Archiv

Scheidender Ukraine-Botschafter
Melnyk fordert den Westen zu Rüstungs-Partnerschaften auf

Der scheidende Botschafter Andrij Melnyk hat den Westen aufgefordert, mit der Ukraine Partnerschaften zur Herstellung hochmoderner Waffen einzugehen. Damit solle für die nächsten Jahrzehnte ein Abschreckungspotenzial gegen Russland gebildet werden.

Andrij Melnyk im Gespräch mit Sabine Adler |
Andrij Melnyk, scheidender ukrainischer Botschafter in Deutschland, auf der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung ILA den Stand der Firma Diehl und informiert sich über das Luftverteidigungssystem IRIS-T SLS (im Hintergrund). Die Luftfahrtausstellung auf dem Flughafen Schönefeld ist vom 22.06. - 26.06.2022 geöffnet.
Andrij Melnyk, scheidender ukrainischer Botschafter in Deutschland, sieht mehr als fünf Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen sein Land keine Chancen für einen baldigen Frieden. Mehr Waffen und Abschreckung seien derzeit die einzige Option, sagte Melnyk im Dlf. (pa/dpa)
Der scheidende Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, sagte, es gehe dem russischen Präsidenten Putin um die Vernichtung der Ukraine. Es gebe im Moment keine Verhandlungsmasse. Wenn es die Ukraine und ihre Verbündeten schaffen wollten, Russland zu besiegen, müsse man militärische Überlegenheit mit modernsten Waffen erlangen. Doch dafür „fehlt immer noch dieses Gefühl: Ja, wir müssen alles geben“, sagte er im Interview der Woche des Deutschlandfunks.
Der Diplomat, der Berlin voraussichtlich im September verlässt, bedankte sich ausdrücklich für die bisher geleistete militärische und finanzielle Unterstützung. „Man hat uns sehr, sehr viel geholfen. Auch aus Deutschland. Wenn wir vergleichen, wo wir gestartet (sind) vor über 160 Tagen, da waren diese 5.000 Helme und andere Geschichten. Heute sind wir ein Stück weiter. Dafür sind wir dankbar.“

„Das Interview war ein Fehler“

Melnyk wird nach über sieben Jahren in Deutschland nach Kiew zurückkehren. Abberufen wurde er nach einem Interview, in dem er den umstrittenen Ultranationalisten Stepan Bandera verteidigte, dem die Anstiftung zum Massenmord an Juden und Polen während des Zweiten Weltkrieges vorgeworfen wird. Melnyk bezeichnet diese Rechtfertigung nun im Deutschlandfunk als einen Fehler: „Das war ein Interview, wo ich mich selbst frage: Wieso ist es so weit gekommen?“ Er bedauere, wenn sich durch seine Äußerungen Menschen in Deutschland, Polen, Israel und anderswo verletzt fühlten.

Deutsche mit Lautstärke erreichen

Der 46-jährige Diplomat polarisierte die deutsche Öffentlichkeit auch durch seine Äußerungen, die er seit Beginn des russischen Angriffskrieges in einem oft harschen Ton auf Twitter verfasste. „Ich habe Deutschland als Land nie beschimpft. Ich habe immer wieder versucht, die Regierung zu kritisieren, (…) weil die Hilfe, die wir brauchten, nicht gekommen ist oder nicht früh genug gekommen ist.“ Seine scharfen Worte begründete er mit seinem Wunsch, „… dass die Deutschen uns besser verstehen. Wenn ich da zu (…) verbalen Mitteln gegriffen habe, die für manche undiplomatisch erschienen, ( …) dann bedauere ich das. Das betrifft nicht nur den Bundeskanzler. Das betrifft viele andere Aussagen, die ich gemacht habe, weil Emotionen gekocht haben, weil ich keine andere Wahl gesehen habe, als nur, dann wirklich laut zu werden. Denn nur auf diese Weise konnte ich Gehör finden.“

Weit weg ins Weltall gewünscht

Der scheidende Botschafter befürchtet, dass sich Deutschland schon bald wegen der hohen Energiepreise und Inflation mehr den eigenen Problemen zu- und von der Ukraine und ihrem Kriegsleid abwenden könnte. Wenn die Wogen wegen seiner Äußerungen sehr hoch schlugen, habe er sich mitunter weggewünscht: „… ins Weltall oder egal wohin, um mir einfach nicht mehr das alles anhören zu müssen. Diese Debatte, die so schiefläuft sehr oft, bis heute. Aber dann war der nächste Gedanke: Okay, aber was dann? Jemand muss dann doch hier diese Arbeit fortsetzen.“
Botschafter Andrij Melnyk eröffnet die Foto-Ausstellung "Ukraine: Der Preis der Freiheit"
Botschafter Andrij Melnyk war wegen seiner teils undiplomatischen Äußerungen zur deutschen Haltung im Ukraine-Krieg in die Kritik geraten - jetzt verlässt er Berlin Richtung Kiew (pa/Jörg Carstensen)

