Sonntag, 28. April 2024

100 Jahre Radio
Stimmen im Raum

Radio macht sein Personal unsichtbar. Wer Freude an paradoxen Formulierungen hat, könnte sagen: Das Radio versammelt lauter Abwesende in einem imaginären Raum.

Von Stephan Krass | 15.10.2023
Studiomikrofon vor einem Hintergrund aus Kreisen in Pastelltönen
Radio macht sein Personal unsichtbar. (IMAGO / Pond5 Images / xgnepphotox)
Wer spricht oder was da tönt, bleibt unsichtbar. Das ausgesendete akustische Signal wird von seiner Quelle getrennt und technisch übermittelt. Wir müssen uns also ganz auf das verlassen, was wir hören. So präsent das Radio auch erscheinen mag, es ist ein Medium, das Abwesenheit, Absenz organisiert und eine ständige Herausforderung an unser Abstraktionsvermögen darstellt.
Die Geburtsurkunde des Radios in Deutschland ist auf den 29. Oktober 1923 datiert. Vier Jahre später schon ließ sich Charles Lindberghs spektakulärer Flug über den Atlantik per Funk verfolgen. Das Weltgeschehen drang von da an bis in die entlegensten Winkel. Ein Knopfdruck genügte. Aber der Apparat ist autark, er verlangt unsere Anwesenheit nicht. Er muss nicht einmal eingeschaltet werden. Auch wenn er ausgeschaltet ist, läuft das Programm.
Stephan Krass nimmt in seinem 2022 erschienenen Essayband "Radiozeiten" seine Leserinnen und Leser mit auf eine fulminante Reise durch 100 Jahre Rundfunk. Die Sendung Essay und Diskurs stellt zwei Kapitel vor, gelesen von Herbert Schäfer.
Stephan Krass, geboren 1951, war bis 2017 Redakteur beim Hörfunk des SWR in Baden-Baden. Er ist Autor von Features, Hörspielen und literarischen Texten und lehrt an Hochschulen, u.a. an der HfG Karlsruhe und der Universität Hildesheim.

Lautlos schnellt der automatische Sendersuchlauf auf der Skala der Zeitgeschichte vor und zurück, arretiert in unregelmäßigen Intervallen und entrollt so vor unseren Augen und Ohren eine Collage aus Stimmen und Audio-Clips, die 100 Jahre Rundfunkhistorie wie in einer "Time-Machine"-Revue passieren lassen. Die Stationen im Wellenspektrum, durch die unser kleiner Zapping-Parcours führt, haben sich um jene Frequenzen auf der Skala der laufenden Ereignisse angesiedelt, die wir für unsere Betrachtungen über das Radio in den engeren Fokus nehmen wollen.

Umschalten, abschalten, zappen

Die ganze Bandbreite der Sendungen einzufangen, die das Radio im Laufe seiner Geschichte durch den Äther geschickt hat, würde den Frequenzbereich, auf den wir uns konzentrieren wollen, sprengen. Unser Cursor steuert auf der Programmpalette jene Signale an, die die „große Kulturmaschine Funk“ (Alfred Andersch) seit den Anfängen des Radios in der Weimarer Republik ausgesendet hat. Wenn andere Programme kursorisch gestreift werden, entspricht das durchaus dem Prinzip eines Mediums, das neben dem Einschalten und dem Abschalten auch das Umschalten und das Zappen kennt.
Dabei ist die tastende Suchbewegung des Cursors ein rein technischer Vorgang. Er erfolgt durch einen elektronischen Impuls der Fernbedienung. Auf Knopfdruck erscheint die Senderkennung auf dem Display, und der Raum füllt sich mit Stimmen. Diese Stimmen sind körperlos, und sie verfügen über die irritierende Eigenschaft, auch dann präsent zu sein, wenn niemand im Raum ist. Der Apparat ist autark, er verlangt unsere Anwesenheit nicht. Er muss nicht einmal eingeschaltet werden.
Auch wenn er ausgeschaltet ist, läuft das Programm. Nur bleiben die Stimmen dann unerhört. Von der Irritation, die durch die Trennung von Körper und Stimme entsteht, weiß auch der Moderator ein Lied zu singen. Aus der Einsamkeit der Sprecherkabine erreicht seine Suche nach einer Antwort unser Ohr. „Darf ich Sie fragen, verehrte Damen, verehrte Herren, was geht in Ihnen vor? Sie sitzen da irgendwo, allüberall in ihren erleuchteten Häusern, vertrauen sich einer vom Äther hereinfallenden Stimme an und können mir keine Antwort geben (…) Was geht in Ihnen vor?“

