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Zeitzeugen-Gespräch Irmgard Schwaetzer
Die Politik als Beruf

Pharmazeutin, Berufspolitikerin, Unternehmensberaterin, Kirchenamtsträgerin: Irmgard Schwaetzer hat in ihrem Leben viele verschiedene, nicht unbedingt artverwandte Schwerpunkte gesetzt. Nun blickt sie auf prägende Abschnitte zurück.

Florin, Christiane | 25.06.2022
Irmgard Schwaetzer im Jahr 2018 in ihrer damaligen Funktion als Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Irmgard Schwaetzer war im Jahr 2018 Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. (picture alliance / dpa / Daniel Karmann)
Immer sei sie fleißig gewesen, auch durchsetzungsstark, so wird es Irmgard Schwaetzer nachgesagt. In ihrer Partei, der FDP, stieg sie schnell auf, wurde Generalsekretärin, stellvertretende Parteivorsitzende, Staatsministerin im Auswärtigen Amt und 1991 im Kabinett Kohl schließlich Bundesbauministerin. Bis ihr plötzlich und unerwartet ein Bein gestellt wurde, und zwar in den eigenen Reihen: 1992 sollte sie auf Wunsch des FDP-Präsidiums Außenministerin und Nachfolgerin von Hans-Dietrich Genscher werden, doch die Bundestagsfraktion stellte sich überraschend quer. Klaus Kinkel wurde stattdessen Minister.
Eine Niederlage, die lange nachhallte. Nach der Bundestagswahl 1994 war Schwaetzer im Bundeskabinett gar nicht mehr vertreten. 2002 schied sie aus dem Bundestag aus, wurde in den Folgejahren in der evangelischen Kirche aktiv. Von 2013 an hatte sie schließlich das höchste Amt für Laien in der EKD inne: als Präses der Synode. Die Geschäfte übergab Irmgard Schwaetzer 2021, da war sie fast 80-jährig, sozusagen an die übernächste Generation: an Anna-Nicole Heinrich, ihre damals 25 Jahre alte Nachfolgerin.
Das Interview im Wortlaut:
Christiane Florin: Frau Schwaetzer, wir sitzen einander gegenüber in Bonn, im früheren Regierungsviertel der einstigen Bundeshauptstadt. Hier haben Sie in den 1980er- und 1990er-Jahren Karriere gemacht. Was verbinden Sie mit der Bonner Republik?
Irmgard Schwaetzer: Also, ich habe immer noch heimatliche Gefühle, wenn ich hier in den Bahnhof in Bonn mit dem Zug einfahre, und auch, wenn ich durch Stadt fahre, weil ich eben doch sehr, sehr lange hier gelebt habe, nicht nur die politische Zeit, sondern ich habe hier auch studiert und promoviert. Das ist schon ein Stück Heimat hier. Was ich mit der Bonner Republik verbinde? Dass sie eine ganz gefestigte Demokratie in Deutschland gewesen ist und diese Festigkeit der Demokratie eigentlich in die Berliner Republik auch noch gut herübergebracht hat. Nach all den Katastrophen, nach dem Zivilisationsbruch durch das Hitler-Regime mit dem Mord an den Juden war das ja keine Selbstverständlichkeit, sondern es gab eben sehr engagierte Menschen, die dafür gesorgt haben, dass diese neue Republik einen guten Weg nimmt.
Florin: Der Bau, in dem wir hier sitzen, ist nicht ganz so gefestigt, das ist der sogenannte Schürmann-Bau, heute ist da die Deutsche Welle drin. Dieses Gebäude, das ja ursprünglich für die Abgeordneten gedacht war, weil man ja davon ausging, als es geplant wurde, dass Bonn noch Hauptstadt blieb, das wurde Anfang der 90er-Jahre von einem Jahrhunderthochwasser erfasst. Sie waren Bundesbauministerin und Sie waren schuld. Hat das weh getan, dass Sie die Schuldige waren?
Schwaetzer: Irgendwann hatte ich sicherlich auch die Gefühle, dass da eine ganze Menge Unrecht ist, aber erst einmal musste ich ja kämpfen und eine Diskussion moderieren, die um dieses Gebäude, das ja in dem Moment auch ein Stück Ruine war, insgesamt geführt wurde. Das heißt, was wollen wir damit, wollen wir es fertig bauen, geben wir es auf, weil inzwischen ja klar war, dass die Bundeshauptstadt nach Berlin verlegt worden ist. Dann war der Gedanke, dass dieses Gebäude fertig gebaut wird für die Deutsche Welle, doch eine gute Entlastung. Und ich bin sehr zufrieden mit dem, was dabei herausgekommen ist.
Florin: Aber es war ja auch so etwas wie der Anfang vom Ende Ihrer Karriere?
Schwaetzer: Meiner Ministerkarriere ganz sicherlich. Ich bin dann noch weitere acht Jahre Mitglied im Bundestag gewesen, das heißt, ich bin noch zweimal wiedergewählt worden, aber das war ganz klar. Aber das ist das Risiko einer politischen Laufbahn.
Florin: Heute sehen Sie das locker, damals haben Sie es ja sicher nicht so locker sehen können, denn Sie haben ja sehr schnell Karriere gemacht.
Schwaetzer: Ja, so locker habe ich das damals nicht gesehen, aber es war immer klar, dass eine politische Auseinandersetzung nicht nur mit Argumenten geführt wird, sondern durchaus eben auch interessengeleitet im Zusammenspiel und unter Ausnutzung von Schwächen der einzelnen Personen. Und ein solches Ereignis wie die Zertrümmerung einer gerade fertiggestellten Bauwanne eines riesigen Bundesgebäudes war natürlich ein Angriffspunkt, das war mir von Anfang an klar.
Florin: Haben Sie etwas falsch gemacht in dieser Debatte damals?
Schwaetzer: Ich sage mal so, das war ja Weihnachten und ich war im Ausland. Ich hätte nach Bonn zurückkommen sollen, das war zweifellos eine Fehlentscheidung von mir, dass ich das nicht gemacht habe.

