Donnerstag, 02. Mai 2024

Die Dinge des Lebens - Coming of Age
Poesie und Revolte

Aus Film und Literatur kennen wir den Begriff „Coming of Age“. Ein Essay über die Erzählungen der Lebensphase des Erwachsenwerdens, in der sich Gefühl, Kreativität und Revolte auf magische Art verbinden.

Von Thekla Dannenberg | 09.07.2023
Junges Mädchen liegt auf dem Rücken auf einer Parkwiese und liest ein Buch.
Wer jung ist und noch wenig eigene Erfahrung hat, nimmt viel intensiver auf, was Bücher und Filme erzählen (IMAGO / Design Pics / IMAGO / Paulo Resende)
Junge Menschen wollen von der Welt berührt werden und ihr zugleich entkommen. Sie suchen Schönheit, Freiheit und Liebe - und finden erst einmal sich selbst. Die schönsten Erzählungen davon sträuben sich gegen die abgeklärte Einsicht, dass die Welt hart ist und Liebe schmerzt. Selten haben diese Geschichten so berührt wie heute, da jungen Menschen der Weg ins Leben durch die Pandemie so schwer gemacht wurde.
Was auf die einsame Insel mitnehmen, damit es nie langweilig wird? Wie wäre es mit „Die Dinge des Lebens“, dem Essay-, Hörspiel- und Featureprogramm für den Sommer? In 13 Kapiteln geht es hier um alle großen Lebens-Themen: um Kindheit, Liebe, Drogen, Familie, Sex, Reisen und zuletzt auch um den Tod. Um Anfänge und Abschiede. Und um alles, was dazwischen passiert. „Die Dinge des Lebens“ ist eine Sendereihe in Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur vom Anfang Juli bis Ende September 2023.
Thekla Dannenberg, 1970 geboren, studierte Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut in Berlin, besuchte die Deutsche Journalistenschule in München und arbeitete als Redakteurin bei der "taz". Seit 2002 ist sie Redakteurin beim "Perlentaucher" und schreibt für etliche andere Medien als Autorin und Kritikerin. Sie unterrichtet Filmjournalismus an der Universität Marburg.

Jungsein ist überwältigend - voller Poesie und Rebellion, voller Schönheit, Liebe und Freiheit. Der Idealismus opponiert gegen die Realität, die Leidenschaft erhebt sich gegen die Strategie. Der Kompromiss mag ein sinnvolles Prinzip sein, aber nicht für die eigene Person: Das geträumte Leben und das gelebte Leben sollen sich nicht von einander unterscheiden lassen. Wer kann nicht die Lust junger Menschen nachempfinden, die Welt zu berühren und von der Welt berührt zu werden? Das Gefühl, einzigartig zu sein und das Leben aus den Angeln heben zu können? Es ist ein beneidenswerter Zustand.
Doch bei Soziologen und Journalisten genießt die Jugend einen schlechten Ruf: Von Rebellentum könne doch keine Rede sein, klagen sie, eine Kohorte zeige sich angepasster als die vorherige. Die hedonistischen Vertreter der Generation X oder Golf setzen vielleicht allmählich Bauch an, doch auch die nachfolgenden Millennials Generation Y und Generation Z sollen den berühmten Jugendstudien zufolge unpolitisch, karrierebewusst und ich-bezogen sein. Dabei ist nicht einmal ihr Narzissmus noch programmatisch! Aber wenn sich die Jugend dann auf die Straße klebt, ist es natürlich auch wieder nicht recht.
Die Psychologen spotten nicht über die Jugend, sie machen sich Sorgen: Der Jugend geht es schlecht, haben sie festgestellt, und die Diskussionen in der Zunft gehen schon nicht mehr darum, ob die Jugend in die Depression gestürzt wurde, sondern höchstens noch wodurch: Was hat größeren Anteil an ihrer seelischen Not: Die Pandemie, die Klimakrise oder der Krieg? Das Serien‑Streaming, Instagram oder die Smartphones? Die Zahl junger Menschen zwischen 15 und 24 Jahren, die sich von Problemen und Ängsten niedergeschlagen fühlen, hat sich in den vergangenen zehn Jahren in Großbritannien und den USA verdoppelt, in Frankreich sogar vervierfacht. Laut der letzten Trendstudie in Deutschland fühlen sich 27 Prozent depressiv. Ist Jugend doch nicht zu beneiden, sondern eher zu bedauern?
