Thomas Haldenwang, der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, sieht Deutschland als Ziel russischer Agententätigkeit. Russland versuche seit einiger Zeit mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, „Aufklärungsarbeit“ in Deutschland zu betreiben. Dabei bediene sich das Land klassischer Mittel wie Agenten, außerdem Illegaler, deren Existenz durch falsche Identitäten verschleiert werde, und reisender Agenten. Daneben träten aber auch Cyberangriffe und Einflussnahme durch Propaganda. Das Bundesamt für Verfassungschutz habe jedoch einen recht guten Überblick über das Geschehen, versicherte Haldenwang im Deutschlandfunk.
Schärfere Abgrenzung zu Maaßen
Nach jüngsten Äußerungen von Hans-Georg Maaßen hat sich Thomas Haldenwang schärfer als bisher von seinem Vorgänger abgegrenzt. Er nehme wahr, so Haldenwang, dass Maaßen durch sehr radikale Äußerungen in Erscheinung trete; Äußerungen, die in ähnlicher Weise eigentlich nur vom äußersten rechten Rand politischer Bestrebungen bekannt seien. Haldenwang verwies auf Bewertungen des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein und anderer, die in diesen Äußerungen eindeutig antisemitische Inhalte sähen.
"Entgrenzung" bei Klimaprotesten
Im Hinblick auf die Klimaproteste beispielsweise in Lützerath sieht Haldenwang eine Entwicklung der "Entgrenzung" in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen: Es sei beunruhigend, dass es beim Thema Klimaschutz möglich sei, dass Extremisten mit eigentlich nur politisch interessierten Bürgern gemeinsam marschieren, oder sich politisch interessierte Bürger nicht mehr von Extremisten abgrenzten. Der Verfassungsschutz müsse daher sehr genau hinschauen, wo der Extremismus beginne und wo die Inanspruchnahme der grundgesetzlich garantierten Rechte ende, betonte der BfV-Präsident.
Das Interview in voller Länge:
Gudula Geuther: Herr Haldenwang, vor fast einem Jahr hat Russland die Ukraine überfallen, mit allen Folgen, die das auch für Deutschland hat – wirtschaftlich, energiepolitisch, mit den ukrainischen Flüchtlingen, die zu uns gekommen sind, die noch kommen. Wegen solcher Folgen hatten viele Unmut oder gar Aufstände vorhergesagt. Dieser “heiße Herbst“ ist ausgeblieben. Bleibt es dabei? Für wie volatil hält der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz die Stimmung?
Gudula Geuther: Herr Haldenwang, vor fast einem Jahr hat Russland die Ukraine überfallen, mit allen Folgen, die das auch für Deutschland hat – wirtschaftlich, energiepolitisch, mit den ukrainischen Flüchtlingen, die zu uns gekommen sind, die noch kommen. Wegen solcher Folgen hatten viele Unmut oder gar Aufstände vorhergesagt. Dieser “heiße Herbst“ ist ausgeblieben. Bleibt es dabei? Für wie volatil hält der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz die Stimmung?