Außenministerin Baerbock vertritt Deutschland "in großartiger Weise"

Florin: Sie wären auch fast Außenministerin der Bundesrepublik Deutschland geworden, die erste Außenministerin, Nachfolgerin von Hans-Dietrich Genscher hätten Sie 1992 werden können. Warum es anders kam, da gehen wir nachher noch drauf ein. Aber wenn Sie heute Außenministerin wären, was würden Sie sagen, was würden Sie tun angesichts des Krieges in der Ukraine?
Schwaetzer: Erst mal möchte ich sagen, dass die gegenwärtige Außenministerin die Bundesrepublik in einer wirklich großartigen Weise vertritt. Und ich finde, dass sie sehr gut in ihrer Position ist. Der Ukrainekrieg, die Zeitenwende ist oft beschworen worden, ich glaube, dass das der richtige Begriff dafür ist. Wir haben über Jahrzehnte darauf vertraut, dass die internationale Rechtsordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg Schritt für Schritt geschaffen worden ist, dass die allgemeingültig ist und allgemeingültig bleibt. Und wir haben durch diesen Angriffskrieg in der Ukraine durch Russland, vor allen Dingen also durch den Präsidenten Russlands, Putin, festgestellt, dass da internationales Recht gebrochen wird, mutwillig gebrochen wird, dass sich jemand nicht mehr darum schert. Das in der Tat wirft uns, ich will nicht sagen Jahrzehnte zurück, aber bringt uns an einen Punkt, wo wir ganz entschlossen wieder den Faden aufgreifen müssen, um eine Friedensordnung auf der Basis international anerkannten Rechtes zu entwerfen und einzuführen, damit wir in dieser sowieso ja sehr zerbrechlichen Welt wieder eine verlässliche Ordnung haben.
Florin: Sie haben sich kürzlich in einem Interview für Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen, aber diese Waffenlieferungsdebatte ist ja so etwas von gestern, jetzt geht es ja schon eher um die Frage, wie kann dieser Krieg beendet werden – und kann der vielleicht dadurch beendet werden, dass akzeptiert wird, dass Russland zumindest einen Teil der Ukraine, den eroberten Teil der Ukraine, annektiert, sich unterwirft. Darf es so kommen?
Schwaetzer: Ich finde es ganz wichtig, dass wir uns als Deutsche, als Europäer, als Nato nicht anmaßen, derartige Entscheidungen für die Ukraine zu treffen. Ich kann das nicht ausschließen, ich will das nicht ausschließen, dass letztlich ein Waffenstillstand, der zu einem möglicherweise sogenannten eingefrorenen Konflikt führt, darauf aufbaut, dass die Ukraine so etwas zumindest vorübergehend und vorläufig akzeptiert, aber das ist eine Entscheidung der Ukraine, nicht unsere. Jetzt geht es vor allen Dingen erst mal darum, deswegen ist das Thema der Waffenlieferungen noch nicht zu Ende, Russland macht ja überhaupt keine Anstalten, an irgendeinen Verhandlungstisch zu kommen. Das ist jetzt erst mal das vorrangige Ziel, die Ukraine dabei zu unterstützen, eine Situation herbeizuführen, in der es überhaupt darum geht, einen Waffenstillstand zu verhandeln.

Mentor Hans-Dietrich Genscher

Florin: Hans-Dietrich Genscher war Ihr Mentor. Können Sie sich noch daran erinnern, wie er Ihnen Diplomatie erklärt hat?
Schwaetzer: Das war eigentlich immer eine sehr praktische Geschichte. Das fing an, als ich 1982 Generalsekretärin der FDP wurde, da war er Parteivorsitzender und Außenminister. Er hat ja immer die offizielle Diplomatie ergänzt dadurch, dass er andere Möglichkeiten der Konfliktlösung über andere Institutionen wie zum Beispiel die deutschen Stiftungen oder persönliche Verbindungen wie zum Beispiel seiner Generalsekretärin zu südafrikanischen Politikern mit eingesetzt hat, um alle Möglichkeiten von Gesprächen auszuloten, aus diesen Gesprächen zu lernen und daraus Konzepte für die Lösung von Konflikten zu entwickeln.
Florin: Kann Diplomatie auch bedeuten, um noch mal konkret auf das Thema Ukraine zu kommen, dem Aggressor nachzugeben?
Schwaetzer: Ich denke, dass das nie etwas gewesen wäre, was die damalige Bundesregierung oder der damalige Außenminister akzeptiert hätte. Es ist nicht auszuschließen – auch in diesem Fall –, dass in einem Waffenstillstand es Regelungen gibt, die einen Charakter des Vorläufigen haben und erst über die Jahre ergänzt werden durch möglichst gute Diplomatie. Dazu gehört aber wirklich auch, die andere Seite gut zu kennen und zu versuchen, einen Ausgleich herbeizuführen, dass ein solcher Waffenstillstand erst über einen gewissen Zeitraum in eine verlässliche neue Ordnung überführt wird. Aber dass die Ordnung als endgültige Ordnung festgeschrieben werden muss, dass das das Ziel sein muss, das ist ganz klar.
Florin: Steht die Diplomatie nicht jetzt gerade einem Aggressor wie Putin hilflos gegenüber, die europäische?
Schwaetzer: Wer sich hilflos machen lässt, kann in der Tat nicht viel bewirken. Aber auch in einer jetzigen Situation, deswegen finde ich, greift die Diskussion über Telefongespräche, die mit Putin geführt werden, einfach zu kurz: Es muss immer wieder durch bestehende Kanäle, durch bestehende Kontakte ausgelotet werden, ob sich etwas verändert hat.

Erinnerungen an die Deutsche Einheit

Florin: Als Sie 1987 Staatsministerin im Auswärtigen Amt geworden sind, als Sie Ihr Amt da angetreten haben, da stand die Mauer noch, da gab es die Sowjetunion noch. Als Sie aufgehört haben, war die Mauer gefallen und die Sowjetunion zerfiel. Haben Sie erwartet, dass das passiert, zwei Jahre vor 1989?
Schwaetzer: Nein. Ich kann mich noch sehr gut an den Europawahlkampf im Frühjahr 1989 erinnern, wo die Frage nach der Deutschen Einheit und dem Zusammenhang mit der europäischen Einigung immer wieder mal auftauchte. Zumindest ich muss von mir sagen, dass ich nicht damit gerechnet habe. Wir haben alle gesehen, dass sich etwas in Polen bewegt, dass sich etwas in der DDR bewegt, das heißt, es kündigte sich etwas an, aber dass das diese Konsequenzen haben würde, das habe ich nicht vorhergesehen.
Florin: Gibt es so etwas wie Zuversicht, das Sie aus dieser historischen Erfahrung mitnehmen angesichts des Krieges und der Krisen heute?
Schwaetzer: Ich nehme daraus vor allen Dingen die Zuversicht mit, dass es unerwartete Entwicklungen geben kann. Wir haben in diesem Jahr gesehen, dass es unerwartete Entwicklungen im Negativen gibt mit dem Angriffskrieg in der Ukraine, aber ich würde nie ausschließen, dass es eben auch positive Überraschungen geben kann. Vor allen Dingen habe ich eben gelernt, dass verantwortungsvolle Politik immer sehr genau darauf achten muss, wie das Gegenüber die Dinge sieht, und die Erfordernisse, die damit verbunden sind, nicht aus den Augen verliert. Es ist wirklich ganz wichtig, nicht nur im Gespräch zu bleiben, sondern auf Augenhöhe dieses Gespräch auch zu führen.