Zumindest in Film und Literatur ist das Jungsein noch ein Zustand, der gefeiert werden kann. Coming-of-Age erzählt vom Erwachsenwerden, vom Begehren und vom Aufbegehren, von der Suche nach Identität und der Konfrontation mit der Gesellschaft. Manchmal helfen die Erzählungen, den Weg ins Leben zu finden, manchmal dienen sie einfach nur dazu, ihm für ein paar Stunden zu entkommen.
Wer den richtigen Ton trifft, prägt das Lebensgefühl und die Fantasie ganzer Generationen. Dann prägen sie Stil und Sprache und junge Frauen lassen sich einschlägige Zitate auf den Oberarm tätowieren wie ein poetisches Manifest. Wer jung ist und noch so wenig eigene Erfahrung hat, nimmt viel intensiver auf, was Filme und Bücher ihm erzählen. Sie eröffnen Welten und Wege ins Leben. Auch Anfänge müssen sich schließlich erst bilden.
Egal ob High oder Low, Hochkultur oder Unterhaltung: Coming-of-Age steht auf der Seite der Jugend, die sich nicht von Gewohnheiten und Regeln beherrschen lassen will, die gegen das Überkommene opponiert und ihre Naivität gegen die Erfahrung setzt, die Hoffnung gegen die Resignation. Das teilt die Coming-of-Age-Erzählung mit dem klassischen Bildungsroman, der seine jugendlichen Helden ebenfalls ins Leben schickt, um sie und ihre Ideale auf die Welt treffen zu lassen. Der Bildungsroman ist tiefgründiger und epochaler als eine Coming-of-Age-Erzählung, die sich in Film oder Literatur auf das Hier und Jetzt und das eigene Ich konzentriert.
"Ich will poetisch leben", lässt Emine Sevgi Özdamar die Heldin ihres Romans Die Brücke am Goldenen Horn ausrufen, "ich will das passive Leben der Intelligenz hinter mir lassen". Es ist der Schlachtruf der Surrealisten, den sich die Ich-Erzählerin auf die Fahnen schreibt. Die deutsch-türkische Schriftstellerin Özdamar erzählt in diesem autobiografisch geprägten Roman mit feiner Ironie die Geschichte einer jungen Frau aus Istanbul, die Schauspielerin werden will und dafür 1967 als Gastarbeiterin nach Berlin geht, um Europa kennenzulernen. Ihre Mutter ist entsetzt:
"Allah soll dir in Deutschland Vernunft beibringen. Du kannst nicht mal Spiegeleier braten. Wie willst du bei Telefunken Radiolampen herstellen? Mach die Schule fertig. Ich will nicht, dass meine Tochter Arbeiterin wird. Das ist kein Spiel."
Die Tochter geht. Getrieben von dem Wunsch, das Leben und die Liebe kennenzulernen und ihren, wie es im Roman heißt, "Diamanten zu verlieren", den andere Frauen so sorgsam behüten, streift sie durch die Stadt - von der Telefunken-Fabrik zum Frauenwohnheim in Kreuzberg, vom türkischen Arbeiterverein zur Filmbühne am Steinplatz. Sie begegnet sozialistischen Studenten und kommunistischen Exilanten und lernt Deutsch mithilfe der Zeitungsschlagzeilen. Sie demonstriert gegen den Vietnamkrieg, singt am Wannsee türkische Liebeslieder und geht mit dem kommunistischen Heimleiter und seiner Frau ins Theater:
"Wir gingen ins andere Berlin, zum Berliner Ensemble und sahen ein Stück, 'Arturo Ui'. Die Männer in Gangsteranzügen hoben ihre Hände hoch, es gab einen Chefgangster, der auf einem hohen Tisch stand. Ich verstand kein Wort und liebte es und liebte die vielen, vielen Lichter im Theater. In den Ostberliner Straßen bekam ich Sehnsucht nach zu Hause, nach Istanbul. Ich roch die Luft und sog sie in mich hinein. Die Taube erzählte, dass man in Ostberlin und Istanbul das gleiche Dieselbenzin benutzte."
