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Auf der Sturmhöhe der Zeit
Wie Climate Fiction vom aufgeheizten Planeten erzählt

Der Klimawandel stellt auch die Literatur vor Herausforderungen. Wie lässt sich angemessen von der Aufheizung der Welt erzählen? Das Genre der Climate Fiction stellt sich dieser feinfühligen Aufgabe. Unter den Schaffenden gibt es durchaus große Namen – z.B. T.C. Boyle oder Margaret Atwood.

Von Thekla Dannenberg | 13.03.2022
Ein vertrockneter Ast steckt in kahlem Boden unter glühender Sonne im Gegenlicht.
Wie kann man von der Aufheizung der Welt erzählen? (imago images / Martin Bäuml Fotodesign)
Climate Fiction, abgeleitet von Science Fiction und kurz Cli-Fi, stellt seit einiger Zeit diese globalen Fragen an seine Leserinnen und Leser. Nicht als apokalyptisches Schocker-Genre, nicht als Ode an den Untergang, sondern als Literatur, die spekulativ, ökotopisch oder aktivistisch neue Welten auf einem fremd werdenden Planeten erkundet. Unterscheidet sich das vom viel beschriebenen Nature Writing und muss es das überhaupt? Thekla Dannenberg hat einen essayistischen Blick auf das Genre, das Aufmerksamkeit will.

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„Ein intensives Blau, beinahe übernatürlich, das jedoch weder künstlich erzeugt wird, noch Fiktion ist, das Blau des Himmels über der Kasbah, leuchtend, von innen verklärt, ein Blau, das ein Künstler erfunden haben könnte.“
In ihrem Roman Der Reaktor beschreibt die französische Autorin Élisabeth Filhol den Tscherenkow-Effekt, ein physikalisches Phänomen, das im Wasserbecken eines Atomreaktors ein hypnotisierendes Blau entstehen lässt. Das Blau wird umso intensiver, je höher die Radioaktivität um den Brennstoffbehälter ist. Im Wasser eines Abklingbeckens, lernen wir, befinden sich strahlende Partikel, die sich schneller bewegen als Licht im Wasser. Ähnlich wie der Donner beim Durchbrechen der Schallmauer erzeugen diese Partikel einen Schockeffekt:
„Im Wasser ist es ein Lichtblitz im Farbspektrum von blau und ultraviolett.“
Es ist verstörend zu erfahren, welche Schönheit im Inneren eines Druckwasserbehälters herrscht. Filhol beschreibt sie in einer ganz eigenen Mischung aus Wissenschaft und Poesie. Aber noch verstörender ist, mit welcher kühlen Präzision sie die kalkulierende Logik der Atomindustrie offenlegt. Auf gerade einmal 120 Seiten erzählt die Autorin in scharf geschliffenem Stil von den Arbeitskolonnen, die Frankreichs Atomreaktoren warten müssen.

Strahlungsdosis begrenzt die Einsatzfähigkeit der Arbeitenden

Die Arbeiter - meist sind es Schlosser, Elektriker oder abgebrochene Maschinenbaustudenten - werden von Zeitarbeitsfirmen angeheuert, die den Kern des Reaktors säubern, solange er abgeschaltet ist. Sie hangeln sich von einem Monatsvertrag zum nächsten: Im März Chinon, im April Blayais, im Mai Tricastin.
Sie sind gut bezahlt, doch das Risiko liegt ganz allein auf ihrer Seite. Sie dürfen pro Jahr nur einer festgelegten Strahlenbelastung ausgesetzt sein. Wenn sie diese nach dem kleinsten Missgriff überschreiten, dürfen sie nicht weiter beschäftigt werden. Von Monat zu Monat wachsen unter den Arbeitern Anspannung und Müdigkeit und damit auch das Risiko, Strahlung abzubekommen.