Thomas Haldenwang: Ja, wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder erlebt, dass Themen, die sich auch zur Emotionalisierung eignen, dann auch zu Protestgeschehen führen. Wir haben ja die großen Demonstrationen 2015/2016/17 im Zusammenhang mit der Flüchtlingsbewegung gesehen, Pegida-Demonstrationen. Wir haben dann ein sehr heftiges Demonstrationsgeschehen auch erlebt während der Coronapandemie, und insofern bestand die Sorge, dass jetzt, wenn ein neues emotionales Thema auftaucht – und das hätte sein können Energiekrise, Inflation, steigende Preise, Auswirkungen des Russlandangriffs –, hätte eben auch jetzt wieder geschehen können. Insofern gab es tatsächlich zahlreiche Prognosen, die auf einen Heißen Herbst, auf einen Wutwinter hindeuteten. Wir haben uns als Bundesamt für Verfassungsschutz diese Prognose nicht zu eigen gemacht, sondern wir haben festgestellt, dass es durchaus auch deeskalierende Faktoren geben könnte und so ist es dann auch geschehen. Wir haben eine kurze, kleinere Welle an Protesten erlebt, in Sonderheit in Ostdeutschland. In Thüringen und Sachsen dauern auch Proteste noch an, aber das sind zahlenmäßig Proteste auf niedrigerem Niveau, sehr niedrigem Niveau, und wir sehen eine eindeutige Teilnehmerschaft. Das ist inzwischen tatsächlich zu fokussieren auf die verschiedensten Gruppen des Rechtsextremismus. In Ostdeutschland sehen wir die rechtsextremistische Partei Freie Sachsen. Wir sehen Anhänger der dort eingestuften AfD auf den Straßen. Wir sehen Reichsbürger, Selbstverwalter, also eine sehr stark rechts außen angesiedelte Szene, die aber niemals die Dimension erreicht hat, wie es prognostiziert wurde. Und ich gehe auch nicht davon aus, dass wir das jetzt im weiteren Verlauf des Winters noch bekommen werden.
Geuther: Wie wird sich das weiterentwickeln? Diese Frage Energiepolitik steht nicht mehr im Vordergrund. Was erwarten Sie?
Haldenwang: Das ist natürlich schon feststellbar, dass neue Themen gesucht werden. Die Veranstalter solcher Protestgeschehen suchen nach Themen, die aus ihrer Sicht besser zünden. Und wir sehen schon, dass man sich wieder auf das Thema Migration stürzt. Und ja, mit hohen Flüchtlingszahlen, wie wir sie in Deutschland zurzeit feststellen können, wird auch dieses Thema wieder mehr an Gewicht bekommen. Das könnte ein Thema sein, das dann doch noch mehr Leute auf die Straßen bringt.
Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung
Geuther: Was die Frage des Unmutes, die Stimmung in der Bevölkerung betrifft, da wäre so ein gärender Unmut, über den wir hier sprechen – salopp gesagt – in der Vergangenheit vielleicht gar nicht so sehr Ihr Bier gewesen. Sie haben jetzt gesagt, das ist eine Szene, die immer mehr nach rechts außen wandert. Wenn wir beim harten Rechtsextremismus sind, wäre es Ihr Bier gewesen, aber zu Zeiten der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen ist ja ein neuer Phänomenbereich geschaffen worden, um den sich der Verfassungsschutz kümmert, nämlich die „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“. Es hat an dieser Kategorie einige Kritik gegeben, auch weil, wie Sie das eben beschrieben haben, die konkreten Inhalte, Corona, Flüchtlingspolitik et cetera, ja gar nicht so sehr im Vordergrund stehen. Ist diese Kategorie denn inzwischen klarer definiert?
