1,5 einpegeln, lokal auch wieder leicht unterschiedlich, die Inzidenz aber wird deutlich steigen, weil wir von einer sehr hohen Inzidenz starten. Ich gehe davon aus, dass wir deutschlandweite Inzidenzen auch sehen werden wie in unseren Nachbarländern, also um oder locker über 2.000. Und in der Stadt Bremen liegen ja die Inzidenzen auch bereits bei knapp 1.400, das sind Situationen, die uns deutschlandweit auch noch erwarten werden.
PCR-Testkapazitäten könnten an ihr Limit kommen
Krauter: Gibt es Hotspots, wo Sie jetzt schon sagen, da könnte, da dürfte es besonders schlimm werden, was die Zahlen angeht?
Lehr: Wir sehen sicherlich diesen Nord-Süd-West-Verlauf. Im Norden haben wir diese Omikron-Wand schon, ich glaube, dass in den nächsten zwei Wochen vor allem der Süden und Westen loslegen wird, also Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland, und der Osten mit Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, da dürfte es ein bisschen später einsetzen, da denke ich, dass es eher gegen Ende Januar wirklich richtig stark losgehen wird.
Ich denke, das werden wieder ganz neue Dimensionen sein, die wir da sehen werden, also jenseits der 2.000 ist sicherlich denkbar. Ich glaube aber, dass es dann auch wieder eine Art Entkopplung geben wird beziehungsweise dass der Anstieg wieder sich abbremsen wird, weil die Leute sich wieder unterschiedlich verhalten werden, weil es doch Maßnahmen gibt, weil Leute in Quarantäne gehen. Das wird das Geschehen sicherlich abbremsen. Zusätzlich kommen auch noch die PCR-Kapazitäten dazu, die an ihr Limit kommen. Ich glaube, dass wir über 3.000 wahrscheinlich nicht kommen werden, sondern dort wird interveniert werden, dann glaube ich, wird die Zahl nicht weiter ansteigen, was aber trotzdem eine sehr hohe Zahl und Fallzahl sein wird.
„Für Ungeimpfte stellt Omikron weiterhin eine Gefahr dar“
Krauter: Die spannende Frage ist ja, was das für die Krankenhäuser bedeuten wird. Jetzt wissen wir aus Südafrika, Großbritannien und Dänemark, wo die Omikron-Welle schon früher rübergeschwappt ist, dass da immer wieder von einer Entkopplung der Inzidenzzahlen von den Hospitalisierungsraten die Rede ist, weil die Omikron-Variante eben, wie es ausschaut, seltener zu schweren Verläufen von Covid-19 führt. Haben Sie diese Befunde bereits bei der Modellierung berücksichtigt?
Lehr: Ja, diese relative Schwere der Omikron-Variante im Vergleich zu Delta haben wir als eine anpassbare Variable in unser Modell eingebaut, sodass man das variieren kann. Aber der Grad der Entkopplung ist noch nicht ganz sicher und ganz fix, wir sehen in den USA beispielsweise auch eine deutlich geringere Entkopplung. Und wir sollten auch nicht vergessen, dass trotz dieser Entkopplung, die wir auch in Dänemark und England sehen, wir auch eine mildere Omikron-Infektion, die wahrscheinlich immer noch genauso schwere Verläufe hervorruft wie der Wildtyp, der vor einem Jahr geherrscht hat. Das heißt also, für Ungeimpfte stellt Omikron weiterhin eine Gefahr dar. Wir versuchen, das in Simulationen zu berücksichtigen, aber da ist natürlich noch eine große Unbekannte.
Krauter: Das heißt aber es gibt weiterhin eine starke Korrelation zwischen Infektionszahlen und Hospitalisierungsrate. Was sagen denn Ihre Modelle, wo könnte, wo dürfte es in den nächsten Wochen besonders eng werden in Krankenhäusern und auf der Intensivstation?
Lehr: Ich glaube, da kommen noch mehrere Faktoren dazu: Zum einen haben wir eine Ausgangssituation in den Krankenhäusern, die aktuell nicht ideal ist. Wir haben also durch die Delta-Welle immer noch eine hohe Belegung mit über 3.000 belegten Intensivbetten, die sinken zwar ab, das dürfte sich aber irgendwann auch wieder ausbremsen. Und wir haben aber noch eine große Impflücke auch bei den über 60-Jährigen und auch lokal ganz unterschiedliche Impfquoten und Intensivbelegungen. Ich gehe nicht davon, dass wir deutschlandweit zu einer kritischen Situation im Gesundheitswesen schon kommen können, die auch verursacht ist eben durch Personalausfall, aber mir macht vor allem der Osten Sorgen, weil wir hier natürlich noch schlechte Impfquoten haben und auch die Krankenhäuser durch die hohe Delta-Infektionswelle, die dort herrschte, wirklich noch stark beansprucht sind. Deswegen ist es, glaube ich, jetzt wichtig in der Zeit, wo die Zahlen vielleicht noch nicht so stark steigen, dass wir weiterhin uns impfen und boostern lassen, um wirklich der Infektion vorzukommen.