Filhol lässt ihren namenlosen Ich-Erzähler nicht nur in kühler Nüchternheit von diesem Alltag berichten, er erklärt auch mit irritierender Selbstverständlichkeit die Hierarchien, die in dieser Sphäre herrschen: Je tiefer die Arbeiter in das gefährliche Reaktorinnere vordringen dürfen, umso mehr verstehen sie es als Auszeichnung. Denn nur den erfahrenen, verlässlichen Angestellten wird diese Arbeit anvertraut.
„Ein Beruf mit Risiken. Warum wagen einige den Sprung und andere nicht? Aus Notwendigkeit, weil sie unter Druck stehen, aber nicht nur das. Was dort drüben im Herzen des Kraftwerks vor sich geht, wird noch andere nach dir faszinieren, das ist eine eigenartige Mischung. Man empfindet eine gewisse Anspannung, eine dumpfe Angst, aber das tut der Faszination keinen Abbruch. Gerade das macht ja den Reiz aus.“
Filhol ist Wirtschaftswissenschaftlerin, sie hat etliche Jahre als Finanzprüferin in der französischen Industrie gearbeitet und Betriebsräte beraten. In ihrem Roman legt sie die menschlichen Kosten der Atomindustrie offen, die junge Männer um lebensgefährliche Jobs rivalisieren lässt. In Frankreich war der Roman bei seinem Erscheinen 2010 ein Schock, auch wenn Filhol mit diesem schmalen Debüt nicht die literarische Kraft eines großen Romans entfalten konnte. Doch ihr Buch sei nicht nur all jenen empfohlen, die der Atomenergie wieder eine Zukunft zusprechen, sondern jenen, die ganz grundsätzlich glauben, Naturwissenschaft und Gesellschaftskritik ließen sich nicht mit Poesie vereinbaren.

Climate Fiction - kein ganz neues Genre

Selbstverständlich haben sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller immer mit Natur und Umwelt beschäftigt, auch mit dem Klimawandel: T.C. Boyle erzählte schon vor 20 Jahren in seinem tragisch-komischen Roman Ein Freund der Erde vom Kampf militanter Umweltschützer in Kalifornien, die an Ignoranz, Heuchelei und Profitstreben scheiterten, auch bei sich selbst.
Margaret Atwood entwarf in Oryx und Crake eine postapokalyptische Welt, in der die letzten Menschen gegen Genmanipulation und ihren Untergang ankämpfen.
Ilija Trojanow wütete in EisTau gegen die irrationale Leugnung der Klimaerwärmung selbst im Angesicht schmelzender Polkappen.
Helon Habila setzte sich in seinem Kriminalroman Öl auf Wasser auf die Spur der Rebellen im Niger-Delta, die gegen die Verschmutzung ihrer Region durch internationale Ölkonzerne kämpften. Es sind populäre Romane, die nicht unbedingt die Literatur revolutioniert haben.
Die Literatur zum Klimawandel wird im englischsprachigen Raum dennoch mit wachsendem Interesse in den Blick genommen und unter den Begriff der Climate Fiction gefasst, mitunter auch unter das knackige Label „Cli-Fi“, in Anlehnung an die Science‑Fiction-Kurzformel „Sci-Fi“. Mit seinen Literaturfestivals hat das Berliner Climate Cultures Network hierzulande Pionierarbeit geleistet und den deutschen Literaturbetrieb aufgerüttelt.
In den gehobenen literarischen Sphären erntet die Frage nach dem großen Klimaroman nur Schulterzucken: Literatur im Dienste der Klimaforschung - was soll dabei schon herauskommen: Oden an den Untergang! Elegien auf die Endzeit! Apokalyptische Klimaschocker. Den großen Wenderoman habe es auch nie gegeben.
Es herrscht Misstrauen gegenüber einem Genre, das bisher vor allem mit der Zukunft umgehen musste. Literatur, die sich mit dem Klimawandel befasst, war bisher ein spekulatives Genre, ob nun prophetisch, dystopisch oder ökotopisch - und allein das macht sie in den Augen der Literaturkritik ein wenig suspekt.