Goethe, Stendhal oder Flaubert - durch das gesamte 19. Jahrhundert erzählen Autoren von der Erziehung ihrer - männlichen - Helden durch die vorhandene Wirklichkeit. "Bildung zur Vernünftigkeit" lautete das aufklärerische Ideal. Doch nur in konventionellen Werken macht die Hauptfigur Frieden mit der Welt und findet ihren Platz in Gesellschaft und Familie. In den außergewöhnlichen Werken sucht sich der Protagonist einen Ort, von dem aus er etwas bewirken, etwas ändern kann. Oder er entzieht sich allem Politischen, um ganz und gar frei zu sein für Kunst und Leben, wie James Joyce in seinem Portrait des Künstlers als junger Mann von 1914 proklamierte:
"Ich will nicht dem dienen, woran ich nicht länger glaube, nenne es sich nun mein Zuhause, mein Vaterland oder meine Kirche."
Wenn heute die Coming-of-Age-Erzählung junge Menschen mit der Welt konfrontiert, dann geht es nur noch selten um die Welt oder die Epoche, sondern um Überschaubares: Das eigene Leben und die eigenen Empfindungen. Die Fragen werden intimer: Wer bin ich? Woher komme ich? Wen liebe ich? Und was werde ich sein: Glücklich oder normal?
In ihrem Roman Beides sein verbindet die britische Autorin Ali Smith die Geschichte eines jungen Mädchens aus dem heutigen Cambridge kunstvoll mit der Geschichte eines italienischen Freskenmalers der Frührenaissance: Die 16‑jährige George durchlebt nicht die typischen Teenager-Phasen von Langeweile und Melancholie, sondern echte Schwermut: Sie trauert um ihre verstorbene Mutter, eine exzentrische Künstlerin, die ihr Leben als Netzaktivistin bestritten hatte. Kurz vor ihrem Tod war die Mutter noch mit George nach Italien gereist, um sich die berühmten Fresken von Francesco del Cossa anzusehen. Im Palazzo von Ferrara betrachten sie seine Allegorie des Monats März, sie bewundern die prächtig gekleidete Göttin Minerva, den armen Mann in Lumpen und eine zarte Gestalt, die beides trägt, Hose und Kleid, und mit einer anmutigen Leichtigkeit lächelt, als sei alles nur ein bezauberndes Spiel. Mann oder Frau?, fragt George ihre Mutter.
"Mann, Frau, beides, sagt sie. Wunderschön sind sie alle."
Ali Smith imaginiert sich in einer raffinierten Wendung den Künstler als eine junge Frau, die sich als Mann ausgeben musste, um bei einem angesehenen Meister das Kunsthandwerk erlernen zu dürfen. Der Roman erhebt Beides sein zum Programm, er setzt das Duale an die Stelle des Binären, das Sowohl‑Als‑auch anstelle des Entweder-Oder, und das nicht nur im identitätspolitischen Sinne. Der Roman feiert sehr heutig die Kunst und das Leben, Großzügigkeit und Spott, Sympathie und Empathie, aber auch die Lust am Sehen und Gesehenwerden, wie die Mutter meint:
"Das Beobachtetwerden. Das macht das Leben sehr, ach, ich weiß nicht. Prickelnd."
Beides sein eröffnet mit seinem Witz und seiner Wärme Lebens- und Denkwege, aber er kreist in einer Bildungsbürgerlichkeit, die auch in den westlichen Industrieländern nicht die Regel ist, wie der französische Autor Édouard Louis mit aller Macht deutlich vor Augen führte. Sein Debütroman Das Ende von Eddy schlug ein wie eine Faust. Mit ungeheurer Wut und ebensolcher Sprachgewalt erzählt Louis von seiner unerträglichen Kindheit in der nordfranzösischen Provinz, wo das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit in Rohheit und Ressentiments umschlägt. Gleicht der erste Satz setzt den Ton:
"An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung. Das soll nicht heißen, ich hätte in all den Jahren niemals Glück oder Freude empfunden. Aber das Leiden ist totalitär: Es eliminiert alles, was nicht in sein System passt."
Familie und Schule - sie alle machen dem schwulen Eddy das Leben zur Hölle. Im harmlosen Fall mokieren sie sich nur über sein "mädchenhaftes Getue", im schlechteren Fall wollen sie die Tunte aus ihm herausprügeln:
"Der Rothaarige spuckte mich an: Da, voll in die Fresse."
Ein Roman voller Schmerz, Demütigung und Ohnmacht, aber auch ein Roman der Befreiung: Eddy entkommt seiner Familie und seinen Mitschülern in die nächste größere Stadt, nach Amiens aufs Gymnasium.
In der Literatur führt der Weg zum eigenen Ich meist über die Bildung und die Kunst, durch Schule und Universität.