Das Interview in voller Länge:

Adler:   Sehr geehrter Herr Botschafter, an welchem Punkt ist der Krieg jetzt nach fast einem halben Jahr seit der Invasion Russlands?
Melnyk:   Es sind über 160 Tage Angriffskrieg gegen die Ukraine. Und auch, wenn wir gezeigt haben, dass Putin nicht gleich seine Ziele erreichen kann - Kiew einnehmen und die Regierung stürzen, vielleicht die gesamte Ukraine okkupieren - ist es leider so, dass die Gefahr militärisch nach wie vor sehr groß ist und die Russen nach wie vor überlegen sind, und dass sie ihre gesamte Kraft einsetzen, um auch diese großen Ziele zu erreichen. Und deswegen ist es wichtig, dass unsere Partner, auch die Deutschen, uns noch viel mehr helfen, auch mit Waffen.

„Putin kann man nur militärisch Grenzen aufzeigen“

Adler:   Viele Menschen, vor allem in Ihrem Land natürlich, die davon unmittelbar betroffen sind, hätten ein Ende der Kämpfe natürlich viel lieber heute als morgen. Aber in Ihrem Land wissen die Menschen, dass der Frieden, jedenfalls im Moment, nicht auf dem Verhandlungsweg zu erreichen ist. Warum verstehen das die Ukrainer und die Deutschen nicht?
Melnyk:   Also, für uns ist Frieden das allerhöchste Gut. Wir streben nach Frieden. Wir wollen alle in Frieden leben, weil wir gesehen haben, welche Verwüstungen dieser Krieg über unser Land gebracht hat. Gleichzeitig das, was man hier in Deutschland sieht – dass man Zugeständnisse machen sollte, dass man entgegenkommt, also, all die üblichen Themen, dass man dadurch eben diesen Frieden erreicht – darin liegt auch aus meiner Sicht der größte Denkfehler. Denn mit Putin geht es einfach nicht. Man kann ihm nur militärisch diese Grenzen aufzeigen und nur, wenn er sieht, dass er nicht mehr weiter vorrücken kann, dass seine Truppen ins Stocken geraten sind, nur dann könnte er wirklich Verhandlungen starten. Ob das im Moment der Fall ist, wage ich zu bezweifeln. Das ist das Schlimmste, dass ein großer Teil der deutschen Gesellschaft immer noch nicht begriffen hat, dass man nur auf diese militärische Weise hier Frieden erreichen kann. Das klingt für manche nicht sehr logisch, aber es ist leider so in diesem schlimmen Krieg.

"Putin geht es um die Vernichtung des ukrainischen Staates"

Adler:   Wer es immer noch nicht verstanden hat, was muss er wissen?
Melnyk:   Man muss wissen, dass für Putin nicht nur wichtig ist, Landgewinne zu machen. Ihm geht es um viel mehr. Ihm geht es eben um die Vernichtung, um die Vernichtung des ukrainischen Staates, aber auch um die Zerstörung der Staatlichkeit. Und auch das ukrainische Volk ist wieder in Gefahr. Und in dieser Frage ist es kaum möglich, einen Kompromiss zu schließen. Denn was sollte man bitteschön ihm anbieten? Da gibt es keine Verhandlungsmasse im Moment. Und deswegen, das Einzige, was zählt, ist, militärische Stärke zu zeigen, ihn in die Grenzen zu weisen und nur auf diese Weise könnte man hoffen, dass Putin tatsächlich auf seine Invasionspläne verzichten kann. Aber es ist noch wahrscheinlich leider, leider Gottes ein sehr weiter Weg.