Groß sind auch die Einwände gegen die engagierte Literatur: Politik tut der Ästhetik nicht gut, und eine Literatur, die auch positive Rollenmodelle vor Augen führen möchte, gerät schnell in den Verdacht von Agit-Prop, Predigertum und Pamphletismus. Und niemand möchte in der Literatur denselben Wust an Klima-Daten und apokalyptischen Szenarien vorgehalten bekommen, der schon in den Medien keine Wirkung entfaltete. Auch literarisch betäubt die Katastrophe die Sinne.
Aber vielleicht ist es ja genau umgekehrt: Vielleicht geht die planetare Krise, der die Menschheit gegenübersteht, an den Elfenbeintürmen der Literatur vorbei.
Denn der Klimawandel mag in seinen globalen Auswirkungen noch nicht spürbar sein. Vieles steht uns jedoch auch jetzt schon vor Augen: Kohle, Gas und Öl haben der Menschheit immensen Wohlstand beschert und unsere Kultur bis ins Innerste geprägt. Wenn dieses fossile Zeitalter nun an sein Ende gerät, müsste sich das doch auch in der Literatur niederschlagen. Schließlich erwärmt sich nicht nur das Klima, auch die Gesellschaft heizt sich auf. Aber den großen Roman zur Klimakrise sucht man vergeblich.
Im Zentrum der Literatur zeigt sich eine Leerstelle. Doch von den Rändern her arbeiten etliche Autorinnen und Autoren daran, diese Leerstelle zu füllen. Richten wir also den Blick auf die Peripherie: Auf außereuropäische Erzähltraditionen, die ganz anders mit Zeit, Raum und Natur umgehen; das Nature Writing, das eine intime Verbundenheit mit der Natur schafft, und die Science-Fiction, die darauf drängt, sich mit den Theorien und Technologien von morgen zu beschäftigen.
Der indische Schriftsteller Amitav Ghosh warf 2016 in seinem Buch Die große Verblendung die Frage auf, warum der Klimawandel die Politik mehr beschäftige als die Literatur. Gerade die Literatur sollte uns doch dabei helfen, den Blick auf die Welt zu schärfen, die Gegenwart zu verstehen und unser eigenes Handeln zu hinterfragen. Ghosh konstatierte einen grundsätzlichen Widerstand gegen das Thema, den er sich nicht allein mit der Abneigung gegenüber dem Didaktischen oder dem Thematischen erklären wollte. Er stellte die These in den Raum, dass der Roman als bürgerliche Gattung einfach ungeeignet sei, um den Klimawandel in seiner Heftigkeit und globalen Dimension zu erfassen.
„Sind die Strudel der globalen Erwärmung zu wild, um mit den gewohnten Barken der Narration navigiert werden zu können? Dabei ist die inzwischen weithin akzeptierte Wahrheit doch, dass ‚wild‘ in unserer Zeit zur Norm wurde. Wenn bestimmte literarische Formen außerstande sind, durch diese Wildwasser zu navigieren, dann werden sie Schiffbruch erleiden - und in diesem Scheitern wird man ein tieferes Versagen von Imagination und Kultur im Zentrum der Klimakrise erkennen müssen.“
Ghosh zufolge fällt es dem Roman schwer, Ereignisse zu erzählen, die sich über Jahrzehnte hinweg und den gesamten Planeten erstrecken. Der Roman ist nicht nur dem Ort und dem Alltäglichen verbunden, er hat auch das Unwahrscheinliche ebenso gebannt wie die Naturgewalt. Da kann er nicht auf einmal wieder von Wirbelstürmen in New York oder untergehenden Städten erzählen.