Radio macht sein Personal unsichtbar

Radio ist ein Exerzitium für Abstraktionskünstler. Es macht sein Personal unsichtbar. Wer Spaß an paradoxen Formulierungen hat, könnte sagen: Das Radio versammelt lauter Abwesende in einem imaginären Raum. Dieser Raum ist ein Hör-Raum, seine Schwingungen bestehen aus Stimmen, Klängen, Geräuschen. Nur ist dieser Raum nicht wie ein Kino- oder Theatersaal konkret eingrenzbar oder durch unmittelbar physische Anwesenheit definiert.
Den Erfahrungsraum des Radios konstituiert ein Apparat, der über die technische Fähigkeit verfügt, akustische Signale aufzufangen und wiederzugeben. Deren Absender aber sieht man nicht. Wer spricht oder was da tönt, bleibt unsichtbar. Das ausgesendete akustische Signal wird von seiner Quelle getrennt und technisch übermittelt. „Drahtlos wird etwas übertragen, durch ein Nichts, und erreicht doch alle, die einen ‚kleinen Kasten‘, wie es im Lied von Bert Brecht heißt, haben.“

Ein Medium, das Abwesenheit organisiert

Wir müssen uns also ganz auf das verlassen, was wir hören. Und auch dann wissen wir noch nicht, ob das Signal, das uns da erreicht, live ist oder konserviert, in Echtzeit übermittelt oder aufgezeichnet ist, ob die Quelle oder der Tonträger nicht bereits ganz andere Impulse senden oder an dem genannten Ort, von dem das Signal abgeschickt wurde, gar nicht mehr anwesend sind.
So präsent das Radio auch erscheinen mag, es ist ein Medium, das Abwesenheit, Absenz organisiert und eine ständige Herausforderung an unser Abstraktionsvermögen darstellt. In dem „Versuch einer Sendespiel-Groteske“ mit dem Titel "Zauberei auf dem Sender" von Hans Flesch, die am 24. Oktober 1924 vom Südwestdeutschen Rundfunkdienst in Frankfurt ausgestrahlt wurde und als das erste Hörspiel gilt, wird die Abwesenheit in der Inszenierung direkt thematisiert: „Sag mal, hältst Du das für möglich – kann das sein?“ „Was?“ „Nun, dass eine Musik erklingt, ohne dass jemand spielt. Kannst Du das verstehen?“
Diese merkwürdige Diskrepanz, dass konstant etwas suggeriert wird, was unmittelbar nicht verifiziert werden kann, sondern – im doppelten Wortsinn – angenommen werden muss, die künstliche Trennung von Senden und Empfangen, von Stimme und Ohr, von Geräusch und Wahrnehmung, von akustischem Signal und seiner Quelle, dieses stete Navigieren im Als-ob, müsste aus den Hörerinnen und Hörern eigentlich eine verunsicherte Äthergemeinde machen, die ihren Ohren nicht mehr traut.
Wenn dem nicht so ist, hängt das vielleicht mit einer Art Urvertrauen zusammen, das der Mensch als Hörer früh ausprägt. Lange bevor er zum ersten Mal die Augen aufschlägt und sein Seh-Sinn erwacht, hat er vor der Geburt den Mutterleib als akustischen Raum wahrgenommen. Später wird er die Erfahrung machen, dass man die Augen schließen kann, die Ohren aber nicht.