Haldenwang: Zunächst muss man noch mal die Entwicklung etwas deutlich machen, wie es zu dieser Einführung des neuen Phänomenbereiches kam. Wir haben während der Corona-Phase große Demonstrationen gehabt, Massendemonstrationen in einzelnen Städten in Deutschland. Wir haben aber im weiteren Verlauf eben auch einen Flickenteppich an Klein-Veranstaltungen erlebt, wo aber in Summe auch sehr viele Menschen auf der Straße waren. Hier ist es mir ganz besonders wichtig zu betonen, der friedliche Protest gegen jede Form von Regierungsentscheidung ist in Deutschland Teil der Demokratie. Das ist zulässig. Und die Bürger können selbstverständlich auf die Straßen gehen und demonstrieren und protestieren. Der Verfassungsschutz tritt dann auf den Plan, wenn wir Bestrebungen wahrnehmen innerhalb des Protests, die sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richten. Und in der Vergangenheit war es dann oft so, dass derartige Demonstrationen stark geprägt waren durch rechtsextremistische Gruppierungen oder dass rechtsextremistische Gruppierungen zumindest versucht haben, das zu prägen. Wir haben auf der anderen Seite durchaus auch Versuche von links außen in der Richtung gesehen. Bei Corona gab es eine neue Entwicklung. Wir haben Menschen erlebt, die eindeutig nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes standen, die sich gegen den Staat, gegen unsere staatliche Ordnung gerichtet haben. Das ging weit, weit über Protest gegen einzelne Maßnahmen hinaus. Und sie haben das System insgesamt nicht infrage gestellt, sondern komplett abgelehnt und wollten es überwinden, ohne dass eine spezifische rechts- oder linksextremistische Ideologie dahintersteckte. Bis heute ist mir nicht klar, was eigentlich die Alternative sein sollte für diese Personen, aber sie wollten diesen Staat überwinden. Und damit wir solche Personen auch bearbeiten können, solche Gruppierungen auch bearbeiten können, brauchen wir ein sogenanntes Beobachtungsobjekt, und das war dann dieses Objekt mit dem sehr, sehr sperrigen Namen, „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“. Ein schöneres Wort ist uns dafür leider nicht eingefallen. Das ist aber jetzt auch nicht so zu verstehen, dass eben jeder Demonstrant, der sich zu dem Thema dann eben geäußert hat, da erfasst wird, sondern das ist dann auch nur ein kleiner Kreis der Teilnehmenden, die sich aktiv eben gegen diesen Staat gerichtet haben.
Geuther: Und trotzdem hat so was natürlich auch Wirkungen in eine ganze Szene, in eben zum Beispiel eine ganze Corona-Maßnahmen-Protest-Szene. Es gab die Kritik, der Verfassungsschutz habe mit dieser Kategorie mehr oder andere Kompetenzen bekommen. Dass da Bestrebungen beobachtet würden, die zuvor vielleicht viele missbilligt hätten, die aber doch noch unter Meinungsfreiheit gefallen wären.
Haldenwang: Ja, für uns muss immer der Maßstab sein, das ergibt sich auch aus unserer gesetzlichen Grundlage, dass es sich um eine Bestrebung gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, also gegen unser Grundgesetz, gegen unsere Verfassung handelt. Und da haben wir bestimmte Prüfkriterien. Und wenn wir sehen, dass das Demokratieprinzip in Gänze abgelehnt wird, dass wesentliche Grundrechte infrage gestellt werden, dass die Würde anderer Menschen missachtet wird – wir haben sehr viele Elemente auch von Antisemitismus feststellen müssen in dieser Protestbewegung –, wenn also solche eindeutigen Verfassungsverstöße da sind oder Zielrichtungen gegen die Verfassung, dann sind wir betroffen. Und das hätte auch schon vorher gegolten, aber das scheint tatsächlich ein neuer Trend zu sein, den wir in der Vergangenheit so in der Ausprägung nicht erlebt haben.
„Maaßen schadet mit seinen Äußerungen dem Bundesamt für Verfassungsschutz“
Geuther: Jetzt hatten wir eben schon das Stichwort Meinungsfreiheit. Ihr Vorgänger, Hans-Georg Maaßen, ist in den letzten Tagen mit Äußerungen hervorgetreten, unter anderem: die Stoßrichtung der treibenden Kräfte im politisch-medialen Raum sei ein „eliminatorischer Rassismus gegen Weiße“. Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat sich dazu geäußert, hat gesagt, das sei unbegreiflich, wie er je Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz werden konnte. Was sagen Sie dazu?
Haldenwang: Ja, auch ich nehme wahr, dass er durch sehr radikale Äußerungen in Erscheinung tritt, Äußerungen, die ich in ähnlicher Weise eigentlich nur vom äußersten rechten Rand politischer Bestrebungen wahrnehmen kann. Wir haben Analysen dazu eben auch wahrnehmen können von Felix Klein, dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, der hier eindeutig antisemitische Inhalte eben auch sieht, der diese Einschätzung teilt, auch der Zentralrat der Juden in Deutschland teilt, auch Michel Friedmann kürzlich in einem offenen Brief. Diesen Bewertungen schließe ich mich an. Und ich kann nur sagen, Herr Dr. Maaßen schadet mit seinen Äußerungen auch immer wieder dem Bundesamt für Verfassungsschutz, denn wir werden immer wieder auch mit derartigen Dingen dann in Verbindung gebracht.