Erzählerische Fokussierung auf das Individuum als Hindernis

Hinderlich für das Erzählen vom Klimawandel ist Ghosh zufolge auch, dass der Roman den Fokus auf das Individuum legt. Als müsste der Roman seit Don Quijote immer wieder das Abenteuer des einzelnen Menschen erzählen, der sich gegen die Gesellschaft stellt. Die Klimakrise betreffe nicht den einzelnen Menschen, sondern die Menschheit. Um ihn zu bekämpfen, brauche es nicht imposante Individuen, sondern funktionierende Kollektive. Der Klimawandel ist auch ein Phänomen der großen Zahl.
Das neue Erzählen, prophezeit Ghosh, wird aus Indien kommen. Dort leben die Menschen, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sein werden, von der Wüstenbildung im Landesinneren und dem Meeresanstieg an den Küsten. In Asien wissen die Menschen, dass ihre großen Hafenstädte unbewohnbar werden: Mumbai und Kolkata, Bangkok und Hongkong wurden von Europas imperialen Großmächten direkt an der Meeresküste errichtet, während die Europäer selbst ihre Häfen - London, Lissabon oder Amsterdam - stets geschützt den Fluss hinauf bauten. Indonesien hat schon angekündigt, seinen Regierungssitz von Java nach Borneo zu verlegen: Jakarta, die Megametropole mit 30 Millionen Einwohnern droht nicht nur im Verkehr zu ersticken, sondern auch im Meer zu versinken.
Für das neue Erzählen aber könnte entscheidend sein, meint Amitav Ghosh, dass die alten indischen Erzähltraditionen mühelos eine lange Zeitdauer und multiple Universen umspannen können. Indische Epen wie die Mahabharata haben stets auch der Natur ihren Platz eingeräumt, auch das nicht-menschliche Leben und die unbelebte Natur spielten darin schon immer einen wichtigen Part, ganz wie es heute auch die postmodernen Theorien von Bruno Latour oder Timothy Morton sehen, die ebenfalls der unbelebten Natur Handlungsmacht zusprechen.
Ghosh weiß, dass auch in Indien der Klimawandel die Menschen nur mäßig bewegt. Und selbst die große Essayistin und Schriftstellerin Arundhati Roy hat ihn bisher nicht literarisch in Form gebracht. Dabei wäre es bestimmt schön, wenn die indische Literatur uns beibringen könnte, wie ein Wald zu denken.

Nature Writing - Mit dem Ohr in der Landschaft

Mit ganz anderen Strategien arbeitet das Nature Writing. Die britische Wissenschaftshistorikerin Helen Macdonald ist eine Meisterin dieser etwas nostalgischen Disziplin. Nature Writing lehrt, das weiche Schweigen eines Winterwaldes zu spüren, die Lebendigkeit einer Sommerwiese oder die aromatische Würze der Herbstluft. Macdonald beweist in ihren Essayband Abendflüge eine bewundernswerte Sensibilität gegenüber allem natürlichen, nicht-menschlichen Leben. Sie beschwört die Magie der Mauersegler, sie meditiert über das Pilzesammeln oder begleitet die Zählung der königlichen Schwäne auf der Themse.
Helen Macdonald war, wie sie in ihren Essays offenbart, ein introvertiertes Kind, sensibel und einzelgängerisch. Aufgewachsen im eigentlich behüteten Süden Englands fühlte sie sich in der Schule dennoch weniger wohl als unter Vögeln, Insekten und Schmetterlingen:
„In vielen unserer Geschichten über die Natur geht es darum, uns mit ihr zu messen, uns gegen sie abzusetzen, unsere Menschlichkeit im Unterschied zu ihr zu definieren. Doch meine Zeit auf der Wiese hatte nichts von all dem. Sie war der Blick des Kindes auf die Natur: eines Kindes auf der Suche nach Nähe und Kameradschaft.“
Das Zarte und Intime von Macdonalds Naturerfahrung ist berührend, sie überträgt sich beim Lesen unmittelbar durch die Schönheit ihrer Prosa. Sich im Einklang mit der Natur zu spüren, verschafft dem Menschen Trost. Man liest Macdonalds Essays gern, weil sie innerste menschliche Bedürfnisse ansprechen, sie verfeinern die Wahrnehmung und lassen teilhaben an Schönheiten, die nicht besessen werden können.