Wolfgang Herrndorfs vielgeliebter Roman Tschick gibt nicht viel auf die Autorität von Schule und Familie. Eher noch ein Jugend- als ein Coming-of-Age-Roman unterläuft er mit seinem heiteren Witz die abgeklärte Einsicht des Alters, nach der das Leben hart ist und der Mensch schlecht. Herrndorf schickt seine beiden jugendlichen Antihelden Maik und Tschick auf eine Odyssee durch den deutschen Osten. Im geklauten Auto und ohne Führerschein kollidieren sie dabei in einer Serie von Auffahrunfällen mit dem wahren Leben. Sie lassen dabei Federn, aber sie befreien sich auch von falschen Vorbildern, aus ihrer nervigen Ich-Bezogenheit und einer deprimierend negativen Weltsicht:
"Seit ich klein war, hatte mein Vater mir beigebracht, dass die Welt schlecht ist. Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch. Wenn man Nachrichten guckte: Der Mensch ist schlecht. Wenn man Spiegel TV guckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war."
Anders als in der Literatur führt im Film der Weg zum eigenen Ich nicht über die Bildung, sondern über das Leben und die Liebe. Das Kino lebt ja von Bewegung, Vitalität, Anmut. Coming-of-Age-Filme setzen das Drama des Jungseins in Szene, seine Sinnlichkeit, seine Leichtigkeit. Im Kino macht Jugend einfach Spaß: Neue Gesichter auf der Leinwand, ein lässiger Stil und die angesagte Musik. Coming-of-Age ist auch Pop, Spaß - und gnadenloser Eskapismus.
Wahrscheinlich hat die Jugend in der Zeit der Pandemie nicht gegen ihr Eingesperrtsein rebelliert, weil sie von der Netflix-Kultserie "Stranger Things" auf die Couch gefesselt war, einem der größten Hits des Streaming-Dienstes und einer irrsinnigen Retro-Orgie. Seitdem scheinen junge Menschen nur noch zur Hälfte im Hier und Heute zu leben, zur anderen Hälfte wieder in den achtziger Jahren.
"Stranger Things" erzählt in einem Genre-Mix aus Teenager-Drama, Horror und Mystery von den seltsamen Vorkommnissen in Hawkins, einer kleinen Stadt im winterlichen Indiana. In einem geheimen Laboratorium der Regierung arbeiten Agenten an der Bildung von Superkräften, aus der Unterwelt drohen Ungeheuer. Ein Junge verschwindet, ein Mädchen taucht auf. Vier freundliche Nerds, die Außenseiter an ihrer Schule, scheinen viel besser mit den Ereignissen umgehen zu können als Erwachsene und Polizei, kein Wunder, sie haben sich schließlich im Rollenspiel "Dungeons and Dragons" geschult.
Anspielungen an Filme wie "E.T." und "Zurück in die Zukunft", Gaming, Highschool-Affären und die Musik von Kate Bush, The Clash und Joy Division ergeben eine unschlagbare Achtzigerjahre-Mischung. Unnötig zu sagen, dass die Jungs meist auf BMX-Rädern durch die Kleinstadt düsen. Für die Brüder Matt und Ross Duffer, die Schöpfer der Serie, ist klar, dass ihnen das Kino Steven Spielbergs einfach am liebsten ist, weil sie selbst es gesehen haben, als sie jugendlich waren. Davon kommt man nicht mehr los.
Für eine Netflix-Serie ist "Stranger Things" erstaunlich undivers und straight, auch in dieser Hinsicht also "retro". Ganz anders schlägt die Serie "Heartstopper" auf, noch so ein Kracher des Streamingdienstes. "Heartstopper" ist eine britische Produktion, sie basiert auf dem gleichnamigen Comic der Autorin Alice Oseman und erzählt die queere Lovestory von Nick und Charlie: Boy meets Boy an der Truham Grammar School. Wer auf sich hält, ist schwul, lesbisch oder bi, nur die Unsympathen sind noch hetero. Eine Teenager‑Romanze in LGBTQ. Erwachsenwerden heißt hier Liebesschmerz, wer mit wem und wenn nicht, warum. Es frappiert, wie sich selbst in einem so konventionellen Genre wie der Lovestory die Vorzeichen geändert haben.
