Spätestens am Donnerstag (19.07.22) sollte die turnusgemäße Wartung der Nord-Stream-1-Pipeline beendet sein. Doch es nicht sicher, ob dann auch wieder russisches Gas nach Deutschland fließen wird. Die Entscheidung darüber dürfte letztlich der russische Präsident Wladimir Putin treffen. Deshalb werden aktuell Szenarien durchgerechnet, ob und wie Haushalte und Industrie in Sachen Gas über den Winter kommen.
"Regierung hat Enormes geleistet"
Der Ökonom Rüdiger Bachmann von der US-Universität Notre Dame (Indiana) lobte im Dlf insbesondere Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und sein Team für deren Engagement, um zusätzliches Gas für Deutschland zu beschaffen. Die Bundesregierung habe dort "Enormes geleistet". Dazu gehöre unter anderem die Bereitstellung von LNG-Flüssiggas-Terminals. Positiv sei auch, dass die deutschen Haushalte bereits etwas sechs Prozent Gas eingespart hätten, so der Ökonom.
Gleichzeitig kritisierte Bachmann, dass diese Bemühungen deutlich zu spät eingesetzt hätten: "Wo immer Gas benutzt wird, das hat man nicht früh genug eingeschränkt, sowohl auf der Haushaltsseite als aber auch auf der Industrieseite. Wir haben viel zu lange Gas für alle möglichen Dinge benutzt, wo man in einer Krisensituation vielleicht Gas lieber nicht benutzt hätte." Man hätte bei der Gas-Nachfrage bereits im März oder April Anpassungsmaßnahmen ergreifen müssen. "Dann stünde man jetzt besser da", so Bachmann.
"Verstromung von Gas sofort beenden"
Zu möglichen konkreten Verzichten, die die Bevölkerung leisten müsse, sagte der Ökonom, dass aktuelle Simulationsrechnungen zwei Szenarien erlaubten. Einmal könnte es demnach im Winter zu Gasrationierungen kommen, das andere Mal nicht. Beides sei möglich. Wichtig sei jetzt, sofort die Verstromung von Gas zu beenden. Auch Maßnahmen wie begrenzte Öffnungszeiten von Supermärkten oder Behörden brachte Bachmann ins Spiel.
Das Interview im Wortlaut:
May: Ist die Panik in Deutschland immer noch übertrieben?
Bachmann: Na ja, das kommt darauf an. Ich will mal damit anfangen zu sagen, dass ich eigentlich schon seit Wochen und seit Monaten aufgehört habe, für das Embargo zu werben, schlicht und ergreifend, weil die Politik entschieden hat in Deutschland (und es gebührt in demokratischen Staaten der Respekt vor den gewählten Repräsentanten, wenn die mal entschieden haben, dass man das auch als Wissenschaftler akzeptiert). Insofern ist diese Gas-Embargo-Debatte schon deshalb ein bisschen älter und es haben sich auch ein paar Dinge verändert. Es haben sich ein paar Dinge zum Guten verändert. Die Speicher sind sicher voller, als das der Fall gewesen wäre, hätten wir im März oder im April ein Gas-Embargo gemacht. Dazu kommt auch, dass Robert Habeck und sein Ministerium, sein Team sehr viel zusätzliches Gas beschafft haben, so dass die Gaslücke schon lange nicht mehr so groß ist, wie sie im März noch war. Auf der anderen Seite haben wir auch wertvolle Zeit verloren. Die Anpassungsmaßnahmen sind nicht ergriffen worden auf der Nachfrageseite. Wenn man die schon im März oder April ergriffen hätte, stünde man jetzt schon besser da. Und man hat möglicherweise auch strategische Vorteile verloren. – Es gibt positive und negative Aspekte der Strategie der Bundesregierung.
"Positive und negative Effekte der Strategie der Bundesregierung"
May: Sie sagen, die Situation wäre nicht unbedingt noch viel ernster, wenn Deutschland schon von sich aus im März das Gas gekappt hätte?
Bachmann: Darüber kann man letztlich nur informiert spekulieren. Wie gesagt, es gibt positive Effekte der Strategie der Bundesregierung, aber auch negative Effekte. Ein wichtiges Element unserer Aussage, warum es möglicherweise nicht so schlimm ist, ist die Tatsache, dass damals noch, je nachdem wie man rechnet, wann der Winter genau losgeht, sechs Monate auf jeden Fall noch, vielleicht auch ein bisschen mehr Zeit gewesen wäre, viele Dinge umzustellen, sowohl in Industrieprozessen, aber auch in den ganzen Wertschöpfungsketten, wo man gasintensive Produkte stärker auf dem Weltmarkt hätte einkaufen können. Das braucht alles Zeit, solche Sachen umzustellen. Auch die Haushalte hätten mehr Zeit gehabt, vielleicht doch noch die eine oder andere Wärmepumpe einzubauen, zu isolieren und so weiter. Diese Zeit hat man ein bisschen verschlafen und versucht, das jetzt sehr schnell nachzuholen, denn das wird ja versucht zurzeit. Diese Maßnahmen bleiben aber wichtig.