Aber sie zeugen auch von einer Art höherer Weltabgewandtheit. Aus ihnen spricht nicht nur eine sensible Naturkundlerin, sondern auch eine Literatin, die andere Menschen scheut, vor allem in größerer Zahl:
„Wer mit dem britischen Fernsehen der 1970er und 1980er Jahre aufgewachsen ist, weiß schon, warum er Massen meiden sollte. Politische Demonstrationen, Rockfestivals, Krawalle: Sie alle machten aus demselben Grund Angst, aus dem sich Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts vor Sonnenfinsternissen fürchteten. Sie bewirkten, dass man sich selbst vergaß.“
Allein in der Natur zu sein, erkennt Macdonald, ist eine wunderbare Art, anderen Menschen aus dem Weg zu gehen:
„Es ist beruhigend, die Welt einzig mit den eigenen Augen zu sehen. Man kann eine Landschaft betrachten und sie von Dingen bevölkert sehen - Bäume, Wolken, Hügel und Täler -, die nur die Stimme haben, die man ihnen in der eigenen Vorstellung gibt. Und keine davon kann anfechten, wer man ist. Für uns ist die einsame Kontemplation häufig schlicht die ‚richtige‘ Art, uns mit der Natur zu beschäftigen. Doch sie ist immer auch ein politischer Akt, da sie uns vom Druck anderer Vorstellungen, anderer Interpretationen, eines anderen, widerstreitenden Bewusstseins befreit.“
Im Nature Writing sucht und findet der einzelne Mensch den Einklang mit der Natur. Dieses Schreiben schöpft seine Stärke aus seiner Intimität, seinem genauen Blick und seiner sprachlichen Präzision. Dies gilt mehr noch für deutsche Autorinnen wie Esther Kinsky und Ulrike Draesner, die sich in ihren lyrischen Naturerkundungen mit sprachlichem Präzisionswerkzeug in die geologisch-historischen Tiefenschichten des Anthropozäns vorbohren. Doch die Fragen nach der Zukunft des Planeten sind zu groß für diese intime Literatur.
Für die Fragen nach der Zukunft ist die Science-Fiction zuständig, und tatsächlich zeigt sich hier ein Schreiben, das deutlich konsequenter und leidenschaftlicher den Klimawandel behandelt als die eher populäre Literatur von T.C. Boyle und Margaret Atwood.
Bereits vor 60 Jahren imaginierte die Science-Fiction das Leben auf dem erhitzten Planeten - noch bevor die Umweltbewegung entstand, bevor der Club of Rome Die Grenzen des Wachstums aufzeigte oder die UN-Konferenz zur Bewahrung der Umwelt des Menschen aufrief. 1962 ließ der britische Autor JG Ballard seinen Roman Die Flut mit dem heute legendär-lakonischen ersten Satz beginnen: „Bald würde es zu heiß sein.“
Sonnenstürme haben in diesem Roman den Planeten ins triadische Zeitalter zurückgeworfen: Immense Temperaturen und ein gestiegener Meeresspiegel haben Europa in ein tropisches, vom Dschungel überwuchertes Lagunensystem verwandelt, die Menschheit ist dezimiert, die überlebenden fünf Millionen Menschen haben sich nach Grönland zurückgezogen. Nur ein kleiner Kreis von Londoner Wissenschaftlern harrt in den verlassenen Wolkenkratzern der überschwemmten Metropole aus.
Nicht nur die Tierwelt ist von einer Gegenevolution erfasst. Auch die Menschen scheinen sich zurückzuentwickeln. Nachts werden sie von Dschungelträumen erfasst, die so faszinierend wie erschreckend sind und voller halluzinatorischer Kraft. Oder sind es Erinnerungen?