Prägungen, Überzeugungen, liberales Denken

Florin: Sie sind in Münster geboren, 1942, das kann ich ja sagen, Sie sind dieses Jahr 80 geworden, Sie waren drei Jahre alt, als der Krieg endete. Münster war sehr zerstört, es gab über 100 Bombenangriffe. Können Sie sich an den Krieg oder an die unmittelbare Nachkriegszeit noch erinnern?
Schwaetzer: Nein, selbst kann ich mich daran nicht erinnern, denn meine Mutter ist mit uns Kindern im Jahr 1943 dann in ihre alte Heimatstadt, nach Warburg in Westfalen, zurückgegangen, um eben tatsächlich aus dieser sehr schwierigen Situation in Münster herauszukommen.
Florin: Wie würden Sie Ihre Familie beschreiben, was war das für ein Milieu, aus dem Sie kommen?
Schwaetzer: Mein Vater war Beamter, Eisenbahner, beide meiner Eltern kamen aus Eisenbahn-Beamtenfamilien. Mein Vater hatte das Abitur gemacht, meine Mutter hatte eine hauswirtschaftliche Ausbildung nach der Volksschule gemacht, sie waren aber beide sehr daran orientiert, für ihre Kinder Bedingungen zu schaffen, dass die nicht nur ihr eigenes Leben gestalten konnten, sondern dass sie auch die Chance hatten, ein etwas leichteres Leben zu führen als das meiner Eltern.
Florin: Würden Sie sagen, Sie waren privilegiert, stammten aus gut situierten Verhältnissen?
Schwaetzer: Ja, ich kann mich noch gut an die Diskussion erinnern der schlechten Bildungschancen, mit dem Picht-Bericht, der schlechten Bildungschancen von Mädchen vom Lande. Ich war zweifellos ein Mädchen vom Lande, aber ich hatte gute Bildungschancen, weil ich meine Eltern hatte.
Florin: Sie haben vier Brüder, und Ihre Eltern haben keinen Unterschied gemacht in der Frage, geht es um die Ausbildung des Mädchens oder um die Ausbildung der Jungen. Das war ja damals eigentlich nicht so üblich. Warum waren Ihre Eltern in der Hinsicht modern eingestellt?
Schwaetzer: Ganz sicherlich, weil sie insofern keinen Unterschied zwischen ihren Kindern machen wollten. Aber ich glaube, dazu beigetragen hat auch, dass sie wirklich unbedingt eine Tochter haben wollten, damit war dann eigentlich schon klar, dass diese Tochter nicht weniger Chancen, sondern mindestens die gleichen Chancen haben sollte wie ihre Brüder.
Florin: Sie waren an einer katholischen Mädchenschule als evangelisches Mädchen, als evangelisches Kind. War es schlimm?
Schwaetzer: Nein, überhaupt nicht. Die Nonnen haben überhaupt keinen Unterschied wegen der Religion gemacht, gut, wir hatten anderen Religionsunterricht, evangelischen Religionsunterricht. Und wir waren in der Klasse eigentlich durchgängig immer drei Mädchen, die evangelisch waren. Und ich kann mich erinnern, dass wir Religionsunterricht bei einer – die Berufsbezeichnung war damals Vikarin –, das heißt einer voll ausgebildeten Theologin hatten, die aber eben nicht Pfarrerin werden konnte, weil es damals auch in der evangelischen Kirche noch keine Frauenordinationen gab, die deswegen Vikarin war. Und wir konnten das alle eigentlich überhaupt nicht nachvollziehen, denn wir hatten dann Konfirmandenunterricht bei einem Pfarrer und wir fanden unseren Religionsunterricht bei der Vikarin deutlich interessanter als den Konfirmandenunterricht bei dem Pfarrer.
Florin: Und wenn die Vikarin Sie gefragt hat, meinetwegen als Zehnjährige, was willst du mal werden, wenn du erwachsen bist, was haben Sie da geantwortet?
Schwaetzer: Ich wusste es wirklich nicht. Ich wusste es auch bis kurz vor dem Abitur noch nicht, was denn eigentlich werden sollte, ich habe geschwankt zwischen Jura und die Neigung ging zu Medizin, schließlich habe ich mich dann aus eher praktischen Erwägungen entschieden, Pharmazie zu studieren. Das hatte den Vorteil, dass damals die Ausbildung mit einem zweijährigen Praktikum in einer Apotheke begann, nach der ein Vorexamen abgelegt werden musste. Und mit diesem Vorexamen konnte man in den Apotheken arbeiten und verdiente ziemlich gut Geld. Und da ich wusste, dass wenn ich studieren würde, ich nur einen Teil des Studiums von meinen Eltern finanziert bekommen würde, nämlich genau den gleichen Teil wie meine Brüder auch, wusste ich, ich musste Geld verdienen, wenn ich ein Studium abschließen wollte. Das war dann die praktische Überlegung, dass ich damit in jedem Fall immer die Möglichkeit hätte, mein Studium zu finanzieren.
Florin: Dann hat sich ja fast schon die nächste Frage erübrigt: 1968 waren Sie ja noch an der Uni – ich nehme mal nicht an, dass Sie für die Abschaffung des Kapitalismus demonstriert haben damals?
Schwaetzer: Nein, für mich war eine andere Facette der 1968er-Diskussion eigentlich von größerer Bedeutung, nämlich die Frage an unsere Professoren, was habt Ihr eigentlich während der Nazizeit gemacht. Die Diskussion in der Gesellschaft, die herausfordernde Diskussion der jüngeren Generation gegenüber ihren Eltern, wie sie denn mit … erst mal, was sie gewusst haben von den Verbrechen der Nationalsozialisten, aber was sie eben auch selbst gemacht haben während der Nazizeit, während des Krieges, ob sie in irgendeiner Weise auch in Unrecht verstrickt gewesen sind, das hat uns damals ja wirklich sehr umgetrieben. Und das war der Beginn der gesellschaftlichen Diskussion darüber. Das fand ich wichtig – und da ich in Regel nicht unbedingt stillschweige, wenn es um öffentliche Diskussionen ging, wurde ich sehr schnell zur Assistentensprecherin der Pharmazie, dann war ich da an der richtigen Stelle.
Florin: Also die Mao-Bibel haben Sie nicht geschwenkt. Aber haben Sie auch in Ihrer Familie, wenn Ihnen das Thema so wichtig war, was habt ihr gemacht in der Nazizeit, haben Sie diese Debatten auch in der Familie geführt?
Schwaetzer: Ja.
Florin: Mit Ihrem Vater?
Schwaetzer: Mit meinem Vater.
Florin: Mit welchem Ergebnis?
Schwaetzer: Mein Vater war überzeugter Nationalsozialist. Der Zusammenbruch dieser Ideologie, an die er geglaubt hat, war ein schwieriger Prozess für ihn, den er aber – wie ich ihn dann auch über die Jahre immer wieder kennengelernt habe und mit ihm geredet habe – als eindeutiger Demokrat für sich selbst abgeschlossen hat.