"Es fehlt immer noch das Gefühl: 'Ja, wir müssen alles geben'"

Adler:   Glauben Sie, dass am Ende die Ukraine zusammen mit den Partnern im Westen, also mit den Vereinigten Staaten, mit der Europäischen Union, mit der NATO – wenngleich die NATO nicht als Partner beziehungsweise als Akteur auftreten möchte – dass am Ende dieses westliche Bündnis zusammen mit der Ukraine tatsächlich Russland besiegen könnte?
Melnyk:   Also, ich persönlich bin davon fest überzeugt, dass das möglich ist. Und das liegt eben jetzt an der Bereitschaft unserer Partner, denn man hat uns sehr, sehr viel geholfen. Auch aus Deutschland. Und das muss man heute auch so laut sagen. Denn, wenn wir vergleichen, wo wir gestartet haben vor über 160 Tagen, ja, da waren ja diese 5.000 Helme und andere Geschichten. Heute sind wir ein Stück weiter. Dafür sind wir dankbar. Aber trotzdem ist es so, um diese militärische Überlegenheit mit modernsten Waffen, über die der Westen, auch Deutschland, verfügt … die kann man nur herstellen, wenn man erkennt, man muss wirklich alles geben. Also, Deutschland und die USA, die Briten, alle unsere Partner müssen wirklich alles geben, was nur geht, um uns zu helfen. Dann wird es Putin merken, also sehr schnell merken. Und ich glaube, dass wir leider noch nicht an diesem Punkt angelangt sind. Man tut was. Man ist zwar solidarisch. Man möchte uns unterstützen, auch finanziell übrigens, ganz wichtig. Aber es fehlt immer noch dieses Gefühl: Ja, wir müssen alles geben und nur dann kann es gewinnen.

Forderung nach Kooperation für hochmoderne Waffensysteme

Adler:   Was für manche Beobachter schwierig ist, die sich sogar mit der Ukraine seit Langem beschäftigen, ist folgende Tatsache, dass die Ukraine auch ein ganz wichtiger Waffenlieferant ist. Ich glaube, zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, es ist noch nicht so lange her, war die Ukraine unter den zehn wichtigsten Waffenlieferanten.
Melnyk:   Das stimmt, ja.
Adler:   Warum ist das dennoch nicht möglich gewesen, sich selbst sozusagen auszustatten mit den Waffen, die man braucht? Woran lag das?
Melnyk:   Das lag ja daran, dass wir kaum Zusammenarbeit hatten, also eben in diesen hochmodernen Segmenten. Wir haben zwar Panzer, Schützenpanzer, hergestellt und an viele Staaten in der Welt exportiert. Aber das waren halt ähnliche Waffen, über die die Russen auch heute verfügen. Aber wir sehen, dass zum Beispiel diese HIMARS-Mehrfachraketenwerfer, die wirklich 80 Kilometer Weite erreichen, dass man nur mit solchen Hochpräzisionswaffensystemen einen entscheidenden Beitrag dazu leisten kann, dass die Russen merken, nein, also sie können nicht so einfach vorrücken. Und das ist der Grund. Wir bleiben auch nach wie vor ein wichtiger Herstellerstaat für die Waffen. Ich hoffe, auch nach dem Krieg. Aber wir können das nur stemmen und dieses Abschreckungspotenzial für die Russen, für die Zukunft, für die nächsten Jahrzehnte schaffen, nur, indem wir gemeinsam mit den Deutschen, zum Beispiel im Bereich Marine oder mit den Briten oder mit den Amerikanern diese Partnerschaften schaffen, um wirklich hochmoderne Waffensysteme zu schaffen, dass die Russen da gar keine Versuchung mehr sehen, uns weiter anzugreifen.
Adler:   Also, noch mal zusammengefasst. Das, was die ukrainische Waffenproduktion bis dahin geliefert hat und bis dahin imstande war zu produzieren, war im Grunde genommen veraltete Technik?
Melnyk:   Also, nicht ganz veraltet, aber immerhin eine Technik, die uns keine entscheidenden Vorteile liefern könnte in diesem Krieg.

"Schröder vertritt leider die russische Seite zu 100 Prozent"