Die terrestrischen und psychischen Landschaften verschmelzen bei Ballard ins Fantastische. Nacht für Nacht begeben sich die Menschen auf Traumreise durch die geophysische Zeit, immer der inneren Sonne entgegen. Aber auch wenn Ballards Psychogeografie ein wenig exaltiert anmutet, führt er einen Punkt sehr plastisch vor Augen: Im Angesicht der Katastrophe ist auch entscheidend, wie sich der einzelne Mensch verhält. Kämpft er gegen das Geschehen, ignoriert er es, passt er sich an - oder schlägt er Vorteil daraus? Bei Ballard wird uns die Wissenschaft nicht vor der eigenen Versumpfung retten.
Die Science-Fiction steht bei der Literaturkritik nicht sonderlich hoch im Kurs, als Genre fristet sie ein Nischendasein. Hier wird permanent die Zukunft entworfen und das Überleben der Zivilisation gesichert. Aber in den wirklich visionären Science‑Fiction‑Romanen werden nicht die Technologien von morgen diskutiert, sondern Menschen neu in Beziehung zueinander gesetzt.
Die Romane des amerikanischen Science-Fiction-Autors Kim Stanley Robinson sind dafür Musterbeispiele. Der 70-jährige Robinson ist ein intellektueller, reflektierter Autor, in sein Schreiben fließen die avantgardistischen Erzähltheorien des sowjetischen Literaturtheoretikers Michail Bachtin ebenso ein wie die Schriften der kalifornischen Visionärin Ursula Le Guin. Das Ministerium für die Zukunft heißt Robinsons neuester Roman, er ist Welterkundung, Wissenschaftsdiskurs und politisches Manifest in einem. Er ist ganz auf der Sturmhöhe der Zeit.
Die Handlung des Romans beginnt im Jahr 2025, die Vereinten Nationen haben in Zürich eine Behörde eingerichtet, die endlich das Pariser Klimaabkommens durchsetzen soll, der Einfachheit halber nennen sie diese UN-Behörde das „Ministerium für die Zukunft“. Mary Murphy leitet dieses Ministerium, als Figur ist sie angelehnt an die realen Klimapolitikerinnen Laurence Tubiana und Christiana Figueres, die das Pariser Klimaabkommen möglich gemacht haben.
Kaum ist im Roman Zukunftsministerin Mary Murphy im Amt, wird Indien von einer erschütternden Hitzewelle heimgesucht, die 20 Millionen Menschen das Leben kostet. Indien revoltiert. An die Regierung gelangt die Partei mit dem hoffnungsvollen Namen „Möge die Einheit lange währen!“, sie schafft das Kastensystem ab, verstaatlicht die Energieunternehmen und baut riesige Solarparks. Zugleich gründen sich aber auch die Children of Kali, eine Terrorgruppe, die Rache nehmen will für die Millionen Toten. Der amerikanische Arzt Frank May überlebt die Hitzewelle schwer traumatisiert. Er schlägt sich nach Zürich durch und bringt Mary Murphy zum Umdenken: Sie gründet in ihrem Ministerium eine Abteilung für verdeckte Operationen. Ihre Mitglieder sabotieren Kohlekraftwerke und nehmen das Weltwirtschaftsforum in Davos als Geisel, um ihm eine revolutionär-antikapitalistische Umerziehung aufzubrummen. Der Drohnenangriff auf den internationalen Flugverkehr geht aber auf das Konto der Children of Kali.
Die erzählerischen Passagen um Frank und Mary bilden nur den Hauptstrang in diesem üppigen Romangeflecht. Robinson verknüpft darin ganz unterschiedliche Perspektiven, Stile und Erzählweisen: Dramatische Passagen wechseln sich ab mit Augenzeugenberichten, Sitzungsprotokollen, Wikipedia-artigen Einträge, Parabeln und Rätseln. Zu Wort kommen indische Bauern oder Fischer auf thailändischen Sklavereibooten, Minenarbeiter in Namibia, Flüchtlinge in Schweizer Aufnahmelagern oder Wissenschaftler, die gegen Abgleiten des Thwaites-Gletschers in der Antarktis kämpfen. Es sind Kollektive, die Robinsonhier mit einer erzählerischen Stimme sprechen lässt. Ebenso gibt er abstrakten Phänomenen eine Stimme: der Blockchain-Technologie, dem Markt, der Geschichte.