Florin: Was hat er vorher geglaubt und was hat er danach geglaubt?
Schwaetzer: Er hat der nationalsozialistischen Ideologie geglaubt, das muss man so sagen.
Florin: Und was war dann das, was ihn zum Demokraten gemacht hat, woran haben Sie das gemerkt?
Schwaetzer: Soweit ich weiß, ist er nicht in irgendwelche Verbrechen verstrickt gewesen. Insofern war das eben wirklich eine Entscheidung, mit der Ideologie zu brechen und anzuknüpfen dann auch an den christlichen Glauben – mit der festen Überzeugung, dass die Würde eines jeden Menschen gleich ist und dass diese Würde unantastbar ist. Und er war ein großer Bewunderer von Theodor Heuss, und Theodor Heuss war ja als Vorsitzender der FDP, er kam aus der württembergischen FDP, die eben sehr viel kritischer mit dem Nationalsozialismus umgegangen ist als weite Teile der FDP in Nordrhein-Westfalen oder auch in Hessen.
Florin: Und Sie sind dann trotz dieser kritischen Auseinandersetzung mit Ihrem Vater und mit den Vätern, mit deren NS-Vergangenheit in die Partei auch eingetreten, die ja nach dem Zweiten Weltkrieg ein Auffangbecken für Alt-Nazis, für Deutschnationale war? Wie kam das, aus einem Reformwillen oder war das auch praktisch?
Schwaetzer: Na ja, ich bin 1975 eingetreten, das war nach den Freiburger Thesen der FDP. Das heißt, die FDP unter Walter Scheel und Willi Weyer hatte definitiv gebrochen mit der alten FDP. Viele waren dann auch ausgetreten, die noch aus der früheren Zeit stammten. Und das machte die FDP für mich dann auch attraktiv, das heißt also, 1975 bin ich eingetreten.
Florin: Sie haben jetzt mehrmals mit dem Pragmatischen geantwortet, gab es eine idealistische Vorstellung, die Sie angetrieben hat bei Ihrem Schritt in die Politik?
Schwaetzer: Ja, absolut. In der Tat hat mich schon überzeugt die Freiheitsphilosophie der Freien Demokraten, das heißt das Bekenntnis der Selbstverantwortung, aber auch das Ziel und der Reiz, für sich selbst verantwortlich zu sein, aber auch die Chance zu bekommen, das Leben eigenständig zu gestalten.
Florin: Im liberalen Sinne heißt liberal nicht nur liberal, hat Loriot mal gespottet. Sie sagen jetzt liberal, Sie sagen, Sie haben eine klare Vorstellung von liberal. Was Loriot da bespöttelt, dieses Liberale, dann die FDP, die Pünktchen-Partei, das ist die Wende-Partei –  dieser Vorwurf hatte ja noch mal Konjunktur Anfang der 80er-Jahre, als die FDP die Koalition gewechselt hat von der SPD unter Helmut Schmidt, dem Bundeskanzler, hin zu Helmut Kohl. Da haben Sie ja eine wichtige Rolle gespielt, Sie waren nämlich damals die einzige Frau, die diesen Wechsel unterstützt hat. Und Sie sind Generalsekretärin geworden, weil der Vorgänger, Günther Verheugen, eben diesen Wechsel nicht mitgemacht hat, sondern zur SPD gegangen ist, weil er eben nicht mit der CDU zusammengehen wollte. Also noch mal: Was heißt liberal, wenn man zuerst für ein sozialdemokratisches, sozialliberales Projekt antritt und wenige Jahre später dann die Wende mit Helmut Kohl vollzieht?
Schwaetzer: Für ein Projekt anzutreten oder ein Projekt miteinander zu definieren, bedeutet ja auch, dass es in realer praktischer Politik umgesetzt werden muss. Und für meine Haltung 1982 bei der Frage des konstruktiven Misstrauensvotums waren zwei politische Fragen wirklich entscheidend. Eine ganz große Rolle hat gespielt die Frage des sogenannten Nachrüstungsbeschlusses, weil für mich der Weg zum Ausstieg aus einer immer gefährlicheren Hochrüstung mit dem Nachrüstungsbeschluss eine Chance bekommen hat, nämlich das Knüpfen …  Wir reden über Abrüstung, und wenn ihr mit uns nicht über Abrüstung redet, dann ziehen wir wieder mit euch gleich, das erschien mir damals und erscheint mir übrigens nach wie vor heute noch als ein Ansatz, der es wirklich wert war, durchzudeklinieren und daran festzuhalten. Und Helmut Schmidt hatte in der SPD nicht mehr die Mehrheit für die Aufrechterhaltung dieses Nachrüstungsbeschlusses. Dazu stand ich damals eben auch als FDP-Politikerin. Das andere war, dass sich immer stärker zeigte, dass SPD und FDP keine vernünftige Haushaltspolitik mehr miteinander machen konnten.
Florin: Sind Sie eigentlich noch FDP-Mitglied?
Schwaetzer: Ja.
Florin: Was ist liberal an der heutigen FDP?
Schwaetzer: Na ja, also die grundsätzlichen Dinge, die ich eben gesagt habe, dass das Zutrauen in die einzelne Person im Mittelpunkt steht, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und das Leben nach den eigenen Bedürfnissen zu gestalten, dass das im Mittelpunkt steht, das sehe ich heute auch noch gegeben. Ich würde mir auf jeden Fall zum Beispiel wünschen, dass etwas, was auch zu meiner Zeit in der FDP nicht leicht umzusetzen war, wieder stärker in den Fokus rückt. Ich bin ja nicht nur Außenpolitikerin gewesen, sondern eigentlich immer auch Sozialpolitikerin. In meiner Zeit als Bauministerin, das war ja durchaus eine überraschende Berufung, war für mich aber zum Beispiel ganz wichtig, nicht nur den sozialen Wohnungsbau aufrechtzuerhalten, sondern eben auch in der damals notwendigen, sehr intensiven Wohnungsbaupolitik einen neuen Stellenwert zu geben.
Florin: Sie haben mal in einem Interview gesagt, der Begriff Solidarität sei in einem FDP-Programm Anfang der 80er-Jahre nicht erwähnt worden, der hätte gar nicht erwähnt werden dürfen. Und Sie haben den dann reingebracht. Nun, jetzt wieder mit dem Abstand von 40 Jahren, so richtig nimmt man ja der FDP nicht ab, dass sie eine soziale Ader hat.
Schwaetzer: Sozialpolitik, auch wie ich sie immer für richtig gehalten habe und wie ich sie an den Stellen, wo ich das konnte, auch verfolgt habe, geht häufig andere Wege, nämlich nicht die Umverteilungswege, sondern eher auf Investitionen und Chancenermöglichung ausgerichtet als auf Umverteilung. Das ist immer schwieriger zu argumentieren als die Sozialpolitik der beiden großen Parteien.
Florin: Ist denn ein Tankrabatt chancenermöglichend?
Schwaetzer: Das ist die gegenwärtige Politik, dazu muss ich mich, glaube ich, nicht äußern.