Adler:   Im Interview der Woche des Deutschlandfunks der scheidende Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk. Jetzt ist Gerhard Schröder wieder in Moskau gewesen und hat angeregt, noch mal Stichwort Verhandlungen, dass man anknüpfen könnte an dem Getreidekompromiss, dass dieses Getreide jetzt aus der Ukraine ausgeliefert werden kann, dass man diesen Getreidekompromiss doch ausweiten könnte auf eine Friedenslösung. Hat er Recht? Muss man in diese Richtung marschieren?
Melnyk:   Also, auf jeden Fall müssen wir jede Chance nutzen, die sich bietet, um Verhandlungen wiederaufzunehmen. Denn es gab in den ersten Kriegswochen sehr intensive Gespräche. Dann hat man gesehen, dass sie gar nichts genützt haben, dass Putin da nichts ernst gemeint hat. Also, das, was Herr Schröder natürlich sagt, da kann man kaum was glauben. Das ist nur sein Gefühl, angeblich, was er vermittelt. Natürlich könnte man diese Dynamik, die hergestellt wurde beim Abschluss des Getreideabkommens, auch nutzen, um zu schauen, ob wir weitergehen...
Adler:   Das sagt der Falsche sozusagen? Der Ex-Kanzler und Gaslobbyist Schröder ist der Falsche, der so was sagt?
Melnyk:   Aber leider ist es so, dass Herr Schröder in seiner Position gar keine Möglichkeit hat, ehrlich und unvoreingenommen zu vermitteln. Er vertritt leider die russische Seite zu hundert Prozent.

Deutsche Überweisungen nach Russland für Importe von fast 23 Milliarden Euro

Adler:   Sehen Sie eine Kraft, ein Land, eine Person, eine Institution, die tatsächlich als Vermittler infrage kommt? Also, wen sehen Sie am Horizont? Wer könnte der Verhandlungsführer sein?
Melnyk:   Zum Beispiel jetzt bei diesem Getreideabkommen, da hat eben die UNO erstaunlicherweise eine konstruktive Rolle gespielt, auch persönlich der Generalsekretär. Die Türkei nach wie vor auch ein Partner, der versucht, eben die Kanäle nach Russland zu bewahren. Wird von vielen kritisiert, aber immerhin. Ich sehe da schon viele Chancen, dass wenn diese Dynamik fortgesetzt werden könnte, da haben wir wirklich vielleicht eine neue Chance, mal zu sehen. Aber das geschieht ja nur dann, wenn Putin das merkt. Und im Moment ist es leider so, dass er sieht, militärisch kann er vorgehen. Er verdient viel Geld mit Gasexporten. Gerade haben wir gelesen, aus Deutschland wurde in der ersten Jahreshälfte ein Rekord von fast 23 Milliarden Euro nach Russland überwiesen. Das wäre fast die Hälfte des Jahresbudgets für das Militär in Russland. Er hat mehr als 50 Prozent mehr verdient in diesem Kriegsjahr, also, seit dem Kriegsbeginn, als im vorigen Jahr zum Beispiel. Und das liegt nicht nur an Gaspreisen. Natürlich ist das der entscheidende Faktor. Aber es liegt auch daran, dass die Importe aus Russland nach Deutschland gewachsen sind.*
Und der Ostausschuss (der Deutschen Wirtschaft) weiß das. Also, wir haben auch darüber in den letzten Monaten sehr oft gesprochen und auch gebeten, uns zu helfen, andere zu überzeugen, doch noch sich zu verabschieden vom russischen Markt, solange Krieg geführt wird. Denn mit Steuereinnahmen oder mit Steuern, die dort gezahlt werden, wird auch dieser Krieg teilweise mitfinanziert.

"Bedaure, dass es mir nicht gelungen ist, die Deutschen wachzurütteln"

Adler:   Herr Melnyk, vor 7,5 Jahren haben wir das erste Interview der Woche geführt im Deutschlandfunk. Da sind Sie nach Deutschland gekommen. Da hat Sie kaum jemand gekannt. Das ist jetzt anders. Der Krieg hat alles verändert und er hat auch viele verändert. Er hat auch Sie verändert. Können Sie erklären, wieso die Deutschen das immer wieder schaffen, Sie derartig aus der Reserve zu locken?
Melnyk:   Also, ich bedauere, dass es mir und unserem Team nicht gelungen ist, vorher, vor 7,5 Jahren die Deutschen wachzurütteln, dass der Krieg, der schon damals da war, seit 2014, dass es mir nicht gelungen ist, schon damals die Deutschen zu überzeugen und auf diese Dringlichkeit hinzuweisen, dass man schon damals hätte viel mehr tun müssen. Und wären wir erfolgreicher gewesen, die Deutschen zu überzeugen, auch uns damals Verteidigungswaffen zu liefern und unsere Kapazitäten zu erhöhen, ich glaube, dass die Gefahr, dass Putin dann diesen großen Krieg gestartet hätte, die wäre viel geringer gewesen. Das ist das, was ich mir persönlich jetzt vorwerfe. Wieso war das nicht möglich, die Deutschen aufzurütteln?