May: Sind wir nicht schon mitten dabei, seit Monaten das zu machen, nur noch mit dem Puffer von russischem Gas? Wir hören ja, dass die deutschen Haushalte beispielsweise schon Gas eingespart haben, ebenso wie die Industrie.
Bachmann: Über den Preismechanismus in der Tat. Das ist richtig. Die Haushalte haben etwa sechs Prozent Gas eingespart. Das ist sehr gut. Nun ist das im Sommer auch noch mal ein bisschen was anderes. Aber wir haben auch viele Dinge nicht gemacht. Wir haben zum Beispiel keine Gasverstromung aufgehört. Es wird immer noch Gas verstromt. Das ist zum Beispiel eine Sache, die wir nicht gemacht haben. Es geht erst langsam los. Jetzt im Sommer hat man damit angefangen. Wenn man sich zum Beispiel die Außenhandelsstatistik anschaut, ist klar, dass chemische Produkte und chemische Vorprodukte verstärkt importiert werden. Offensichtlich haben die Unternehmen es langsam kapiert, dass man möglicherweise gasintensive Zwischenprodukte auf dem Weltmarkt erwerben sollte. Aber das ist eine sehr, sehr kurze Entwicklung. Da hat man drei, vier Monate gut verschlafen, nur um mal zwei Beispiele zu nennen.
"Es hat zu lange gedauert, bis die Politik aktiv geworden ist"
May: Kommen wir noch mal zur Gasverstromung. Kann man das so einfach machen, per Knopfdruck auf Gasverstromung verzichten?
Bachmann: Per Knopfdruck wird es nicht gehen, aber deswegen sagen wir ja schon seit März, dass man das anfangen müsste. Das ist auch übrigens Konsens. Ich glaube, da gibt es keinen wirklichen Widerspruch. Aber es dauert einfach zu lange, meiner Meinung nach, bis die Politik hier aktiv geworden ist.
May: Wie beurteilen Sie insgesamt die bisherigen Bemühungen der Bundesregierung, sich von Russlands Gas unabhängig zu machen?
Bachmann: Das ist eine Tale of Two Story, eine Geschichte, die zwei verschiedene Aspekte hat. Auf der Angebotsseite, neues Gas nach Deutschland zu bringen, hat die Bundesregierung Enormes geleistet, oder viel mehr geleistet – und wir waren ja ein interdisziplinäres Team mit zwei Energie-Ökonomen darin, die sich da viel besser auskennen -, als selbst die Spezialisten damals für möglich gehalten hatten. Gas von Norwegen zu bekommen, Gas von den Niederlanden zu bekommen, mit anderen Gaslieferanten das auszuhandeln, da haben die wirklich Enormes geleistet, und deswegen ist, zusammen mit der Füllmenge, die Gaslücke auch viel geringer geworden gegenüber März. Das ist die eine Sache. Da hat die Bundesregierung, würde ich sagen, die Erwartungen tatsächlich übererfüllt und insbesondere auch Habeck mit seinem Team, auch zum Teil das Kanzleramt.
Was man zum Beispiel auch geschafft hat: Im März konnte man noch nicht damit rechnen, dass diese Flüssiggas-LNG-Terminals online gehen werden. Es heißt, wenn man den Ausführungen der Bundesregierung beziehungsweise der Presse glaubt, dass das im Winter schon stattfinden wird. Jedes dieser Flüssiggas-LNG-Terminals, sagen mir Energie-Ökonomen, reduziert noch mal fünf Prozentpunkte in dieser Gaslücke. Wenn das erste im Winter, etwa im Dezember in Wilhelmshaven online gehen sollte, reden wir nur noch von einer 25prozentigen Gaslücke, und so weiter und so fort. – Das ist die eine Seite.
Die andere Seite ist die Nachfrageseite. Wo immer Gas benutzt wird, das hat man nicht früh genug eingeschränkt, sowohl auf der Haushaltsseite als aber auch auf der Industrieseite. Wir haben viel zu lange Gas für alle möglichen Dinge benutzt, wo man in einer Krisensituation vielleicht Gas lieber nicht benutzt hätte.
"Industrie könnte mehr gasintensive Produkte importieren"
May: Dann geben wir mal Butter bei die Fische. Angenommen der Worst Case tritt ein, Russland liefert kein Gas mehr. Dann haben wir – Sie haben es gerade gesagt – eine Gaslücke von 25 Prozent, je nachdem wie das mit den LNG-Terminals im Winter klappt. Wo müsste Deutschland auf jeden Fall verzichten?