Verletzungen, Wut, Feminismus

Florin: Sie haben schnell Karriere gemacht, Sie sind eben erst 1975 in die FDP eingetreten und haben dann ganz schnell hohe Ämter bekommen. Waren Ihnen Macht wichtig?
Schwaetzer: Ich bin nicht in die Politik gegangen wegen des Aspekts der Macht.
Florin: Könnte man aber auch zugeben, wenn es so wäre.
Schwaetzer: Ja, wenn es so wäre, würde ich das zugeben. Ich habe mich in meiner frühen Zeit, vor allen Dingen natürlich zu Beginn des Amtes als Generalsekretärin, mit dem Begriff Macht – und wie gehe ich mit Macht um – intensiv auseinandergesetzt. Und es war mir sehr schnell klar, wenn ich etwas verändern will, dann muss ich die Möglichkeiten auch nutzen, das bedeutet: Wenn ich ein solches Amt habe, dann habe ich auch die Möglichkeit, die Macht, es einzusetzen für Veränderungen, die aber jetzt nicht meine individuellen Veränderungen sind, sondern die eben in der Verfolgung eines politischen Projektes, das angekündigt ist, über das Diskussionen geführt worden sind, das dann realisiert wird, bestehen.
Florin: Mit einem Satz haben Sie es im April 1992 auf die Titelseite der „Bild“ geschafft, ja, das muss kommen, denn das hat auch mit Macht zu tun. Dieser Satz lautete: Du intrigantes Schwein. Sie sollen das zu Jürgen Möllemann gesagt haben. Haben Sie das gesagt?
Schwaetzer: Ja.
Florin: Und wer hat es an die Bild-Zeitung weitergegeben?
Schwaetzer: Da Jürgen Möllemann der Einzige war, der das gehört haben konnte, ist die Antwort klar.
Florin: Und warum haben Sie es gesagt?
Schwaetzer: Weil ich wütend war und weil ich mich verraten fühlte. Das war die Auseinandersetzung um die Nachfolge von Hans-Dietrich Genscher als Außenminister, das Präsidium hatte mich nominiert, die Bundestagsfraktion – nach einer intensiven Diskussion – dann Klaus Kinkel gewählt. Das war so eine Art Kurzschlussreaktion nach dieser Entscheidung, die mich in der Tat natürlich getroffen hat.
Florin: Was genau hat Sie getroffen?
Schwaetzer: Ich glaube, das Wichtigste war eigentlich, dass keiner offen mit mir geredet hat, weder diejenigen, die im Präsidium mich vorgeschlagen hatten, noch diejenigen, die dann in der Fraktion die Fäden gezogen haben.
Florin: Sie waren 26 Stunden lang designierte Außenministerin, dann hat es eben noch mal 30 Jahre gedauert, bis es dann wirklich eine Außenministerin gab. Waren Männerbünde dafür verantwortlich, war das eine Frage, männlich oder weiblich?
Schwaetzer: Die Frage, ob männlich oder weiblich, hat eine große Rolle in dem Zusammenhang gespielt, auch die Argumentation, um die Fraktion auf die Linie zu kriegen, mich nicht zu wählen, spielte sehr mit dem Klischee dessen, was eine Frau als Außenministerin alles kann oder möglicherweise nicht kann. Die Frage der Verschleierung in muslimischen Staaten spielte da eine Rolle. Ich bin fest davon überzeugt, dass das heute so nicht mehr möglich wäre – und das ist gut so.
Florin: Echt? Das spielte 1992 eine Rolle, die Frage, wenn Sie nach Saudi-Arabien reisen …
Schwaetzer: Wie soll ich als Außenministerin nach Saudi-Arabien reisen.
Florin: … ob Sie da verschleiert auftreten? Das ist ja schon sehr fein ziseliert eigentlich. Kann das das Argument gewesen sein, dass Sie nicht Außenministerin geworden sind?
Schwaetzer: Nein, nein, nein, das war eines der Argumente, das damals benutzt worden ist.
Florin: Und was steckte wirklich dahinter?
Schwaetzer: Das weiß ich nicht, weiß ich auch bis heute nicht, das war mir dann auch ziemlich bald herzlich egal.
Florin: Ich habe eine Notiz auf der Panoramaseite im Nachrichtenmagazin „Spiegel“ über Sie gefunden von 1984. Da heißt es, sie legte ihr Amt als FDP-Generalsekretärin nach nur anderthalb Jahren nieder, weil ihr Mann Wolfgang Adam wollte, dass Sie häufiger zu Hause seien. Sie hießen ja damals noch Adam-Schwaetzer, in den 80er-Jahren. Stimmt das?
Schwaetzer: Richtig ist auf jeden Fall, dass ich nur eine Wahlperiode … Ich habe nicht niedergelegt, sondern ich war eine Wahlperiode Generalsekretärin der FDP, ich hatte im Prinzip am Anfang die Unterstützung meines Mannes, aber das war schwierig dann. Das war schwierig, ja, aber auch das ist etwas, was nicht nur damals möglicherweise ein Problem sein konnte, sondern was heute, glaube ich, immer noch eine Rolle spielen kann. Und das muss man dann eben auch in seinen eigenen, privaten Beziehungen klären.
Florin: Und Sie haben dann nach Ihrer Scheidung dann auch offiziell erklärt oder erklären müssen, weil Sie ja sehr bekannt waren, dass Sie eben nicht mehr Adam-Schwaetzer heißen, sondern nur noch Schwaetzer.