Geuther: Das ist die Jetzt-Zeit, aber das ist ja auch ein Mann, der über viele Jahre dieses Bundesamt geprägt hat als Präsident. Wie sehr ist da eigentlich noch der persönliche Einfluss spürbar in dem Amt?
Haldenwang: Ich würde sagen, er hat derartige Äußerungen erst getan, nachdem er aus dem Amt ausgeschieden war. Ich habe ihn in der aktiven Zeit so nicht erlebt, und er hat auch nicht in einer solchen Weise im Amt gewirkt oder das Amt geprägt. Da wären starke Kräfte dagewesen, die so etwas verhindert hätten. Also, das ist eine Entwicklung der vergangenen Jahre, seit er nicht mehr Präsident ist.
Geuther: Na ja, es hat aber schon Veränderungen gegeben, nachdem Sie Präsident geworden sind, zum Beispiel im Umgang mit der AfD.
Haldenwang: Es war notwendig, dass eine schärfere Fokussierung erfolgt gegen den Rechtsextremismus. Das war allerdings auch eine Ressourcenfrage. Das Parlament hatte uns eben auch mit zahlreichen zusätzlichen Stellen und Geldmitteln ausgestattet, sodass es mir jedenfalls möglich war, diesen Fokus neu auszurichten. Ich kann nur sagen, seit meinem Amtseintritt kann ich immer nur betonen, die größte Gefahr in Deutschland geht vom Rechtsextremismus aus.
Proteste in Lüzerath: große Bandbreite von Bewegungen
Geuther: Damit sind wir jetzt schon bei dem Stichwort „AfD“. Herr Haldenwang, Ihre Behörde hat die gesamte Partei im März 2021 als rechtsextremistischen Verdachtsfall eingestuft. Ein Gericht hat das bestätigt. Das Berufungsverfahren läuft noch. Nun wird üblicherweise nach etwa zwei Jahren geprüft, ob sich der Verdacht erhärtet hat oder nicht. Haben wir da demnächst eine Entscheidung zu erwarten?
Haldenwang: Nun, die Beobachtung der AfD, die wir als Verdachtsfall tatsächlich einordnen, ist natürlich ein kontinuierlicher Prozess, und wir tun das mit den in dieser Phase zulässigen Mitteln auch unter Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln. Wir werden zum geeigneten Zeitpunkt zu einer Bewertung des Geschehens kommen müssen, aber ein wichtiger Hinweis wird natürlich auch die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts dann noch für uns sein. Diese Entscheidung bleibt zunächst abzuwarten, und dann werden weitere Schritte zu prüfen sein.
Geuther: Herr Haldenwang, wir haben eben schon gesprochen über die Frage, was wird eigentlich beobachtet und ab wann wird beobachtet. Das wird ja derzeit auch in anderer Hinsicht diskutiert bei den Klimaaktivisten. Jetzt gibt es da verschiedene Gruppen und verschiedene Aktionsformen. Bei der Letzten Generation haben Sie noch vor einigen Wochen keine hinreichenden Anzeichen für verfassungsfeindliche Bestrebungen gesehen. Gilt das noch?