Bachmann: Ich denke, die Haushalte – da hat Robert Habeck völlig recht – werden ihren Beitrag leisten müssen. Bei einem Grad sind es ungefähr sechs Prozent Gas. Bei zweieinhalb Grad in älteren Wohnungen wird man auf 15 Prozent Gas kommen. Das wird nicht ganz reichen. Es müssen ja alle im Schnitt 20, 25 Prozent im besten Falle beitragen. Das heißt, die Industrie müsste ein bisschen mehr beitragen. Das kann man machen durch noch verstärktere Importe gasintensiver Produkte wie Stahl, Aluminium etc. Und dann kommt es auf die Schärfe des Winters an, ob man dann ganz knapp an einer Gaslücke, an Rationierungen vorbeischrammen wird oder doch zu Rationierungen kommt. Die Simulationsrechnungen erlauben zurzeit beide Szenarien. Das kommt ein bisschen auf Details an. Letztlich weiß es keiner. Aber wir müssen jetzt alles versuchen, die Verstromung so schnell wie möglich aufhören, ein Isolierungsprogramm einführen. Da gibt es unglaubliche Tipps, einfach zum Obi zu gehen oder zu irgendeinem anderen Heimwerkermarkt, was man selber noch machen kann, um seine Wohnung wärmer zu halten. Und dann wird man vermutlich auch um regulatorische Dinge nicht herumkommen. Es kann durchaus sein, dass man über Dinge nachdenken muss – das kann man im Winter schnell machen -, müssen wir die Öffnungszeiten aller Supermärkte so lange aufhaben.
"All hands on deck! Die Lage ist ernst"
May: Müssen Schwimmbäder und Sporthallen beheizt sein.
Bachmann: Genau. Gerade in den Morgen- und Abendstunden wird es besonders kalt. Das heißt, Heizen ist besonders teuer. Kann es sein, dass wir vielleicht die Behörden einen Tag zumachen, dass man Freitags nicht auf die Behörde kann, weil die von zuhause arbeiten, und solche Dinge, weil die ja auch beheizt werden müssen. Da wird man kreativ sein müssen. All Hands on Deck! Die Lage ist ernst und wenn es besser wird, dann ist es umso besser.
May: Würden AKW-Laufzeitverlängerungen – große Debatte gerade in Deutschland – substanziell etwas bringen?
Bachmann: Dazu möchte ich mich, ehrlich gesagt, nicht äußern, und zwar aus dem einfachen Grund, dass ich als Ökonom diese Debatte nicht wirklich beurteilen kann. Für mich werden dort zum Teil Nebelkerzen von beiden Seiten aufgeworfen und ich verstehe auch nicht, sind es hauptsächlich juristische oder technische Gründe. Da wünschte man sich manchmal etwas stärkere Führung, auch politische Führung, die das klarer macht. Ich begrüße allerdings – das ist die neueste Meldung von bei mir heute Abend auf Twitter -, dass das BMWK noch mal nachrechnen will und noch mal schärfere Szenarien prüfen will, was die Gasmangellage angeht, ob das nicht doch was bringt.
Ein Argument gilt jedenfalls nicht: zu sagen, wir haben kein Stromproblem. Das Stromproblem kann kommen, wenn wir ein Gasproblem haben, weil die Leute dann zum Beispiel elektrisch heizen, mit einem Heizstrahler zum Beispiel, und dann kriegen wir auch ein Stromproblem. Insofern hilft zusätzlicher Strom auf jeden Fall.
"Sind durch Energieabhängigkeit von Russland ärmer geworden"
May: Herr Bachmann, uns rennt schon wieder ein bisschen die Zeit davon. Eine Frage möchte ich Ihnen trotzdem noch stellen. Wie würden Sie als Ökonom die Einschnitte für die Bürgerinnen und Bürger, die auf jeden Fall kommen werden, abmildern? Wir rechnen mit dreifach bis vierfach erhöhten Energiepreisen.
Bachmann: Es ist völlig klar, Sie haben völlig recht, was begriffen werden muss und wo ich mir auch noch viel mehr politische Führung erwarten würde – Robert Habeck ist vielleicht der einzige, der das einigermaßen zu machen versucht -, den Deutschen muss klar werden, dass sie durch diesen Krieg und durch die selbstverschuldete Energieabhängigkeit von Russland ärmer geworden sind. Am Ende des Tages wird jemand ärmer sein. Die Politik kann versuchen, den Impact dieses ärmer werdens etwas umzuverteilen zwischen den Gruppen, und da wird man sich schon überlegen müssen, ob das die Ärmsten der Ärmsten, die Hartz-IV-Empfänger sein sollten. Vermutlich nicht, obwohl das letztlich eine politische Entscheidung ist. Das kann der Ökonom ja nicht entscheiden. Oder die stärkeren Schultern, die obere Mittelklasse, die am Ende das über höhere energiepreise, über höhere Gaspreise, die bei ihnen dann nicht ausgeglichen werden, oder ganz klar über höhere Steuern am Ende bezahlen wird.
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