Schwaetzer: Ja, das ist doch völlig unproblematisch.
Florin: Ist das so?
Schwaetzer: Ja, also das habe ich damals als völlig unproblematisch empfunden und ich sehe das heute ganz genauso. Nein, ich war ja diejenige, die diesen Namen dann abgelegt hat. Das ist eine … Für mich war das eine Frage der Klarheit.
Florin: Und dann haben Sie die Hochzeit mit einem Fernsehjournalisten in der „Bild“ … Ich weiß nicht, von wem die Initiative ausging, aber ich habe jedenfalls der Bild-Zeitung Hochzeitsfotos entnommen und auch die Information, dass Ihre Trauringe jeweils 550 Mark gekostet haben. Warum haben Sie damals das Private öffentlich gemacht, da waren Sie ja Bauministerin?
Schwaetzer: Weil man Fehler macht im Leben?
Florin: Gab es da einen Druck, so aufzutreten oder sich irgendwie anders …
Schwaetzer: Nein, das überhaupt nicht, aber man macht eben Fehler in seinem Leben.
Florin: Haben Sie sich viele Gedanken darüber gemacht, wie Sie als eine der wenigen Frauen in einer politischen Spitzenposition auftreten, was Sie da anders machen sollten als Männer oder was Sie genauso machen sollten wie Männer?
Schwaetzer: Das ist ganz zwangsläufig, und ich bin da natürlich überhaupt nicht die Einzige. Vor allen Dingen, wenn man relativ frisch in solche Spitzenpositionen wie Generalsekretärin oder eben dann in die Bundesregierung kommt, dann liegt das eigentlich auf der Hand. Hinterher kann man immer sagen, natürlich war es ein Fehler, und sich kräftig drüber ärgern. Aber rückwirkend bleibt aus diesen Ämtern eben auch, dass ich Gestaltungsmöglichkeiten hatte und dass ich, glaube ich, diese Gestaltungsmöglichkeiten so genutzt habe, dass sie meinem Amtseid entsprachen – und das also völlig unabhängig von anderen Dingen war, die – verschuldet oder nicht verschuldet – dann skandalisiert wurden.
Florin: Es gibt diesen Kinofilm „Die Unbeugsamen“ über Frauen in der Politik, in der Spitzenpolitik. Da geht es ja genau um Ihre Zeit, auch so um die 80er-Jahre. Wenn man den Film sich anschaut, dann denkt man ja, das ist ja ein Macho-Laden durch und durch. Und alle Frauen, die dort in dem Film sprechen, die ja aus verschiedenen Parteien sind, sagen eigentlich das gleiche. Es ist keine Frage der Partei, wie man die Situation bewertet. War es ein Macho-Laden?
Schwaetzer: Ja, das war es ganz zweifellos. Das habe ich immer so empfunden. Ich habe diesen Film mit großer Zustimmung gesehen, Vergnügen kann man gar nicht sagen, aber wirklich mit großer Zustimmung, denn ich habe das alles ganz genauso erlebt. Für mich war immer eine wichtige Frage, wie gehe ich mit diesen Machos um. Na ja, manches ist da gelungen und manches eben nicht.
Florin: Sie haben damals schon für die Frauenquote in der FDP gekämpft, schon sehr früh. Bis heute gibt es sie nicht. Und bis heute ist auch, wenn überhaupt die Diskussion geführt wird, ist auch noch dieselbe Zahl wie damals in der Debatte, nämlich 30 Prozent. Was ist da schiefgelaufen?
Schwaetzer: Weil es nicht den Willen gab, etwas zu verändern. Soziologische Studien zeigen ja ganz klar, dass man erst bei einem Anteil von 30 Prozent wirklich eine Chance hat, überhaupt einen bestimmenden Einfluss auf den Fortgang einer Diskussion zu erheben. Diese Zahl haben wir in der FDP an Frauen nie erreicht. Damals waren es ungefähr so 25 Prozent, heute sind es um die 20 Prozent. Das heißt, wir haben nie wirklich bestimmenden Einfluss auf den Fortgang dieser Gleichheitsdebatte erreicht. Deswegen bin ich schon relativ früh zu der Überzeugung gekommen, ohne Quote wird sich da in der FDP auch nichts verändern. Dieser Auffassung bin ich nach wie vor, es wird sich nichts ändern, weil es nicht den Willen dazu gibt.
Florin: Aber unter marktwirtschaftlichen Aspekten könnte man auch sagen, es ist vielleicht eine Marktlücke, Jungs unter sich.
Schwaetzer: Ich finde eigentlich, diese Freiheitsphilosophie der FDP viel zu kostbar, als dass man sie alleine den Männern überlassen dürfte.
Florin: Bezeichnen Sie sich als Feministin?
Schwaetzer: Ja, sicher!
Florin: Auch damals schon?
Schwaetzer: Ja, auch damals schon.
Florin: Oder war das ein bisschen unanständig in der FDP, weil man so etwas gar nicht nötig hatte.
Schwaetzer: Ich habe ja 1990 mit vier Gleichgesinnten an einem Küchentisch bei einer Freundin in Hamburg die Liberalen Frauen gegründet, das war ganz genau dafür, um die Diskussion in der FDP über die Frage der Frauenbeteiligung mal auf Trab zu bringen. Aber das ist jetzt 30 Jahre her, und wir haben nicht viel erreicht.