Abwesende miteiniander verschalten

Betrachtet man derweil die letzten hundert Jahre, so arbeitet das Radio mit seiner besonderen Fähigkeit, Abwesendes miteinander zu verschalten, asynchrone Zeitfenster aufzustoßen und dislozierte akustische Räume zu durchmessen, durchaus erfolgreich an dem Paradox, das es selbst in die Welt gebracht hat: Radio verlangt von seinen Zuhörerinnen und Zuhörern, dass sie eine Vorleistung erbringen und sich entgegen ihrer Alltagserfahrung auf diese Als-ob-Situation einlassen. Obwohl sein Betriebsgeheimnis in einen Rest von Magie gehüllt ist, erreicht das Radio eine hohe Authentizität.
Akusmatiker – Zuhörer – wurde eine Gruppe von Schülern des Philosophen und Mathematikers Pythagoras genannt, der seine Lehre nicht schriftlich festgehalten hat, sondern in freier Rede dozierte. Einer Legende zufolge soll er dabei hinter einem geschlossenen Vorhang zu seiner Gefolgschaft gesprochen haben, damit diese nicht durch seine äußere Erscheinung abgelenkt wurde und sich ganz auf den Inhalt seiner Mitteilungen konzentrieren konnten.
So gelangten die akustischen Signale, die seine Stimme aussendete, an das Ohr seiner Gemeinde, ohne dass diese den Urheber der Tonsignale mit eigenen Augen hätte identifizieren können. Ganz so wie die Stimme im Radio, die nicht hinter einem Vorhang, sondern aus dem Raum hinter der Stoffbespannung eines Lautsprechers zu uns spricht. Wir sehen den Träger der Stimme nicht, aber hören, was sie sagt. Radio Pythagoras sendete schon im fünften vorchristlichen Jahrhundert. Auf die technische Transformation jenes Prinzips, bei dem das Tonsignal von seiner Quelle abgekoppelt wird, mussten die Akusmatiker noch zweieinhalbtausend Jahre warten.

Eine eingängige Formel

„Verehrte An- und Abwesende!“ Mit dieser Begrüßung begann Albert Einstein seine kurze Ansprache auf der 7. Deutschen Funkausstellung am  22. August 1930. Damit war das Radio-Paradox für das Publikum auf dem Ausstellungsgelände am Berliner Funkturm und für die im ganzen Land verstreuten Hörerinnen und Hörer an den Empfangsgeräten auf eine eingängige Formel gebracht.
Zu diesem Zeitpunkt gab es in Deutschland bereits ein flächendeckend funktionierendes Rundfunksystem. Und so würdigte Einstein in seiner Grußadresse vor allem die Verdienste jenes „Heeres namenloser Techniker, welche die Instrumente des Radio-Verkehres so vereinfachten und der Massenfabrikation anpassten, dass sie jedermann zugänglich geworden sind“.

1930 gab es schon drei Millionen Radiohörende

Im Jahr 1930 ist dieser „Radio-Verkehr“ sieben Jahre alt, der Ausbau der deutschen Rundfunksender zu Großsendern von 100 kW hat gerade begonnen, und das Programm der Salzburger Festspiele wird erstmalig von 52 Sendern mitgeschnitten und ausgestrahlt. In Deutschland kommt man derweil auf eine Zahl von mehr als drei Millionen Radiohörerinnen und Radiohörern, Tendenz steigend.
Um mehr Mobilität beim Hören zu gewährleisten, beginnt die Rundfunkindustrie gerade, Lautsprecher in die Empfangsapparate einzubauen, um die lästigen Kopfhörer überflüssig zu machen. Wenige Wochen zuvor, am 25. Dezember 1929, konnte im Rahmen eines Programmaustausches mit den USA die erste transatlantische Radio-Kooperation vermeldet werden, als der Sender NBC ankündigte, das deutsche Weihnachtsprogramm zu übernehmen. Die Welt ist kleiner geworden.