Erst recht geändert haben sie sich im Kino. Kaum ein Film hat in den vergangenen Jahren so bewegt wie Luca Guadagninos amerikanische Romanze "Call Me by Your Name" von 2017, Paradebeispiel für ein Kino jugendlicher Attraktivität und subtiler Erotik. Guadagnino erzählt darin die flirrende Geschichte einer schwulen Sommerliebe: Der 17-jährige Elio verbringt mit seinen Eltern den Sommer in Norditalien. Der Vater ist Archäologe, die Mutter Übersetzerin, beide sind so kultiviert wie liberal und führen ein geradezu aristokratisches Leben in ihrer vornehmen Villa mit dem großzügigen Garten und den kostbaren Antiquitäten. Als ein junger Mitarbeiter des Vaters zu Besuch kommt, verliebt sich Elio auf den ersten Blick in diesen blendend aussehenden Oliver, der vor Selbstgewissheit strotzt und zudem ein Meister der Verführung ist.
Mit großer Delikatesse setzt Guadagnino Elios erwachende Leidenschaft in Szene, die Sehnsucht, das Versteckspiel in Licht und Schatten. Timothée Chalamet ist in der Rolle des Elio zum umschwärmten Hollywoodstar avanciert, seine Anmut betört ebenso wie die Lässigkeit, mit der er seinen knabenhaften Körper durchs Bild schlenzt und barfuß Klavier spielt.
Das Gegenstück zu Guadagninos leichter Sommerliebe ist gleich in mehrfacher Hinsicht Abdel Kechiches französisches Drama "Blau ist eine warme Farbe" von 2013. Der fast dreistündige Film erzählt von der Liebe der Schülerin Adèle zur Kunststudentin Emma. Am Anfang begreift Adèle noch gar nicht, dass sie lesbisch ist, die Liebe kennt sie nur aus der Literatur. Die Lehrerin warnt vor zu früher Liebe:
"Man ist noch nicht reif genug, man ist noch nicht stark genug."
Doch die Liebe trifft Adèle wie ein Schlag, sie ist völlig ungeschützt. Kechiche erzählt von Adèles Liebe zu Emma mit bis dahin ungeahnter Intensität und Intimität. Alles ist Gefühl, Verlangen, Glück, ein sinnlicher Rausch, vor allem auch dank der beiden umwerfend schönen Hauptdarstellerinnen Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos.
In Cannes wurde "Blau ist eine warme Farbe" mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Es ist ein zutiefst verstörender Film. Das Entstehen der Liebe zwischen den beiden jungen Frauen wird im ersten Teil mit derselben Kraft und Dringlichkeit erzählt wie im zweiten Teil ihr Scheitern: Emma kommt aus einem bürgerlichen Milieu, in dem Kreativität und Selbstverwirklichung so selbstverständlich sind wie die Austern zum Abendessen. Adèle dagegen kommt aus einer einfachen, liebevollen Familie, in der alle gern Spaghetti kochen und arbeiten, weil sie Geld verdienen müssen. Dass Adèle Grundschullehrerin werden will, können die bunten Vögel in Emmas Kunstkreisen nur belächeln. Trauer und Verzweiflung überwältigen Adèle nach der Trennung so unerbittlich, dass die beglückende Erfahrung der großen Liebe vollständig zertrümmert wird.
Aber "Blau ist eine warme Farbe" wurde auch zu einem Wendepunkt im französischen Filmemachen. Die Sexszenen sind selbst für französische Maßstäbe ausgesprochen freizügig und so explizit, dass sich beide Schauspielerinnen im Nachhinein damit unwohl fühlten. Es kann eben auch etwas Ausbeuterisches haben, junge schöne Körper für die eigene Vision in Szene zu setzen.
Feministische Regisseurinnen wie die Eliza Hittman oder Céline Sciamma betonen mit ihren Filmen, dass junge Frauen ganz andere Kämpfe auszufechten haben als junge Männer.
Die Französin Sciamma huldigt mit ihrem Coming-of-Age-Film "Mädchenbande" der Solidarität unter jungen Frauen. In ihrem Film paaren sich Freundschaft, erste Liebe und Albernheiten mit dem Aufbegehren gegen Demütigung und Zurückweisung: Der Film erzählt von der 16-jährigen Marieme, die in der Pariser Banlieue als Tochter einer afrikanischen Einwanderin aufwächst. Die Schule, das Arbeitsamt und selbst ihre Mutter scheinen ganz selbstverständlich für sie eine Zukunft als Putzfrau vorzusehen. Doch Marieme rebelliert: Sie schließt sich einer Clique von jungen Mädchen an, die ihre Selbstermächtigung nicht an der Universität lernen dürfen: Sie prügeln sich, klauen schicke Klamotten und wehren sich gegen die Macker, die das ganze Viertel schikanieren.