Haldenwang: Ja, wir müssen auch, was diese Gruppe angeht, tagesaktuelle Bewertungen vornehmen und die Entwicklungen eben immer wieder neu einordnen. Zum Zeitpunkt, als ich die letzten Äußerungen getan hatte – das war im November vergangenen Jahres –, da gab es noch nicht die Klebeaktionen auf Flughäfen. Da gab es noch nicht diese bundesweit sehr, sehr zahlreichen Aktivitäten. Es gab aber auch bestimmten Äußerungen noch nicht, die wir heute wahrnehmen. Und wir sehen in der Zwischenzeit eben auch, dass durchaus linksextremistische Gruppierungen versuchen, Einfluss auf die Bewegung Letzte Generation zu nehmen. Das sind alles wichtige Faktoren für die Einschätzung. Aber auch Stand heute kann ich in Übereinstimmung mit allen Landesämtern für Verfassungsschutz – auch in Bayern, auch in Nordrhein-Westfalen – sagen, wir sehen noch nicht hinreichende Anhaltspunkte für eine Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Geuther: Sie hatten vor den Aktionen in Lützerath, dem Weiler, der ja gerade dem Braunkohletagebau weicht, vor einer Radikalisierung gewarnt, vor einer Unterwanderung, wie Sie ja jetzt auch sagen, durch Linksextremisten. Nun hat es von den Gruppierungen in Lützerath überwiegend keine klare Distanzierung von Gewalt gegeben. Welche Rolle spielt das für so eine Einschätzung?
Haldenwang: Ja, wir haben natürlich in Lützerath die ganze Bandbreite von Bewegungen gesehen, die sich für Klimaschutz engagieren. Und diese Bandbreite geht von friedlichsten Bürgern, denen eben Klimaschutz ein dringliches Anliegen ist – was ja auch in der Verfassung verankert ist. Wir haben auf der anderen Seite natürlich auch sehr gewaltorientierte linksextremistische Gruppierungen gesehen. Es gab Protagonisten der Interventionistischen Linken, es gab Protagonisten der Bewegung Ende Gelände. Es gab Mitglieder der Antifa, die in schwarzen Blöcken sehr gewalttätig waren. Und dazwischen eben auch Fridays for Future und Letzte Generation. Man muss diese einzelnen Gruppierungen, glaube ich, schon sehr separat voneinander betrachten – was in so einem Massengeschehen durchaus schwierig ist. Aber es ist in der Tat beunruhigend, dass bei diesem Thema Klimaschutz, aber auch bei anderen Themen in anderen Spektren, es inzwischen heute möglich ist, dass Extremisten mit eigentlich nur politisch interessierten Bürgern gemeinsam marschieren oder die politisch interessierten Bürger sich da nicht mehr abgrenzen. Ja, es ist ein Thema, das wir auch als Entgrenzung betrachten. Und hier muss man gerade als Verfassungsschutz sehr genau hinschauen, wo beginnt der Extremismus und wo endet eben einfach die Inanspruchnahme der grundgesetzlich garantierten Rechte.
„Seltenst“ Differenzen mit dem Bundesinnenministerium
Geuther: Für die Einschätzung, gerade was die Letzte Generation betrifft, dass es da noch nicht ausreichend Anzeichen für verfassungsfeindliche Bestrebungen gäbe, haben Sie Widerspruch geerntet von Innenministern, von Joachim Herrmann aus Bayern, der meinte, Respekt für die Demokratie könne er bei den Aktivisten nicht erkennen, Herbert Reul aus Nordrhein-Westfalen hat Sie gewarnt, die Bewegung zu unterschätzen. Wie viel Einschätzungsspielraum haben Sie oder hat Ihr Amt eigentlich bei so einer Einstufung?
Haldenwang: Wir agieren bei derartigen Einstufungen unabhängig und unbeeinflusst von der Politik. Natürlich unterliegen wir der Rechts- und Fachaufsicht des Bundesministeriums des Inneren, das geht aber nicht so weit, dass dort fachliche inhaltliche Vorgaben kommen. Ich habe ... ich und mein Amt, wir haben da erhebliche Entscheidungsspielräume. Das hat sich auch schon gezeigt eben in der letzten Koalition, bei der Einschätzung eben der AfD, das zeigt sich jetzt auch bei der Einschätzung des Klimawandels. Das Bundesinnenministerium lässt uns unsere Arbeit machen und insofern muss ich natürlich dann auch mit dem Widerstand bestimmter politischer Kreise rechnen oder mit dem Gegenwind. Ich fühle mich auf sehr sicherem Boden, weil ich eben sagen kann, das ist keine Einzelentscheidung des Bundesamtes, sondern dass ist die gemeinsame Sichtweise des Verfassungsschutzverbundes, auch aus den Ländern, aus denen mir jetzt von Bestimmten politischer Protest entgegenschlägt.