Provokation als "Verzweiflungsschritt"

Adler:   Jetzt war es möglich. Und jetzt war es auch möglich, weil man Sie eigentlich nicht mehr überhören konnte. Und man konnte Sie deshalb auch nicht überhören, weil Sie erstens viel getwittert haben und zweitens häufig in einem Ton, der bei vielen, also, mitunter mehr als nur hochgezogene Augenbrauen verursacht hat. Warum haben Sie diesen Ton angeschlagen? Und eigentlich fast durchgängig, wenn ich das richtig beobachtet habe.
Melnyk:   Weil ich dann bemerkt habe, wenn man leise ist, höflich und nett, dass das gar nicht ging, und dass nur vielleicht durch eine gewisse Provokation das dann am Ende des Tages … da war ich selbst geschockt, ja, dass ich solche Mittel einsetzen musste, um die Deutschen überhaupt aufmerksam zu machen. Oh, was läuft da? Also, was will er von uns? Und das war ja nicht geplant von mir. Das war wie ein Verzweiflungsschritt von meiner Seite.

"Welle der Solidarität jetzt allmählich nicht mehr so spürbar"

Adler:   Aber andererseits hören Sie auch nicht auf damit. Also, auch, wenn man jetzt, dieser Tage Tweets liest, sind die eigentlich in dem gleichen aggressiven Ton gehalten. Warum hören Sie jetzt nicht auf damit? Die Deutschen haben es doch jetzt kapiert. Oder immer noch nicht?
Melnyk:   Also, das ist jetzt die große Gefahr. Denn aus meinen Erfahrungen hier war es auch so, als ich nach Deutschland gekommen bin 2015. Es wurde gerade einen Monat später das Minsker Abkommen geschlossen. Das Thema Ukraine wurde diskutiert. Aber dann kam die Zeit – und das war sehr schnell, Ende 2015 bereits konnte man sagen, dass die Aufmerksamkeit fast vorbei war. Und diese Gefahr besteht auch heute, denn diese Welle der Solidarität und der Empathie, die wir gespürt haben am Anfang des Krieges in Deutschland – und dafür sind wir nach wie vor sehr dankbar, dass unser Schicksal den Deutschen nicht egal war – dass diese Welle jetzt allmählich nicht mehr so spürbar ist und jetzt mit den Problemen – Gaspreise, Inflation usw., eigene Sorge um eigene Existenz – das alles könnte leider dazu führen, dass man sagt: Oh, wir haben unsere Probleme. Wieso müssen wir uns jetzt noch darum kümmern und den Ukrainern helfen? Und diese Gefahr … also, ich glaube, man muss auch weiterhin laut bleiben, denn die Menschen, sie verstehen vielleicht immer noch nicht ganz, dass wenn die Ukraine fallen soll … auf diese Dringlichkeit hinzuweisen, ist, glaube ich, nach wie vor meine Pflicht. Auch, wenn Sie das zu Recht sagen, dass das manche vor den Kopf stößt. Das kann ich verstehen.

Entscheidung zu Steinmeier wurde in Kiew getroffen

Adler:   Sie haben selbst den höchsten Mann im Staat, den Bundespräsidenten, angegriffen. Nicht nur einmal, mehrfach. Sie haben es da mit einem Politiker zu tun gehabt, der der beliebteste Politiker im Land ist – seit langer Zeit. Und das ist doch abzusehen, dass wenn man diesen sehr beliebten Politiker angreift, dass man dann diejenigen gegen sich aufbringt, die ihn so schätzen. Haben Sie das nicht gesehen oder haben Sie es in Kauf genommen?
Melnyk:   Also, ich glaube, dass ich nicht schweigen durfte, wenn wir gesehen haben, dass hier keine Bereitschaft bestand, als der Krieg schon ausgebrochen ist. Dass man gar nicht bereit war, zurückzublicken und zu schauen, was schiefgelaufen ist.
Adler:   Nun hat aber Steinmeier gesagt: „Ich habe Fehler gemacht.“ Das hat er sehr früh in diesem Krieg schon anerkannt.
Melnyk:   Ja, aber das war, glaube ich, gleich nachdem diese kritischen Worte von meiner Seite gekommen sind.
Adler:   Was ist eigentlich passiert? Was hat tatsächlich zu der Ausladung von Steinmeier geführt?
Melnyk:   Also, das weiß ich ehrlich gesagt nicht, weil die Entscheidung dann in Kiew getroffen wurde.