Das Leben danach

Florin: Was hat Ihnen gefehlt, als Sie die Spitzenpolitik verlassen haben?
Schwaetzer: Na ja, also schon dieses Gefühl, wirklich in einer Position zu sein, wo ich entscheidenden Einfluss habe. Das hat mir schon gefehlt. Aber das hat dann einige Zeit gedauert, bis ich mich damit angefreundet hatte, das ist eben etwas, was zum Risiko einer Politikerin auch dazugehört.
Florin: Woran haben Sie gemerkt, dass Sie Einfluss verloren hatten, haben sich Menschen Ihnen gegenüber anders verhalten?
Schwaetzer: Na ja, mir war eigentlich schon ziemlich früh klar, dass mit Spitzenpositionen verbunden ist, dass man eine Menge, ich sage mal in Anführungszeichen, Freundinnen und Freunde hat, die möglicherweise auch ganz schnell wieder weg sind. Deswegen ist es einfach wichtig, dass man da immer sorgfältig drauf achtet und auch die Unterscheidung macht, wer meint dich als Person wirklich und wer meint dich als Person mit Amt.
Florin: Und es sind genug übriggeblieben, die Sie als Person gemeint haben?
Schwaetzer: Ja. Darüber bin ich sehr froh.
Florin: Und wann waren die Entzugserscheinungen vorbei, wie viele Jahre oder vielleicht auch nur Monate dauert so etwas?
Schwaetzer: Das kann ich heute gar nicht mehr sagen. Ich habe dann sofort … Also, nach meiner Zeit als Bauministerin kam ich dann in den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit, also in den Entwicklungsausschuss, und gleichzeitig in den Unterausschuss Menschenrechte, damals war das noch kein eigener Ausschuss, sondern der Unterausschuss Menschenrechte des Auswärtigen Ausschusses. Das waren einfach tolle Aufgaben.
Florin: Als Bundestagsabgeordnete?
Schwaetzer: Als Bundestagsabgeordnete. Das waren einfach tolle Aufgaben, das hat mir auch viel Freude gemacht, das fand ich auch eine befriedigende Aufgabe.
Florin: Und dann haben Sie, für viele überraschend, 2013 wieder ein Spitzenamt bekommen – in der EKD. Sie sind Präses der EKD geworden, wenn man so will, die oberste Laiin, das würde man vielleicht katholischerseits sagen, Sie sind also nicht Pfarrerin oder Bischöfin, sondern Chefin des Kirchenparlaments. Und das kam ja so, dass der Ministerpräsident, der ehemalige bayerische Ministerpräsident durchgefallen war bei der Wahl. Dann ging der Ruf an Sie, muss man sich das so vorstellen? Notruf?
Schwaetzer: Es hatte vorher schon Anfragen an mich gegeben, ob ich nicht gegen den männlichen Kandidaten, den das Präsidium aufgestellt hatte, kandidieren würde, da habe ich Nein gesagt.
Florin: Günther Beckstein.
Schwaetzer: Günther Beckstein. Und das Amt der Präses lag irgendwie nicht in meiner Lebensplanung. Und nachdem dann die Synode in eine schwierige Situation geraten war, weil in zwei Wahlgängen keine Mehrheit für einen Kandidaten oder eine Kandidatin zu bekommen war, und ich dann noch mal gefragt wurde, habe ich gesagt, gut, dann kandidiere ich. Ich kann nur sagen, das war eine richtig gute Entscheidung für mich, das waren sieben sehr erfüllende Jahre.
Florin: Sie haben am Anfang unseres Gesprächs von Ihrer Religionslehrerin erzählt, von der Vikarin, dann aber während Ihrer Zeit als Politikerin hat Ihr Glaube öffentlich keine Rolle gespielt.
Schwaetzer: Nein.
Florin: Das war eine bewusste Entscheidung, das zu trennen, das als Privatsache zu behandeln?
Schwaetzer: Wenn ich meinen eigenen Lebensweg betrachte, glaube ich, ist der sehr, sehr ähnlich verlaufen wie bei ganz vielen Menschen. In meiner Jugend war der Glaube für mich sehr wichtig wie übrigens auch die Musik. Dann gibt es eine Phase der beruflichen Orientierung, der Familiengründung, dann treten andere Dinge in den Vordergrund, die wichtig sind. Und sowohl der Glaube wie die Musik sind ein wenig im Hintergrund, sie sind da, aber sie sind ein wenig im Hintergrund. Und nachdem ich dann in der Politik aufgehört hatte, dann wurde es mir plötzlich wirklich sehr wichtig, mich auch für meinen Glauben zu engagieren. Ich bin ja dann eben auch ehrenamtlich tätig gewesen in einer Kirchengemeinde über viele Jahre und genauso eben auch als Präses der EKD-Synode, das war mir, ist mir schon wichtig.
Florin: Sie wurden die Schwester Schwaetzer – und analog zu der Frage, was ist liberal, frage ich Sie jetzt, was ist evangelisch?
Schwaetzer: Ich bin in den Glauben reingewachsen, wie das zu der damaligen Zeit das Übliche war. Da wurde nicht groß nachgefragt, sondern es war ganz selbstverständlich, dass man eben getauft wurde und dass man in diesen Glauben hineinwuchs. Meine Mutter hat sehr großen Wert darauf gelegt, dass wir Kinder in den Glauben reinwuchsen, sie hat uns immer in den Kindergottesdienst geschickt, wir haben regelmäßig zu Tisch gebetet, sie hat abends mit uns gebetet. Das habe ich sehr viel später dann erst empfunden, wie wichtig das eigentlich für mein ganzes Leben war. Selbst in den Zeiten, wo das nicht so im Vordergrund stand, es gar nicht öffentlich war, auf das Öffentliche kam es mir da nie an oder kommt es ja auch nicht an, aber dass der Glaube im Hintergrund stand, war eben wirklich wichtig. Und dafür ist diese Sozialisation als Kind entscheidend gewesen.
Florin: Und was war das Tolle daran, dass Sie rückblickend sagen, das war eine richtig gute Entscheidung, dass ich damals mich habe wählen lassen, dass ich das gemacht habe 2013?