Wände mit Krepp-Papier und Stoffdecken

Sieben Jahre war es zu diesem Zeitpunkt her, dass am 29. Oktober 1923 die Übertragung des ersten offiziellen Rundfunkprogramms in Deutschland vom Obergeschoss des Berliner Vox-Hauses in der Potsdamer Straße 4 mit Hilfe eines provisorisch konstruierten Röhrensenders erfolgt war. Knapp drei Jahre zuvor, am 22. Dezember 1920, wurde vom Funkerberg in Königswusterhausen die erste singuläre Radiosendung – ein weihnachtliches Rundfunkkonzert – übertragen, bei der ein Lichtbogensender eingesetzt wurde, auf dessen elektromagnetischen Wellen Sprache und Musik in die Welt geschickt wurden. Jetzt aber machen die Berliner Radiopioniere um Hans Bredow, Ministerialdirektor im Reichspostministerium, und den Schauspieler und Reporter Alfred Braun ernst und gehen mit einem regulären Programm auf Sendung.
Aus dem Himmel über Berlin meldet sich eine Stimme. „Achtung. Achtung“, lautet die Ansage, „hier ist die Sendestelle Berlin im Vox-Haus auf Welle 400 Meter.“ Mit dieser Stationsansage, die in einem Dachzimmer, dessen Wände mit Krepp-Papier und Stoffdecken schalldicht abgehängt waren, über eine große Drahtantenne auf dem Dach des Vox-Hauses in den Äther geschickt wurde, kündigte sich die "Funk-Stunde" an.
Die Stimme gehörte Friederich Georg Knöpfke, der in diesem Moment nicht nur die Geburtsstunde des Rundfunks in Deutschland ausgerufen, sondern auch einen neuen Berufsstand aus der Taufe gehoben hatte – den des Radiosprechers. Noch weit über die Anfangsjahre hinaus war dieses Berufsbild eindeutig männlich bestimmt. Hinter der "Funk-Stunde" stand die 1922 gegründete und privatwirtschaftlich betriebene Gesellschaft für drahtlose Belehrung und Unterhaltung mbH mit dem Namen "Deutsche Stunde". Mit der aus heutiger Sicht eher seltsam anmutenden Bezeichnung "drahtlose Belehrung" glaubte man, die technische Innovation, die das neue Medium Rundfunk darstellte, und den pädagogischen Impuls der Volkserziehung auf einen Nenner zu bringen.

Die Sendequalität ließ noch zu wünschen übrig

In der BZ am Mittag erschien am 30. Oktober 1923 ein Artikel, der die Ereignisse des denkwürdigen Vorabends noch einmal rekapitulierte: „Drei Minuten vor acht Uhr. Alles versammelt sich im Senderaum. Erwartungsvoll beobachtet man das Vorrücken des Zeigers der Uhr. Acht Uhr! Alles schweigt. In das Mikrophon ertönen nun die Worte: ‚Achtung! Achtung! (…) Wir bringen die kurze Mitteilung, dass die Berliner Sendestelle Vox-Haus mit dem Unterhaltungsrundfunk beginnt.‘“
Die erste Sendung umfasste ein Radiokonzert von etwa einer Stunde Dauer. Auf dem Programmzettel stand Fritz Kreislers "Andantino im Stil von Martini", ein live übertragenes Cello-Solo mit Klavierbegleitung.
Die Interpreten waren Otto Urack und Fritz Goldschmidt. Daneben gab es Einspielungen von Schellack-Platten mit Werken von Mozart, Beethoven, Schumann, Mendelssohn, Tschaikowsky und Saint-Saëns. Wenige Monate später begann der neue Sender, Live-Übertragungen von Orten außerhalb des Sendestudios einzurichten. Aus dem Thalia Theater in Berlin wurde Franz Lehárs Operette "Frasquita" übertragen. Die Sendequalität ließ allerdings noch zu wünschen übrig. Man hatte nur ein Mikrofon zur Verfügung.

SC Preußen Münster gegen Arminia Bielefeld live!

Für die erste Live-Reportage von einem Fußballspiel, die am 1. November 1925 von der Begegnung zwischen dem SC Preußen Münster und Arminia Bielefeld ausgestrahlt wurde, reichte dem Kommentator Bernhard Ernst diese Ausstattung vollauf. Hätte gereicht, muss man angesichts einer veritablen Radio-Panne wohl eher sagen. Denn das Mikrofon, das hinter einem der beiden Tore installiert war, wurde von einem misstrauischen Mitarbeiter der Post kurz vor Spielbeginn wieder abgebaut. Also musste Bernhard Ernst die Begegnung über eine improvisierte Telefonleitung kommentieren. Immerhin, die Verbindung hielt, und die Reportage ging live über den Sender.
1954 in Bern beim Weltmeisterschafts-Endspiel Deutschland gegen Ungarn war Bernhard Ernst auch mit von der Partie. Diesmal beobachtete er die Begegnung für das Fernsehen. Am Radiomikrofon saß derweil Herbert Zimmermann. Sein Kommentar ist Legende. „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen (…) Rahn schießt (…) Toooor! Toooor! Toooor!“ Die sich im Freudentaumel überschlagende Stimme von Herbert Zimmermann steht „wie kein anderes Tondokument für den ersten deutschen Weltmeistertitel und den Aufbruch eines ganzen Landes in eine neue Ära“.