Geuther: Sie haben auf die vergangene Koalition verwiesen. Horst Seehofer, der damalige Innenminister hat ja auch immer wieder Ihre Unabhängigkeit betont, gerade, als es um die AfD ging, was ja – Sie haben es eben gesagt – formal nicht stimmt, Sie unterliegen der Fach- und Rechtsaufsicht. Beschreiben Sie doch mal, wie laufen solche Gespräche mit dem Innenministerium? Gibt es die gar nicht oder gibt es da leichte Hinweise?
Haldenwang: Nein, das geht jetzt also natürlich sehr stark ins Detail, aber wir sind in einem sehr intensiven Austausch, eben auch mit den zuständigen Fachabteilungen im Bundesministerium des Inneren und auch mit der Leitungsebene. Und nach Möglichkeit werden natürlich auch Entscheidungen des Bundesamtes im Konsens getroffen. Nur, auch im Bundesinnenministerium ist natürlich schon klar, dass also Äußerungen, die aus dem Bundesamt kommen, von einer großen fachlichen Basis auch getragen sind. Und da hat es auch, also, größere Differenzen seltenst gegeben.
Spionage und Cyberangriffe: „Russland sehr stark und sehr aktiv“
Geuther: Jetzt haben wir ein paar sogenannte Phänomenbereiche ja schon angesprochen. Über alle können wir hier nicht sprechen. Rechts- und Linksextremismus, Islamismus, auslandsbezogener Extremismus, in allen haben Sie derzeit Einiges zu tun. Sie haben eben schon den Rechtsextremismus besonders hervorgehoben. Hat so eine Hierarchisierung Sinn oder was macht Ihnen ganz besonders Sorgen?
Haldenwang: Ja, auch ein Bundesamt für Verfassungsschutz verfügt nicht über unendliche Ressourcen und insofern muss ich natürlich bei Bedrohungen in verschiedenen Phänomenbereichen auch priorisieren, wie wir unsere Kräfte bestmöglich einsetzen. Und das hatte eben zur Folge, dass wir jetzt in den vergangenen Jahren einen sehr starken Schwerpunkt auf den Bereich Rechtsextremismus gelegt haben, personell, auch was unsere nachrichtendienstlichen Mittel angeht. Aber wir müssen natürlich auch immer wieder neu ausrichten und neu priorisieren. Und es ist auch keine Frage, dass jetzt das Thema Spionage in Gänze und insbesondere russische Spionage auch wieder breiten Raum einnehmen muss bei unseren Aktivitäten. Und insofern ist ein ständiger Prozess einer Neuausrichtung im Gange.
Geuther: Dann lassen Sie uns bei dem Thema gleich mal bleiben. 40 russische Diplomaten sind im April ausgewiesen worden. Die deutschen Behörden gingen von Verbindungen zu Geheimdiensten aus. Sie haben später gesagt, es gäbe viel mehr russische Spione in Deutschland. Was glauben Sie, wie genau wissen Sie, was russische Dienste hier tun?
