Sonntag, 19. Mai 2024

Kommentar zum AfD-Aufwärtstrend
Regierung und Opposition fehlt der Mut

Die Erklärungsversuche zum Umfragehoch der AfD stimmen nicht, meint "Stern"-Chefredakteur Gregor Peter Schmitz - weder die der Ampel noch die der CDU. Nötig wäre eine Politik, die Entscheidungen trifft ohne immer auf die Beliebtheitswerte zu schauen.

Schmitz, Gregor Peter | 17.06.2023
Alice Weidel, Fraktionsvorsitzende der AfD, geht bei der Generaldebatte der Haushaltswoche im Bundestag an Robert Habeck (l, Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vorbei.
In Umfragen zieht die AfD an den Grünen vorbei und liegt gleichauf mit der SPD. (Robert Habeck (l.), Alice Weidel und Olaf Scholz im Bundestag.) (picture alliance/Kay Nietfeld)
Glaubt man den wichtigsten Männern der beiden großen Volksparteien in Deutschland, gibt es ein ganz einfaches Rezept gegen die AfD und deren unaufhaltsamen Aufstieg in den Umfragen: Die Politik muss „liefern“, also Ergebnisse erreichen. SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz geht offenbar davon aus, dass er nur die beiden H’s – Heizen und Haushalt – möglichst noch vor der Sommerpause abräumen müsse, dann lege sich endlich sommerlicher Friede über das Land.
Auch in der Opposition sind ähnliche Töne zu hören. CDU-Chef Friedrich Merz glaubt anscheinend, dass besseres Regieren einfach die Lösung sei: Hört man ihm zu, trägt das Chaos der Ampelregierung, natürlich vor allem beim umstrittenen Heizungsgesetz, die Hauptschuld am Frust der Protestwähler. Hätten wir die Macht, würde das nicht passieren, so Merz‘ Unterton.

Auch Erfolge haben nichts gebracht

Beide Erklärungsversuche haben nur leider einen Nachteil: Sie sind längst widerlegt. Im vorigen Jahr hat die Ampel-Regierung unter Scholz durchaus beachtliche Ergebnisse in Krisenzeiten geliefert. Etwa in dem sie einen Kältewinter verhinderte und auf sehr pragmatische Art und Weise genug Energie für Deutschland sicherte.
Genützt hat ihr das bei den Wählern wenig, die Alternative für Deutschland legte trotzdem weiter zu. Und Merz, der einst versprach, die AfD-Werte unter seiner Führung der CDU zu halbieren, schafft es nicht Wähler von ihnen zurückgewinnen, ganz gleich was für kompetentes Regieren er verspricht.
Die traurige, und eigentlich noch weit erschreckendere Schlussfolgerung lautet: Auf Ergebnisse kommt es den AfD-Wählern gar nicht so an. Vermutlich sind sie sogar eher unpolitisch, wie der "Welt"-Kommentator Thomas Schmid gerade mutmaßte. Eine ideologische Einfärbung ist in der Tat in der Partei kaum mehr zu erkennen. Die gleichgeschlechtliche Lebensbeziehung der Parteivorsitzenden Alice Weidel wird offen geduldet, obwohl eigentlich reaktionäre Familienpolitik Programmlinie zu sein scheint.

Billig kopieren wirkt ebenfalls nicht

In der Wirtschaftspolitik schwanken die Positionen zwischen mehr Staat und weniger. Außenpolitisch war einmal die Bundeswehraufrüstung das Ziel, nun geriert sich die AfD im Ukraine-Konflikt als Friedenspartei. Ein klarer Kopf an der Spitze fehlt ohnehin. Und doch ist die AfD aller Unbestimmtheit zum Trotz auf dem Weg zur Volkspartei, vor allem im Osten der Republik.
Wenn es aber eigentlich nur um Protest geht, was ist dann das Gegenrezept? Ein Verbot der Partei wird gerade diskutiert, mit allen bekannten Nebenwirkungen. Die Politik der AfD billig zu kopieren, wirkt jedenfalls nicht. Diese Lektion hat selbst Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder offenbar gelernt. Auch Friedrich Merz distanziert sich anders als manche Parteifreunde entschieden von jeder Annäherung an die AfD, obwohl er sich bisweilen bei deren Themen bedient. Schließlich will er schon auf Bundesebene die Grünen nicht dauerhaft als möglichen Koalitionspartner verprellen.
Also regiert die große Ratlosigkeit. Am ehesten ist die resignierte Erklärung zu vernehmen, an etwas Radikalität auf der Rechten werde man sich wohl gewöhnen müssen, das sei schließlich in allen möglichen westlichen Gesellschaften mittlerweile so. Andere mutmaßen, vielleicht treibe AfD-Wähler einfach eine Sehnsucht nach Nostalgie, ihre Stärke sei Ausdruck eines Protestes gegen die Moderne und allzu hektische Veränderung.

Toleranz gegen stramm rechts ist keine Option

Nur ist Deutschland eben kein beliebiges westliches Land, sondern eines mit einer ganz besonderen Geschichte. Das „Nie Wieder“ gehört zum Gründungsimperativ der Bundesrepublik, daher ist Toleranz gegen stramm rechts keine Option. Der Historiker Andreas Wirsching rät zum Umgang mit den Populisten: "Politisches Kapital wächst dort, wo jemand sagt, was er meint und tut, was er sagt. Dazu gehört auch das Eingeständnis, dass es weder eine eindeutige Wahrheit noch eine einzige Antwort geben kann, sodass eine politische Entscheidung gefordert ist.“
Wirsching sagt aber weiter, Politiker müssten dann, wenn sie so ehrlich wären, womöglich in Kauf nehmen, in der Beliebtheitsskala zurückzufallen und ihre Karriere zu riskieren. Und vielleicht ist das das wahre Problem beim Umgang mit der AfD, in der Ampelregierung und bei der Opposition – die große Angst und der Mangel an Mut.