Aufbruchsstimmung im jungen Radioland

Das Radiohören war indes schon in den Anfangstagen des neuen Mediums in der Weimarer Republik kein kostenloser Service der Reichspost, sondern bedurfte einer Genehmigung und war gebührenpflichtig. Bei Sendebeginn gab es noch keine zahlenden Hörer, Ende 1923 waren es 467, im Jahre 1925 wurde die Millionengrenze überschritten.
Es herrschte Aufbruchsstimmung im Radioland Deutschland. Die Rundfunkempfängerlizenz mit der Nummer 1 erhielt der Berliner Zigarrenhändler Wilhelm Kollhoff, der sein Radio am 1. Dezember 1923 anmeldete und infolge der Inflation eine Summe von mehreren Hundert Milliarden Mark für die Jahresgebühr auf den Tisch legen musste.

Der Beginn der Hörfunkforschung

Bereits 1924, im Jahr nach der Premiere des Rundfunks in Deutschland, als Sender in Leipzig, München, Frankfurt, Hamburg, Stuttgart, Breslau, Königsberg und Münster eigene Programme ausstrahlten, gab die Reichspost eine Untersuchung in Auftrag, um jene Haushalte zu ermitteln, die ein angemeldetes Empfangsgerät besaßen. Ferner wollte man wissen, welcher sozialen Schicht die Familie angehörte und zu welchen Zeiten das Programm verfolgt wurde. 1931 wurde das erste Tagesprofil ermittelt, in dem in Form einer Kurve die Mediennutzung dargestellt wurde.
Das war der Beginn einer Disziplin, die später Hörfunkforschung oder Media-Analyse heißen sollte. Auch Theodor W. Adorno interessierte sich für die Gewohnheiten, die die Rezeption des neuen Mediums mit sich brachte. „Es wären Erhebungen über die Haltung des Rundfunkhörers anzustellen. Diese hätte zunächst von ganz zufälligen Dingen auszugehen: wird im Sitzen, Stehen, Herumgehen oder im Bett zugehört? Wird während des Hörens geraucht oder nicht geraucht? Gegessen, getrunken? (…) Mit großer Wahrscheinlichkeit möchte ich annehmen, daß ein sehr hoher Prozentsatz der Hörer raucht.“
Der Anteil von Frauenstimmen im Radio ist in diesen Anfangsjahren noch wenig ausgeprägt. Und das sollte auch noch einige Zeit so bleiben. Der Rundfunk war eine Männerdomäne. Eine Rundfunkpionierin, deren Stimme nicht im Programm zu hören war, ohne deren Forschungen aber keine Sendung störungsfrei hätte übertragen werden können, hat der Radiohistoriker Reiner Suckow dennoch ausgemacht.

Das neue Medium war eine Spielwiese

Ihr Name ist Isolde Hausser. Im Jahre 1914 – da hieß sie noch Isolde Ganswindt – war die junge Physikerin mit ihrer Arbeit „Erzeugung und Empfang kurzer elektrischer Wellen“ promoviert worden und hatte wenig später in einem neuen, schnell expandierenden Industriezweig eine Anstellung gefunden. „15 Jahre lang war Isolde Hausser in der Röhrenentwicklung bei Telefunken tätig. Sie trug wesentlich zur Verbesserung dieses – für den Rundfunk so wichtigen – Bauelementes bei.“
Das Radio erlebte derweil seine wilden Anfangsjahre. Das neue Medium war eine Mischung aus Versuchsanstalt, Spielwiese und Lehrkanzel. Den Hauptanteil am Programm hielten Musiksendungen. Bereits am 18. Juni 1925 wurde in Berlin ein eigenes Rundfunkorchester gegründet.