„Alle, die etwas tun in der Welt, machen mich. Ich bin das Blut auf den Straßen, die Katastrophe, die unvergesslich bleibt. Ich bin der Strom unter der Welt, den keiner sieht und fühlt. Ich passiere in der Gegenwart, aber werde in der Zukunft erzählt, und dann glauben sie, von der Vergangenheit zu sprechen, obwohl es immer nur um die Gegenwart geht. Ich existiere nicht und bin trotzdem alles. Ihr wisst, wer ich bin. Ich bin die Geschichte. Und auf euch kommt es an, ob ich gut werde.“
Robinsons 700-seitiger Monumentalroman überwältigt durch seine Direktheit, die unverblümte Wut, das Unmäßige. Robinson sammelt alles, was in Theorie und Aktivismus gerade angesagt ist: Er stellt die spanische Kooperative Mondragón vor, die mit knapp 75.000 Mitarbeitern Spaniens siebtgrößtes Unternehmen ist und dabei gänzlich genossenschaftlich organisiert. Er macht sich für die Projekte der indischen Umweltaktivistin Vandana Shiva stark, die als Frauenrechtlerin und promovierte Physikerin die ökologische Landwirtschaft in Indien vorantreibt. Zugleich setzt er aber auch auf Geo‑Engineering, also sehr umstrittene Eingriffe in die klimatischen Kreisläufe der Erde, um etwa die CO2-Konzentration in der Luft zu senken oder die Sonnenstrahlung abzulenken. Technologie, meint Robinson, der Kalifornier, sei kein kapitalistisches Komplott, wir brauchen sie, allein schon um das Schmelzen der Gletscher aufzuhalten.
Der Roman greift eine Unmenge von wissenschaftlichen, politischen und theoretischen Konzepte auf, Robinson verlangt einem intellektuell durchaus einiges ab. Aber die alles dominierende Frage ist, welcher Widerstand möglich und nötig ist, welche Formen er annehmen kann und von wem er ausgehen muss. Vor allem die Überlegungen des schwedischen Humanökologen Andreas Malm haben in diesem Roman ihre Spuren hinterlassen.
Malm hat sich mit seinen radikalen Schriften zum Vordenker eines sich radikalisierenden Diskurses gemacht: In seinem radikal-ökologischen Manifest Wie man eine Pipeline in die Luft jagt hält Malm die friedlichen Klimaproteste von Fridays for Future für unzureichend, da sie bisher weder Politik noch Wirtschaft zu der notwendigen Fundamentalumkehr bewegt hätten. Der Klimawandel zeigt in Malms Augen auf geradezu Schrecken erregende Weise, dass die reale, materielle Welt doch noch eine Rolle spielt, wie auch die Zeit. Der Sturm, der heute tobt, wurde vor Jahren schon erzeugt, und er weht, egal ob wir ihn messen.
Doch das Denken der Postmoderne hat die Natur- und die Geisteswissenschaften voneinander entfernt. Diese Kluft lässt sich literarisch nicht so einfach überwinden, auch wenn die Naturwissenschaftler noch so freimütig einräumen, dass sie mit ihrem Latein am Ende sein: Alle Zahlen und Fakten liegen auf dem Tisch, und doch können sich die wenigsten Menschen durchringen, dem rationalen Erkennen auch ein Handeln folgen zu lassen. Da müssen die Fachleute für das Imaginieren ran.