Seit Kriegsbeginn kein Schreiben, kein Anruf, nichts

Adler:   Nun wird jeder Botschafter in Deutschland sicherlich angerufen werden, wenn die Frage ist: Der Bundespräsident möchte Kiew besuchen. Das ist doch das Normalste von der Welt, dass man dann aus Kiew in Berlin anruft beim eigenen Botschafter und mal fragt, wie es so steht, und ob das eine gute Idee ist.
Melnyk:   Also, ich möchte nochmals betonen, dass es keine Ausladung gab. Es wird immer noch so interpretiert, weil es keine Einladung gegeben hat. Es gab gar keine Kontakte zwischen meinem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und dem Bundespräsidenten Steinmeier seit dem Kriegsbeginn. Es gab kein einziges Schreiben, keinen Anruf. Also, es gab gar nichts, und zwar lange Monate, also viele Wochen seit dem Kriegsbeginn.

"Jetzt kommt es darauf an, wann Herr Steinmeier tatsächlich nach Kiew kommt"

Adler:   Sie meinen aus dem Bundespräsidialamt in Kiew wegen eines Besuches?
Melnyk:   Ja, also überhaupt, ja. Es gab gar kein Telegramm oder ich weiß nicht. Es gab Funkstille. Und dann plötzlich hat man erfahren, dass auch der Präsident Steinmeier nach Kiew, also mitfahren möchte, also mit dieser Gruppe von osteuropäischen Staatsoberhäuptern. Das war vielleicht einer der Gründe, wieso man dann in Kiew gesehen hat … also, wir warten auf einen Besuch zu einem Zeitpunkt, wo man wirklich auch die Aufmerksamkeit schenken kann und wo dieser Besuch quasi alleine einen Wert hat. Aber was für mich zählt, ist, dass mein Präsident allein … das war seine Initiative, dass er mit Steinmeier telefoniert hat, schon zweimal seitdem, dass er schon zweimal diese Einladung bekräftigt hat. Und jetzt kommt es darauf an, wann Herr Steinmeier tatsächlich nach Kiew kommt.

"Ich hoffe, dass der Kanzler Zeit findet"

Adler:   Nun sind Sie nicht bei Steinmeier stehengeblieben, sondern haben auch mit Olaf Scholz so manchen Händel dann ausgetragen. Der endete in der berühmten „beleidigten Leberwurst“. Sie haben gesagt, wenn Sie jetzt Deutschland, wenn Sie Berlin verlassen, dann würden Sie sich entschuldigen, wenn der Kanzler Sie empfängt vor dem Abschied. Das lese ich im Umkehrschluss, wenn der Kanzler Sie nicht empfängt zu Ihrem Abschied, vor Ihrem Abschied, dann entschuldigen Sie sich nicht.
Melnyk:   Also, ich hoffe, dass der Kanzler diese Zeit findet. Denn einen Botschafter zu empfangen, der ein Land vertritt, das mitten im Krieg ist, und dass dieser Krieg noch da ist und wo wir auf die deutsche Hilfe hoffen, dass das mehr kommt, ich glaube, das wäre das Natürlichste, was man sich erhoffen kann und erwarten kann. Und ich hoffe, dass der Kanzler diese Zeit …

"Es war meine einzige Motivation, dass die Deutschen uns besser verstehen"

Adler:   Noch mal nachgefragt. Also, wenn der Kanzler Sie nicht empfängt, dann entschuldigen Sie sich auch nicht? Also, sozusagen nicht auf Zuruf und aus der Ferne?
Melnyk:   Also, einerseits ist es so, dass ich glaube, dass das auch menschlich betrachtet richtig wäre, wenn der Bundeskanzler diese zehn Minuten Zeit für einen ukrainischen Botschafter finden kann. Denn ich habe zwar, wie manche sagen, angeeckt und mich undiplomatisch verhalten. Das kann ich zugeben. Aber andererseits – und alle, die mich kennen seit Jahren, die wissen, dass der einzige Grund oder die einzige Motivation, die dahinterstand, war, dass ich …, weil wir Deutschland lieben, weil wir uns hier wohlgefühlt haben, weil Deutschland und das deutsche Volk für uns sehr nah waren und sind und mein einziger Wunsch war, dass diese Beziehungen zwischen der Ukraine und Deutschland enger werden, und dass die Deutschen uns besser verstehen. Also, das war meine einzige Motivation. Und, wenn ich da zu Mitteln, auch verbalen Mitteln, gegriffen habe, die für manche undiplomatisch erschienen oder … das bedauere ich. Das möchte ich auch heute so sagen. Das betrifft nicht nur den Bundeskanzler. Das betrifft viele andere Aussagen, die ich gemacht habe, weil Emotionen gekocht haben, weil ich keine andere Wahl gesehen habe, als nur dann wirklich laut zu werden. Denn nur auf diese Weise konnte ich Gehör finden. Und darum geht es mir.
Adler:   Also, wenn ich Sie jetzt richtig verstehe, ist das so, dass Sie sagen, weil Sie Deutschland lieben, beschimpfen Sie Deutschland und Sie raten dem nächsten Botschafter, Ihrem Nachfolger, auch weiter so laut zu bleiben? Habe ich Sie da richtig verstanden?
Melnyk:   Also, nein, also, hier möchte ich widersprechen. Ich habe Deutschland nie beschimpft. Ich habe …