Céline Sciamma zelebriert eine Form der Sisterhoodals Utopie und Lebensstil. Sie steht in ihrem Film ganz auf der Seite der vier Mädchen, für die das Jungsein Glück und Gewalt gleichermaßen bedeutet und denen weder Familie noch die Schule dabei hilft, einen Weg in die Gesellschaft zu finden. Sie sind jung, schön und schwarz, aber sie müssen sich ihren Platz im Leben in einem Kampf erobern, der viel Härte erfordert.
Die Amerikanerin Eliza Hittman folgt in ihrem 2020 auf der Berlinale mit einem Silbernen Bären ausgezeichneten Drama "Niemals Selten Manchmal Immer" der 17-jährigen Autumn, die ungewollt schwanger wird: Im konservativen Pennsylvania kann sie keine Hilfe erwarten. Eine Abtreibung wird von den Sozialstationen dort so lange hintertrieben, bis es zu spät ist. Auf sich allein zurückgeworfen, macht sich Autumn mit ihrer Cousine Skylar nach New York auf, um dort den Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen.
Die beiden Mädchen verbringen zwei Tage und Nächte in der glitzernden Metropole, in der sie herumirren wie einst Holden Caulfield in J.D. Salingers Roman Der Fänger im Roggen. Aber während sich Holden Caulfield mit Verachtung und beherzter Großmäuligkeit gegen die "Verlogenheit der Erwachsenen" zur Wehr setzte, zeigen sich Autumn und Skylar mutlos und eingeschüchtert. Gerade auch die wohlmeinenden Sozialarbeiterinnen in New York beschämen Autumn: In einer erschütternden Szene muss die junge Frau Fragen beantworten, wie bei einem Multiple-Choice-Test soll sie über ihr Privatleben Auskunft geben mit den Antworten: Niemals, Selten, Manchmal oder Immer.
"Hat sich Ihr Partner geweigert, ein Kondom zu benutzen? War Ihr Partner Ihnen gegenüber schon einmal gewalttätig? Wurden Sie jemals zum Sex gezwungen?"
Die Sozialarbeiterin stellt die Fragen aus dem Off, zu sehen ist nur das Gesicht von Autumn, die mit Bestürzung erkennt, dass ihre Schwangerschaft nicht Folge eines Liebesverhältnisses ist, sondern einer gewalttätigen Beziehung.
Die unbekümmerte Adoleszenz zwischen Uni, Kino und Bar ist ein bürgerliches Privileg. Von einem Leben ohne materielle Not und ohne ernste Konsequenzen können auch die Söhne der Arbeiterklasse nur träumen, wie Ken Loach in seinem Drama "Sweet Sixteen" zeigte. Der Titel "Süße Sechzehn" ist reiner Sarkasmus. Der britische Filmemacher erzählt in seinem Film von 2002 von der sozialen und emotionalen Misere des 15-jährigen Liam, der in einem trostlosen Viertel von Glasgow aufwächst, mit einer drogensüchtigen Mutter, die im Gefängnis sitzt, und einem dealenden Stiefvater, der ihn verprügelt. Liam beginnt für den örtlichen Drogenboss zu arbeiten, der ihn vor immer brutalere Aufgaben stellt. Furchtbarerweise besteht Liam alle Prüfungen: Er verrät seine Freunde, er dealt, stiehlt und am Ende tötet er sogar.
Kein anderer Regisseur blickt in seinen Filmen mit solcher Empathie auf die britische Arbeiterklasse wie Ken Loach, doch in "Sweet Sixteen" hat sein Blick etwas Gnadenloses. Als Liam sechzehn wird, ist sein Leben vorbei, er hat nur noch das Gefängnis vor sich. "Sweet Sixteen", in Schwarzweiß gedreht, ist die schreckliche Version eines Bildungsromans.
Die Adoleszenz ist nicht nur ein bürgerliches Privileg, sondern auch ein westliches. Das zeigt ein Film wie "Touki Bouki" des senegalesischen Regisseurs Djibril Diop Mambéty, der gerade wiederentdeckt wird. Der Film von 1973 ist ein Klassiker des afrikanischen Kinos: exaltiert, poetisch und ungeheuer cool. Einige Kinos haben ihn für diesen Sommer wieder in ihr Programm genommen.