Schwaetzer: Ich denke, dass durch die Art und Weise, wie wir als Synode zusammengearbeitet haben, wir auch eine Zeit geprägt haben. Und das war eine Zeit auch inhaltlicher Auseinandersetzung, der Vorbereitung des Reformationsjubiläums, der Auswertung des Reformationsjubiläums mit den Hinweisen darauf, wie Kirche der Zukunft gestaltet werden sollte. Dies hat die Synode eben unter der Leitung des Präsidiums, dessen Vorsitzende ich war, als einen sehr diskursiven Prozess gestaltet, der also nicht nur von wenigen Experten gemacht worden ist, sondern der sehr breit auch in die Landeskirchen hinein, auch in die Gemeinden hinein mit Expertise aus den Gemeinden gestaltet worden ist. Und ich glaube, dass das unsere Kirche auch ein bisschen verändert.
Florin: Wenn ich jetzt mit der FDP-Brille auf die evangelische Kirche, aber das gilt ja auch für die katholische Kirche, schaue, würde ich ja schon sagen, die Leistungskennziffern sind problematisch, also Mitgliederzahlen, Austrittszahlen, Anteil der jungen Mitglieder, Interesse der jungen Generation. Welche Zukunft sehen Sie für die evangelische Kirche?
Schwaetzer: Die Zukunft wird schwierig, das ist gar keine Frage, aber es gibt einiges, was wir, glaube ich, nicht beeinflussen können. Insgesamt nimmt die Säkularisierung in unserer Gesellschaft, also das Desinteresse an Glaubensfragen, ja deutlich zu. Aber wir selber müssen etwas verändern, wir müssen uns selber verändern. Und ich sehe da durchaus eben auch Ansätze. Sie haben eben die junge Generation angesprochen. Wir haben in der EKD-Synode – und es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Landeskirchen, die so etwas bei sich selbst auch machen –, die sicherstellt, dass in all unseren Diskussionen und Entscheidungen die junge Generation nicht nur gehört wird, sondern mitspricht. Innerhalb der EKD-Synode, das sind 128 Synodale, ist durch Quote sichergestellt, dass ein Anteil bei den 128 von mindestens 20 Menschen unter 27 da ist. Und einige Landeskirchen haben das dann zum Anlass genommen, auch selber noch ein paar zusätzliche junge Menschen da hineinzuwählen. Das ist schon sichtbar geworden, jetzt nicht nur in der Wahl meiner Nachfolgerin, die jetzt 26 Jahre alt ist, sondern auch mit den Themen, die die sich vorgenommen haben, die natürlich die Kirche der Zukunft prägen. Ich glaube, dass da Ansätze geschaffen worden sind, die mich hoffnungsvoll stimmen.
Florin: Wo gibt es eigentlich mehr Intrigen, in der FDP oder in der EKD?
Schwaetzer: Ach, wo Menschen zusammen sind, gibt es Intrigen.
Florin: Ich hätte jetzt doch erwartet, dass Sie sagen, in der FDP. In der der Kirche der Freiheit, da darf es doch eigentlich so etwas nicht geben. Waren Sie niemals versucht, jemandem in der EKD zuzurufen, du intrigantes Schwein?
Schwaetzer: Nein, niemals.
Florin: Tut es Ihnen heute leid, dass Sie das Jürgen Möllemann gesagt haben, oder hatte er mehr Grund, sich zu entschuldigen?
Schwaetzer: Ich habe mich ja sehr rasch danach bei ihm entschuldigt.
Florin: Und er sich bei Ihnen auch?
Schwaetzer: Und er sich bei mir ja sogar in einem anderen Interview öffentlich, ja.
Florin: Vor einigen Monaten sind Sie Stiftsfrau geworden. Da schließt sich vielleicht der Kreis wieder zu der katholischen Klosterschule, das ist ja eine Art evangelisches Kloster, dem Sie da angehören. Sind Sie jetzt evangelische Nonne?
Schwaetzer: Nein. Also erst mal, es gibt in der evangelischen Kirche eine Menge Konvente, über 100, und das ist auch ein Konvent, in dem wir Stiftsfrauen zusammengeschlossen sind. Wir haben aber keine Wohnpflicht im Kloster, sondern wir leben alle in unseren eigenen Bezügen, wo auch immer in der Bundesrepublik Deutschland. Und wir treffen uns mindestens fünfmal im Jahr, wir übernehmen bestimmte Aufgaben im Kloster und in der Region des Klosters und gestalten insofern auch eine kirchliche Landschaft. Aber das ist eben nicht nur eine kirchliche Landschaft da in der Gemeinde, der wir schon seit vielen, vielen Jahren angehören, sondern eben auch in der Region. Dieses Kloster liegt in der Prignitz, also auch in der Prignitz. Und das machen wir durch die intensive Arbeit, die wir als Konventorinnen, als Stiftsfrauen miteinander verabreden und die wir auch in Zusammenarbeit mit der Äbtissin selber erarbeiten und leben.
Florin: Gelübde müssen Sie nicht ablegen, Armut, Keuschheit, Gehorsam?
Schwaetzer: Nein.

"Ich habe das eigentlich immer so empfunden, dass die Politik mein eigentlicher Beruf war"

Florin: Hätten Sie mit dem Gehorsam Probleme?
Schwaetzer: Weiß ich gar nicht, aber das hätte ich, glaube ich, nicht angestrebt, wenn ich so etwas in dem Zusammenhang hätte machen müssen. Aber wir sprechen natürlich eine Verpflichtung innerhalb eines Gottesdienstes aus, es gibt eine Verpflichtungsformel, die der Verpflichtende, in dem Fall war es der Stiftspropst, vorgelesen hat, auf die ich geantwortet habe und mich verpflichtet habe, eben dort mitzuwirken, den Glauben zu leben und dem Glauben Resonanz zu verschaffen.
Florin: Wenn Sie auf Ihr Leben zurückschauen und sich für eine Berufsbezeichnung entscheiden müssten, welche wäre es? Sind Sie noch Politikerin?
Schwaetzer: Ich habe das eigentlich immer so empfunden, dass die Politik mein eigentlicher Beruf war, ja.
Florin: Die verlässt einen nicht?
Schwaetzer: Das verlässt einen nicht, nein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.