Krauter: Okay, aber ich fasse noch mal zusammen: Sie sagten gerade, deutschlandweit rechnen Sie also jetzt nicht mehr mit einer Komplettüberlastung der Krankenhäuser und Intensivstationen, sondern nur regional?
Lehr: Das können wir noch nicht ganz genau sagen, das hängt wirklich von der Schwere ab. Ich glaube, wir haben in Deutschland einfach andere Situationen, als wir das in Dänemark und auch in England gesehen haben, diese Situation eins zu eins zu übertragen, ist ganz, ganz schwer. Wenn wir teilweise jetzt Studiendaten aus den USA übertragen, dann könnte es, je nachdem, wie die Situation sich verändert, auch in Deutschland noch mal kritisch werden. Hinzu kommt eben auch noch der Personalausfall, da kommen jetzt viele Dinge zusammen, die die Situation verschärfen können. Es kann sein, dass es gutgeht, es kann aber auch sein, dass es nicht gutgeht. Ich glaube, wir müssen jetzt sehr wachsam sein und relativ schnell dann reagieren, wenn wir hier wieder starke Anstiege sehen.
Sorge vor ungenauen Daten aufgrund überlasteter Testungs-Kapazitäten
Krauter: Kommen wir zum Schluss noch auf einen Punkt zu sprechen, den Sie schon vorhin kurz erwähnt hatten, der wachsende Engpass bei den PCR-Testkapazitäten. Das führt jetzt dazu, dass vermehrt nur noch Menschen getestet werden, die zum Beispiel im kritischen Infrastrukturbereich arbeiten oder eben tatsächlich schon Covid-19-Symptome aufweisen. Das heißt aber auch, dass der Anteil schwerer Verläufe von Covid-19 tendenziell überschätzt wird, weil milde Verläufe ganz oft gar nicht mehr erfasst werden. Welche Auswirkungen hat das auf die Modelle und auf die Parameter, auf die Entscheidungsträger künftig schauen sollten?
Lehr: Also, diese Situation hatten wir ja vorher auch schon. Immer dann, wenn sich natürlich die Pandemie wieder stark ausprägt, dann haben wir relativ hohe Testpositivraten wie jetzt auch. Die haben jetzt allerdings ihr Allzeithoch bei über 20 Prozent. Und auch diese Testpositivrate wie auch die Testanzahl sind in unser Modell schon eingebaut, indem sie auch Vorgänge im Krankenhaus, sprich Hospitalisierungsrate und auch Schwere des Krankheitsverlaufs beeinflussen. Ich denke, wir müssen deshalb weiterhin auf die Krankenhäuser schauen, aber natürlich auch solche Faktoren mit berücksichtigen. Mir macht da wirklich die große Sorge, dass eigentlich die Testkapazität im Peak der Omikron-Welle wahrscheinlich gar nicht mehr ausreichen dürfte, um diese hohen, vorhin genannten Inzidenzen wirklich abzudecken und dass wir da wirklich eine neue Daten-Nebelwand vor uns aufziehen sehen, die sowohl den Modellierern als auch der Politik wirklich das Leben deutlich erschweren dürfte, weil wir auf die Inzidenzen dann gar nicht mehr so stark gucken können, weil die möglicherweise Kapazitätsgrenzen erreichen, aber die Krankenhäuser natürlich erst in der Zeit deutlich hinterherhängen. Also, hier müssen wir uns darauf vorbereiten, dass wir hier auch wieder ein bisschen mehr im Dunkeln stochern werden.
Krauter: Wagen Sie eine Prognose, wann werden wir die Omikron-Welle größtenteils hinter uns haben?
Lehr: Ich bin eigentlich ganz zuversichtlich, dass wir hier eigentlich im April, Mai wieder deutlich niedrigere Inzidenzen sehen werden und auch wieder zurück zur Normalität – hoffentlich – kommen können. Die Frage wird natürlich sein, was bis dahin sein wird, zum einen ist der Vorteil, dass dann uns auch die Saisonalität uns wieder ein bisschen Rückenwind gibt und wieder unterstützt, aber bis dahin dürfte auch möglicherweise ein Großteil der Bevölkerung wirklich von der Omikron-Welle heimgesucht und infiziert worden sein. Das dürfte helfen auf dem Weg zur Endemie, wir müssen aber schauen, ob noch andere Varianten eben um die Ecke kommen. Und ich glaube, wir müssen weiter schauen, dass wir uns impfen und auch boostern lassen. Das wird der einzige Weg sein, wie wir rauskommen – und eben hoffen, dass keine neue Variante kommt, die vielleicht einen anderen Immune Escape oder andere Bösartigkeiten noch auf Lager hat.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.//