"Touki Bouki" erzählt die Geschichte eines jungen Paares aus Dakar: Mory ist ein kleiner Ganove voller Leidenschaft, ohne Perspektive, aber mit einem Auftritt: Sein Markenzeichen ist ein Motorrad, auf dessen Lenker er imposante Rinderhörner montiert hat. Die androgyne Anta ist Studentin, ebenso schön wie rebellisch. Die beiden träumen davon, nach Paris zu kommen. Das Geld, das sie für die Überfahrt brauchen, können sie sich allerdings nur ergaunern. In einer halsbrecherischen Sequenz hauen sie Schwindler, Betrüger und Verschwender übers Ohr und katapultieren sich in Nullkommanichts in die Welt des Reichtums. Als spöttischer Kommentar zu dieser überbordenden Fantasie des guten Lebens singt auf der Tonspur Josephine Baker ihre Hymne "Paris, Paris, Paris".
Mambéty erzählt die Geschichte dieses lebenshungrigen Paares mit burleskem Witz und in prachtvollen Bildern. Doch er belässt es nicht bei der Extravaganza. Von Beginn an konfrontiert uns der Filmemacher auch mit einem Bild von Afrika als dem ausgebluteten Kontinent.
Der Traum, den Mory und Anta von Europa träumen, ist naiv. Die realen Franzosen, denen sie begegnen, entsprechen auch keineswegs dem Bild der aufgeklärten Sinnlichkeit, das die Nouvelle Vague verheißt. Am Ende stellt sich ihnen die bittere Frage, ob sie ihre persönliche Lebensperspektive abkoppeln können von dem Schicksal Afrikas, das von Europa um seine Zukunft gebracht wird. Jungsein ist bei Mambéty durchaus voller Vitalität und Lebenslust, aber auch der Zeitpunkt, an dem man sich entscheiden muss, welche Rolle man politisch und historisch einnehmen möchte.
Einen der schönsten Coming-of-Age-Filme hat der Franzose André Téchiné 1994 gedreht. "Wilde Herzen" ist ein Klassiker, der über die Jahre nichts von seiner Wirkung eingebüßt hat. Der Film spielt zur Zeit des Algerienkrieges und erzählt von vier Freunden in einem kleinen Ort im Süden des Landes, an den Ufern der Garonne. Die vier sind von ihren Talenten, ihren Lebensentwürfen und ihren Elternhäusern sehr unterschiedlich: Der sensible François entdeckt gerade seine Homosexualität, der Bauernsohn Serge erkennt, dass er nicht für die Schule gemacht ist, der Algerienfranzose Henri hadert mit der Welt, und Maïté steht allein da, seit ihre Mutter, die kommunistische Intellektuelle, an ihren Idealen seelisch zerbrochen ist.
Die Klugheit und die Sensibilität, mit der Téchiné die Gefühls- und Gedankenwelt dieser vier jungen Menschen auslotet, sind berührend. Vor allem aber eine Szene ist unvergesslich. Maïté verliebt sich allen politischen Differenzen zum Trotz in den aufsässigen Algerienfranzosen Henri, wohlwissend, dass sie nicht zusammenpassen.
"Was nützt es, dass wir uns getroffen haben, wenn wir kein Paar werden?", fragt Henri. "Muss es denn zu etwas nütze sein?, entgegnet Maïté: "Reicht es nicht, einander ein bisschen Kraft und Hoffnung zu geben?"
Coming-of-Age-Filme verhehlen nicht die Qualen, die mit dem Jungsein verbunden sind, die Schranken und die Machtlosigkeit oder einfach auch die dramatische Vielfalt an Wegen, die einem jungen Menschen offen stehen. Doch genauso feiern sie das Jungsein mit seiner Leidenschaft und Poesie, Kritik und Kreativität. Und so wenig sie von jungen Regisseurinnen und Regisseuren stammen müssen, so wenig richten sie sich nur an ein junges Publikum.
Geht ins Kino oder lest, möchte man den Älteren zurufen, und vergesst, dass der Mensch schlecht ist und die Welt so viele Enttäuschungen bereit hält. Geht ins Kino oder lest, möchte man den Jungen zurufen, aber lebt poetisch oder rebelliert. Und vergesst nicht, Spaß zu haben und einander ein bisschen Kraft und Hoffnung zu geben.