Auch Avantgarde kam zur Ausstrahlung

Zur Aufführung kamen in diesen frühen Jahren neben traditionellen Soireen auch Avantgarde-Werke, die eigens fürs Radio arrangiert wurden. Weiter standen Vorträge, Rezitationen, Diskussionen, Theateraufführungen, Dichterlesungen, Rezensionen und Sprach- oder Schachkurse auf dem Programm. Nicht zu vergessen das Hörspiel, das sich als genuine akustische Spielform schon kurz nach Aufnahme des Sendebetriebs entwickelt hatte und als erstes eigenständiges Genre der Radiokunst gelten darf.
1925 stellte die "Vossische Zeitung" im Hinblick auf das Programmangebot des neuen Mediums fest: „Ja, es ist eine Schule der Massen (…) eine wahre Volksbildungsanstalt, von der man, noch in der Entwicklung begriffen, Großes zu erwarten hat.“ Achtzig Jahre später wird der Sänger und Autor Schorsch Kamerun in seinem Hörspiel "Ein Menschenbild, das in seiner Summe null ergibt" eine deutlich abgeklärtere Haltung gegenüber einem Medium, dessen euphorische Gründerzeit nun Geschichte ist, einnehmen. „Meine Damen und Herren, liebe Ein- und Ausgeweihte, willkommen im Breitklang der Möglichkeiten und Bedingungen. Drehen Sie Ihr Radio auf, lassen Sie sich ein, aber achten Sie auf die Richtigkeit der folgenden Anweisungen.“

Gleichschaltung und Bestrafung

Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 wird die gerade aufgeblühte und vielfältige Radiolandschaft der Weimarer Republik im Zeichen der sogenannten Gleichschaltung zurückgeschnitten und in eine propagandistische Rundfunkpolitik zwangsüberführt, in der es nur noch ein staatlich gelenktes Programm gibt und das Hören von „Feindsendern“ in schweren Fällen mit der Todesstrafe geahndet wird.
Der weltumspannende Impuls des Rundfunkbastlers "Vom Gebirg zum Ozean, alles hört der Radiomann" – wie ein Werbeslogan aus den frühen Tagen lautete – sollte für die nächsten zwölf Jahre eine restriktive Engführung erfahren. Der neue Reichssendeleiter Eugen Hadamovsky war angetreten, um „die demokratische Epoche des Rundfunks“ und damit „zugleich die Epoche der Rundfunkliliputaner“ im Rahmen eines großdeutschen Einheitssenders auszulöschen.

Das mächtigste Propagandainstrument der Nazis

Hadamovsky unterstand Joseph Goebbels, dem Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, der in Personalunion auch als Präsident der Reichskulturkammer amtierte. Am 29. Oktober 1923, jenem Tag, als das Radio sein erstes Programm ausstrahlte, hatte auch Goebbels, der am 29. Oktober 1897 geboren wurde, Anlass zu feiern. Das Radio, das zu seinem mächtigsten Propagandainstrument werden sollte, teilte den Geburtstag mit ihm. Am 29. Oktober 1938, dem 15. Jahrestag des Rundfunks in Deutschland und dem 41. Geburtstag des Reichspropagandaministers, wurde in Berlin eine besonders preisgünstige Version des Volksempfängers präsentiert. Sie kostete 35 Reichsmark und wurde schon bald im Volksmund „Goebbels-Schnauze“ genannt.
Am 1. September 1939, dem Tag des Überfalls auf Polen, trat die "Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen" in Kraft. Diese Verordnung beinhaltete ein striktes Verbot des „Abhörens ausländischer Sender“. Bereits seit 1933 regelte ein Erlass der Gestapo über sogenannte Sondergerichte, dass „beim gemeinschaftlichen Empfang von Radio Moskau festgestellte Personen“ in Konzentrationslager zu überführen seien.
Ab 1934 verurteilte der Volksgerichtshof Hörer von Radio Moskau wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu Zuchthausstrafen. Meistens kam der Hinweis auf die „Volksverräter“ aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld von Kollegen oder Nachbarn, bisweilen sogar aus dem eigenen Haushalt von der Ehefrau oder dem in der Hitlerjugend aktiven Sohn. So war binnen kurzer Zeit aus dem polyglotten „Radiomann“ ein mit dem Tode bedrohter „Rundfunkverbrecher“ geworden.