Haldenwang: Zunächst einmal wissen wir, dass Russland ein erhebliches Aufklärungsinteresse in Deutschland hat. Deutschland ist ein ganz wichtiger Player in der Europäischen Union. Wichtige Entscheidungen werden durch deutsche Entscheidungsträger mitgeprägt. Und insofern interessiert sich Russland für deutsche Außenpolitik, für deutsche Verteidigungspolitik, für deutsche Wirtschaftspolitik. Und das sind Aufklärungsbereiche. Und das versucht man tatsächlich schon seit einiger Zeit mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Das sind klassische Mittel, das sind die Agenten, die tatsächlich hier in Berlin und in anderen Städten Deutschlands aktiv sind. Das sind Illegale, deren Existenz eben durch falsche Identitäten verschleiert wird. Das sind reisende Agenten, die quer durch Europa reisen und in verschiedenen Ländern dann eben ihr Wesen oder Unwesen treiben. Und neben diesen klassischen Instrumenten des Einsatzes von Agenten kommt dann natürlich noch das moderne Mittel der Wahl, der Cyberangriff dazu. Alles, was man also mit menschlichen Quellen sich nicht erschließen kann, versucht man eben auch mittels Cyberangriffen sich zu erschließen. Und auch da ist Russland sehr stark und sehr aktiv. Und das sind die Dinge, mit denen wir uns zu befassen haben. Bei alledem glaube ich schon, haben wir einen recht guten Überblick über das Geschehen. Aber wir müssen natürlich auch immer wieder am Ball bleiben. Und die besondere Gefahr, die eben auch von den Bemühungen Russlands ausgehen, haben wir jetzt gerade erst gesehen, als ein Innentäter beim Bundesnachrichtendienst, vom Bundesnachrichtendienst dann allerdings auch entdeckt werden konnte. Da haben eben die Mechanismen gegriffen der Spionageabwehr auch beim BND, dass solche Fälle dann doch identifiziert werden.
Geuther: Nun sind Sie nicht der BND, aber es gibt Berichte, wonach, dass diese Spionage aus dem BND kommen muss, durch befreundete Dienste entdeckt worden wäre?
Haldenwang: Das sind sicherlich Fragen, die Sie mit meinem Kollegen, Dr. Bruno Kahl, erörtern sollten. Ich kann nur sagen aus der Sicht der Spionageabwehrbehörde Verfassungsschutz, wir sind sehr zufrieden damit, wie der Bundesnachrichtendienst diese Affäre gehandelt hat.
Geuther: Nochmal, was Russland betrifft, ich erinnere mich, dass in Zeiten der NSA-Affäre – da ging es ja eigentlich um Aktivitäten von US-Nachrichtendiensten in Deutschland –, dass da unter Sicherheitsexperten viel auch über russische Spionage gesprochen wurde, über die schlecht versteckten verdeckten Aufbauten auf der russischen Botschaft zum Beispiel, von denen alle davon ausgingen, dass damit abgehört wurde. Das war 2013. Hat man da zu lange zugeschaut?
Haldenwang: Ich denke mal, passiv zugeschaut hat man da nie. Also, ich glaube, gerade das Bundesamt hatte schon immer recht klare Vorstellungen, was passiert. Wir haben auch darüber oft geredet. Sie können derartige Dinge in unserem Verfassungsschutzbericht der letzten Jahre, und weit vor der NSA-Affäre auch schon nachlesen. Ich spreche schon lange davon, dass wir wieder bei der Spionage auf einem Niveau sind, wie zu Zeiten des kalten Krieges. Das ist keine neue Entwicklung, die uns jetzt in irgendeiner Weise überraschen muss, sondern wir sind darauf eingestellt. Und das, was wir vorhergesagt haben, dass im Falle eines Konfliktes das nochmal weiter sich intensivieren wird, das tritt jetzt ein. Darauf sind wir vorbereitet, darauf reagieren wir. Aber wir müssen natürlich auch immer wieder unsere Methoden anpassen und möglicherweise eben auch unsere Ressourcen in dem Bereich noch weiter aufstocken.
Propaganda, Desinformation, Fake News: die „Methoden der Gegenseite“
Geuther: Und es geht ja nicht nur um Spionage, sondern auch um Einflussnahme. Als die deutsche Energiesicherheit in Frage stand, da gab es im Netz eine Flut von Verschwörungsvideos zur deutschen Energiepolitik, zu drohenden Blackouts und mehr, die möglicherweise – sage ich jetzt mal vorsichtig – russischen Ursprungs sein konnten. Jetzt hat das Potenzial, mit diesem Thema zu verunsichern, abgenommen – wie viel Einflussnahme oder Propaganda stellen Sie derzeit fest?