Vielleicht kann die kalifornische Science-Fiction-Autorin Ursula Le Guin weiterhelfen, die zweite Denkerin, an der sich Kim Stanley Robinson so erkennbar orientiert. Die 2018 gestorbene Schriftstellerin hatte ihr Leben lang aus einem feministischem Geist heraus daran gearbeitet, das Genre von seinen militaristischen und imperialen Ideologien zu befreien, neue Erzählverfahren zu entwickeln, die Zukunft als Vorstellungsraum zu eröffnen: Technologie soll bei ihr nicht der Bequemlichkeit dienen oder der Unterwerfung der Erde, sondern dem Fortschritt der Menschheit.
Le Guin versuchte mit der berühmten „Tragetaschentheorie des Erzählens“ von 1989 der alten Legende etwas entgegenzustellen, nach der das erste Werkzeug der Menschheit ein Knochen war, der sich als Waffe eignete und damit die Zivilisation in die Zukunft und ins Weltall beförderte - ganz wie in Stanley Kubricks Film 2001. Das erste Werkzeug könnte ja auch ein Beutel gewesen sein, wirft Le Guin ein, mit dem man Hafer, Wurzeln und Beeren sammeln konnte, was eine sehr sinnvolle, aber zugegeben etwas langweilige Tätigkeit gewesen sei. Und nur weil die Mammutjäger immer wieder Geschichten vom Jagen, Schlagen und Töten mitgebracht hätten, haben wir heute so eine gleichförmige Erzähltradition:
„Nur zu, sage ich, während ich in Richtung des wilden Hafers davonziehe, mit Oo Oo im Tragetuch und der kleinen, ein Körbchen tragenden Oom an meiner Seite. Erzählt nur weiter davon, wie das Mammut auf Boob fiel und wie Kain über Abel herfiel und wie die Bombe auf Nagasaki fiel und wie brennendes Napalm auf die Dorfbewohner fiel und wie die Lenkflugkörper auf das Imperium des Bösen fallen werden und von all den anderen Entwicklungsstufen im Aufstieg des Menschen.“
Ganz wie es der „imperialen Natur des Helden“ entspreche, habe er auch im Roman die Macht an sich gerissen, obwohl dies im Kern eine unheroische Form des Erzählens sei. Der Held hat ihn zu einer Killergeschichte gemacht, ärgert sich Le Guin, als wäre die einzige legitime Erzählform die Flugbahn eines Pfeils, die ‚hier‘ beginnt, nach ‚dort‘ führt und, zack!, ihr Ziel totschießt - Stattdessen könnte man die Menschen und ihre Befindlichkeiten ja auch zusammenbringen.
Und schließlich kann Ursula Le Guin auch in einer weiteren Hinsicht den Weg weisen. Denn sie glaubte sowohl an die Poesie wie auch an die Naturwissenschaft: Sie bemerkt:
„Die Naturwissenschaften beschreiben akkurat von außen, die Poesie beschreibt akkurat von innen.“
Bei Le Guin sind es gerade die Naturwissenschaften, die unbegründete Meinungen, Ideologien und Vorurteile widerlegen und unsere moralischen Empfindungen steigern. Die Poesie schaffe auf der anderen Seite Verbundenheit durch Schönheit.
„Die Naturwissenschaften deuten hin, sie explizieren - die Poesie deutet an, sie impliziert. Beide feiern das, was sie beschreiben. Wir brauchen die naturwissenschaftliche ebenso wie die poetische Sprache, um nicht bloß endlos Informationen anzuhäufen, die ganz und gar nicht dazu beitragen, unsere Ignoranz und Verantwortungslosigkeit entgegenzuwirken.“
Ursula Le Guin, Kim Stanley Robinson, Amitav Ghosh, Helen Macdonald oder Élisabeth Filhol weisen auf, wie sich Naturwissenschaft und Poesie verbinden lassen, sie lehren Sensibilität gegenüber dem nichtmenschlichen Leben und proben neue Erzählverfahren. Vor allem aber richten sie unseren Blick auf diejenigen, die bisher außerhalb unserer Wahrnehmung standen - im Inneren des Reaktors, vor dem wilden Hafer oder mit den Füßen im Wasser.