"Habe immer wieder versucht, die Regierung zu kritisieren"

Adler:   Oh, das haben viele Menschen wirklich anders verstanden.
Melnyk:   Ja, vielleicht, aber ich habe Deutschland als Land nie beschimpft. Ich habe immer wieder versucht, die Regierung zu kritisieren. Und ich finde, in vielen Fällen war diese Kritik auch berechtigt, weil die Hilfe, die wir brauchten, nicht gekommen ist oder nicht früh genug gekommen ist, und so weiter… Aber Deutschland als Land oder die Deutschen als Volk zu beleidigen oder zu beschimpfen, das habe ich nie getan. Und das würde ich mir auch nie anmaßen, das zu tun. Und wenn jemand sich so gefühlt hat, also, bei diesen Menschen möchte ich mich entschuldigen. Dass sie aus ihrer Perspektive, wo sie glauben, ein Botschafter muss immer höflich sein und immer lächeln, aus ihrer Perspektive kann das sein, menschlich betrachtet, dass viele sich beleidigt fühlten oder nicht verstanden fühlten oder nicht begreifen konnten, wieso ich die Regierung kritisiere. Auch, wenn das vielleicht nicht üblich ist oder manche glauben, es ist auch kontraproduktiv, das zu tun. Aber ich habe alleine agiert. Also, ich habe da keine Masterpläne, wie man so was macht. Wir sind im Krieg. Wir suchen nach Lösungen. Wir finden sehr oft keine. Und deswegen war das aus meiner Sicht notwendig, anzuecken.

"Selenskyj möchte mich in Kiew, in seinem Team sehen"

Adler:   Haben Sie sich damit für eine weitere Diplomatenposition sozusagen selbst ins Aus geschossen? Oder anders gefragt: Wie geht es jetzt weiter? Sind Sie als Diplomat verbrannt für Kiew? Oder – man weiß ja auch sehr genau, dass Ihr Präsident sehr genau darauf achtet, wer liefert und wer nicht – war es gerade gut, dass Sie so laut waren und gibt es jetzt eine Beförderung? Wie geht es weiter?
Melnyk:   Also, es gibt noch keine Entscheidungen. Ich werde das nicht verhehlen, der Präsident, Wolodymyr Selenskyj, möchte mich also in Kiew, in seinem Team sehen. Was das sein wird, weiß ich noch nicht. Es gibt einen Vorschlag, der auch gebilligt wurde vom Präsidenten, dass ich als Vize-Außenminister weiterhin tätig sein darf. Aber die Entscheidung trifft die Regierung formell. Deswegen, da will ich dieser Regierung noch nicht vorgreifen. Was hier zählt, ist, dass ich auch dem Präsidenten dankbar bin, für diese Möglichkeit, diesen Freiraum, hier auch meine Arbeit so zu gestalten, wie ich das für richtig hielt. Das war auch für ihn, kann ich mir vorstellen, nicht immer einfach, denn der Stil war nicht der …
Adler:   Unorthodox.
Melnyk:   War ein bisschen unorthodox, milde ausgedrückt. Und deswegen, ich bin ihm dankbar für seine Geduld mit mir.