Haldenwang: Ja, Einflussnahme und Propaganda, aber auch Desinformation, Fake News, das gehört eben zu den Methoden eben der Gegenseite. Das ist eine Tradition, die man über Jahrhunderte schon gesehen hat. Auch darauf muss man vorbereitet sein. Und wir haben uns hier in Deutschland sehr intensiv auf solche Einflussoperationen auch eingestellt. Im Bundesinnenministerium gibt es eine spezielle Arbeitsgruppe, wo alle Informationen diesbezüglich zusammengeführt werden und wo tagesaktuell darüber entschieden wird, wie man darauf reagiert. Und oft ist es das beste Mittel gegen Desinformation vorzugehen, dass sehr schnell die Gegengeschichte von der möglichst zuständigen Stelle erzählt wird. Und wenn eine kompetente Person, eine kompetente Einrichtung sehr schnell irgendeine Fake News widerlegen kann, dann fällt so eine Geschichte auch schnell wieder in sich zusammen. Und da haben wir auch während dieses gesamten Konfliktes – „wir“, jetzt als Community deutscher Sicherheitsbehörden – recht gute Erfolge erzielt, so dass ich glaube, das mag auch der Grund sein, dass diese Einflussoperationen nachgelassen haben. Aber die gibt es noch und die erfolgen auch teilweise sehr zielgerichtet. Und eine große Gruppe von Personen, die immer wieder erreicht werden soll, das sind Menschen mit russischem Migrationshintergrund, hier in Deutschland, mit Wurzeln in Russland. Damit will ich die überhaupt nicht in so eine Ecke stellen, aber Putin betrachtet diese Personen offensichtlich als seine Staatsangehörigen und meint, diese Personen müsse er erreichen. Bei einigen allerdings ist er da auch nicht ganz ohne Erfolg.
Wahlkampf in der Türkei: Konflikte werden nach Deutschland getragen
Geuther: Jetzt müssten wir eigentlich noch lange über China sprechen – das machen wir mal gesondert, wenn Sie Zeit haben, in einem eigenen Interview. Ich würde aber einen Staat nochmal gerne ansprechen, nämlich die Türkei. Gerade hat der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, angekündigt, dass die Wahlen in seinem Land um einen Monat, auf den Mai vorgezogen werden. Welche Auswirkungen haben diese Wahlen in Deutschland?
Haldenwang: Wir sehen, dass hier in Deutschland natürlich eine große Anzahl von Menschen leben mit türkischen Wurzeln. Wir reden hier von drei Millionen Menschen, die einen Türkeibezug haben; die Hälfte davon hat tatsächlich auch noch das Wahlrecht in der Türkei. Und insofern ist das durchaus auch für den türkischen Staat, für die türkische Politik eine wichtige Gruppe, die man zu erreichen versucht. Wir haben das in vergangenen Wahlkämpfen in der Türkei erlebt, dass die Emotionen, die dort geschürt werden, auch nach Deutschland schwappen, und dass dann entsprechend eben auch Konflikte in Deutschland ausgetragen werden. Erste Anzeichen dafür sehen wir bereits, der Wahlkampf wirft jetzt die Schatten voraus. Wir haben schon Veranstaltungen erleben müssen, wo Hass und Hetze gegen den politischen Gegner auch artikuliert wird von türkischen Politikern. Die deutsche Regierung ist da sehr sensibel bei dem Thema und das Auswärtige Amt greift solche Ereignisse auf, bespricht das mit der diplomatischen Vertretung der Türkei, hier in Deutschland. Und ich denke schon, dass wir jedenfalls alles zur Verfügung Stehende tun werden, um solche missbräuchlichen Veranstaltungen in Deutschland zu verhindert und zu verhindern, dass Konflikte auch in Deutschland eskalieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.