"Menschen noch nicht bereit, Bandera sachlich zu diskutieren"

Adler:   Die finde ich erstaunlich, diese Geduld. Denn ein ganz wichtiges Thema, da müssen wir noch drüber sprechen, das hier wirklich hohe Wellen geschlagen hat, war Ihr Interview zu der Figur Stepan Bandera. Es war für Selenskyj zumindest der Anlass, ob der Grund, weiß ich nicht, aber der Anlass, Sie abzuberufen aus Berlin. Stepan Bandera ist eine wahnsinnig komplizierte, eine sehr schwierige Figur. Ultranationalist zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges. Warum haben Sie bei diesem Interview so geantwortet, wie Sie geantwortet haben, nämlich Bandera verteidigt? Vielleicht noch als Einschub dazu: In der Ukraine gilt er vielen Menschen als Held, weil er einen unbeugsamen Kampf gegen die Sowjetunion geführt hat. In Deutschland gilt er vor allem, wenn man ihn überhaupt kennt, als Antisemit. Und für Russland ist er sozusagen die Inkarnation der faschistischen Ukraine. Also, eine wahnsinnig komplizierte Figur. Wieso haben Sie ihn verteidigt?
Melnyk:   Ich glaube, es war aus meiner Sicht ein Fehler, sich überhaupt auf diese Diskussion einzulassen. Und aus einem einfachen Grund war das ein Fehler: Weil die Menschen, also, weder hier, noch im Ausland, zum Teil auch in der Ukraine wahrscheinlich noch nicht bereit sind, diese Persönlichkeit von Bandera, aber auch insgesamt das, was im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine geschehen ist, sachlich und faktenorientiert zu diskutieren. Und bei diesem Interview war das aus meiner Sicht leider gar nicht möglich, Dinge zurechtzurücken oder auch Fakten zu liefern. Das war ein Interview, wo ich mich selbst frage: Wieso ist es so weit gekommen, dass dieser Eindruck entstanden ist? Wie ich finde, ein falscher Eindruck. Ich bedauere und das möchte ich auch heute nochmals betonen, wenn durch meine Äußerungen Menschen sich verletzt fühlten - ob in Deutschland oder in Polen, in Israel, vielleicht auch anderswo in der Welt - dass es dazu gekommen ist. Aber ich finde, dass man hier das Feld am besten den Historikern überlassen sollte. Und das ist auch etwas, was ich bemängele, muss ich auch gleich sagen, dass die Historiker, nicht nur jetzt bei diesem Zwischenfall, aber auch seit Jahren, eigentlich selbst schweigen, dass die Historiker … es sind nur ein paar Menschen, die in Deutschland geforscht haben zu diesem Thema, aber sonst kaum jemand. Es gibt eine historische Kommission, wie Sie wissen, eine deutsch-ukrainische.

"Oft wollte ich einfach weg, ja, ins Weltall"

Adler:   Genau.
Melnyk:   Auch da hat man beschlossen, irgendwie gar nichts zu sagen und die Diskussion einzuordnen. Das würde ich mir heute wünschen. Es gab nur einen Artikel von Prof. Hryzak in der FAZ vor ein paar Wochen, wo er auch zu Bandera Stellung genommen hat. Und das war auch interessant. Ich würde auch den Hörern empfehlen, dieses Interview von Prof. Hryzak zu lesen. Aber sonst brauchen wir einen Blick auf diese Gestalt, auf die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine, denn die Ukraine war ja besetzt von Nazi-Deutschland, und zwar komplett. Das ist für mich etwas, was heute zählt.
Adler:   Haben Sie sich irgendwann mal weggewünscht aus Deutschland zu einem bestimmten Punkt? Und, wenn ja, wohin?
Melnyk:   Ja, sehr oft, sehr oft. Wenn die Debatten so hitzig waren, wollte ich einfach weg, ja, ins Weltall oder egal wohin, um mir einfach nicht mehr das alles anhören zu müssen. Diese Debatte, die so schiefläuft sehr oft, bis heute. Aber dann war der nächste Gedanke: Okay, aber was dann? Ich muss wieder zurück. Jemand muss dann doch hier diese Arbeit fortsetzen.
Adler:   Herr Melnyk, ich bedanke mich sehr für das Interview. Wann geht es genau nach Hause?
Melnyk:   Das Datum steht noch nicht fest. Aber es sind noch einige Besuche, die ich vorbereite im September hier in Berlin. Aber wie gesagt, die Sache ist entschieden und ich freue mich jetzt auf die neue Aufgabe, die auf mich zukommt.
*Anmerkung: Im Interview wurden Importe und Exporte verwechselt. Deutschland hat laut Statistischem Bundesamt von Januar bis Juni Waren im Wert von fast 23 Milliarden Euro aus Russland importiert (ein Plus von 51 Prozent). Dagegen gingen die deutschen Exporte nach Russland um 32 Prozent zurück auf fast neun Milliarden Euro.