Freitag, 29. März 2024

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Spurensuche BRD-Rüstungsskandal
Die Kairo-Decke (2/2)

Eine Berliner Filmkuratorin auf den Spuren ihrer Familiengeschichte in Kairo spürt eine Affäre um deutsche Rüstungsexperten auf. Eine internationale politische Auseinandersetzung in den sechziger Jahren zwischen Ägypten, Deutschland und Israel.

Von Stefanie Schulte Strathaus | 16.10.2022
Blick auf den Kairoer Stadtteil Zamalek im Mai 2022
Im Kairoer Stadtteil Zamalek wohnten in den 1960 Jahren deutsche Experten mit ihren Familien, so auch die Familie von Stefanie Schulte Strathaus (IMAGO / Westend61 / IMAGO / A. Tamboly)
„Ich habe Kairo - zufällig - an einem Wendepunkt der Geschichte kennengelernt“, schreibt die Autorin und Filmkuratorin Stefanie Schulte Strathaus. 2010 war sie einer Einladung des Goethe-Instituts gefolgt, ein arabisches Kurzfilmfestival zu besuchen. Die Begegnungen in Kairo rufen ferne Erinnerungen an ihren Großvater, der Ingenieur war, hervor, an ihre Mutter, die mal einen Scheich als Verehrer hatte. Stefanie Schulte Strathaus zieht es nach Kairo, immer wieder, sie mietet eine Wohnung und nimmt die Erzählfäden auf, die einst ihre Familie in dieser Stadt gesponnen hat. Aus ihrer Geschichte „Die Kairo-Decke“ wurde der Roman „Die Experten“ von Merle Kröger, die Filmemacherin hat aus dem dokumentarischen Stoff von Schulte Strathaus einen Doku-Thriller gemacht, der in den sechziger Jahren spielt. Ägyptens Präsident Nasser wirbt in großer Zahl deutsche Ingenieure, Raketenforscher und Flugzeugbauer an. Eine junge Deutsche ist die Protagonistin, Heldin des Romans, die das Leben in Kairo liebt und doch mitten in einem gefährlichen politischen Konflikt landet.
Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur haben den Roman als spannende Hörspielserie produziert. Die Folgen laufen ab dem 15.10.2022 im Deutschlandfunk oder stehen online in der Dlf Audiothek zur Verfügung.
Stefanie Schulte Strathaus, geboren 1969 in Frankfurt am Main, ist eine deutsche Filmkuratorin. Zusammen mit Birgit Kohler und Milena Gregor bildet sie den Vorstand und die künstlerische Leitung des Arsenal - Institut für Film und Videokunst e. V. Von 2006 bis 2021 war sie Leiterin des Forum Expanded der Berlinale. Sie entwickelt Filmprogramme, Retrospektiven und Ausstellungen.

Im März 2013 kehre ich zurück nach Kairo, um meinen Sprachunterricht fortzusetzen. Freunde vermitteln mir eine Wohnung in einer Straße in Downtown, die nach der Frauenrechtlerin Hoda Shaarawy benannt ist. Diesmal belege ich nur am Nachmittag Kurse. Zum ersten Mal kehrt so etwas wie ein Alltag ein. Bevor ich wieder abreise, gebe ich eine Party. Der Filmemacherfreund hilft mir, ein Buffet zu organisieren, eine Bekannte kommt vorbei um aufzulegen. Laute Musik schallt aus der großen Wohnung, die voll ist mit Gästen, von denen ich viele nicht kenne. Statt sich zu unterhalten, tanzen sie bis in den Morgen.
Im Juli wird Mursi, der inzwischen die neue Verfassung durchgesetzt hat, nach Massenprotesten vom Militär abgesetzt. Nach seiner Verhaftung demonstrieren Tausende sowohl für als auch gegen ihn. Ausgangssperren werden verhängt.
Am 26. Juli lande ich abends auf dem Flughafen Kairo. Vor dem Präsidentenpalast gerate ich mit dem Taxi in Autokorsos und jubelnde Menschenmassen. Es gib kein Durchkommen nach Downtown. Mursi ist weg, aber ich spüre eine tief sitzende Angst.
Ein Freund bietet mir eine neue Wohnung an, die ich dauerhaft nutzen kann. Sie befindet sich im 12. Stock eines der höchsten Gebäude in Downtown. Von den beiden Balkons sieht man in alle Richtungen, aber mein Blick fällt sofort auf das Nile Ritz-Carlton, ehemals Hilton. Ich kaufe ein paar Dinge, die fehlen, wie einen Flaschenöffner und einen Duschvorhang, und beginne, mich in der kleinen Wohnung einzurichten.
Ich verbringe viel Zeit im Filmcenter, das sich noch immer im Aufbau befindet. Die Gründer*innen und mehrere, meist sehr junge Mitstreiter*innen, treffen sich dort täglich zum gemeinsamen Arbeiten. Es ist eng, alle sitzen an einem großen Tisch oder mit Laptops auf Sesseln und Sofas. Die Nähe gibt Halt.
Ein Zimmer bleibt verschlossen. Hinter der Tür wird noch immer der Film geschnitten, dessen Protagonistin die Stadt ist. Ich darf hinein und mir die Rohfassung am Computer ansehen. Es fällt mir schwer zu verstehen, dass die Aufnahmen mit den Demonstrationen vor der Revolution gedreht wurden, als noch niemand ahnte, was bald passieren würde. Wie kann man diese Bilder jetzt zusammenfügen, ohne dass sich die Gegenwart dazwischenschiebt? Noch bin ich nicht vertraut genug mit Downtown, um einzelne Orte zu erkennen, wie ich eine U‑Bahnfahrt durch Berlin sofort erkenne, obwohl nur Farben am Fenster vorbeiziehen.
Zurück in Berlin höre ich, dass am 14. August 2013 Sicherheitskräfte zwei Protestlager von Mursi‑Unterstützern stürmen. Über 800 Menschen kommen ums Leben, mindestens 1000 landen in Gefängnissen.
Als ich im Oktober 2013 wieder nach Kairo komme, herrscht eine nächtliche Ausgangssperre. In der unmittelbaren Umgebung meiner Wohnung gibt es keine Checkpoints. Zwar gebe ich mir Mühe, abends rechtzeitig zu Hause zu sein, ein Drink im Lotus ist aber gelegentlich möglich. Eine*r meiner Bekannten begleitet mich immer bis zur Haustür. Ich lerne andere Hausbewohner*innen kennen, so dass ich auch dort abends noch Menschen treffen kann. Downtown ist während der Ausgangssperren klein und übersichtlich.
Vielleicht deshalb besuchen wir mit ein paar Freund*innen eine Party in Agouza. Die Stimmung ist gut, was unter den gegebenen Umständen sehr viel heißt. Irgendwann ist die Sperrstunde erreicht, der Heimweg nicht mehr möglich. Die Gäste verlassen die Tanzfläche und verteilen sich auf Sofas, Sessel und Teppichböden, wo sie einschlafen. Ich bleibe wach, blicke mich um, und denke an Buñuels „Würgeengel“.
2014 erhält meine Mutter die Nachricht, dass sie eine neue Wohnung in Frankfurt beziehen kann. Auch meine Tante in Süddeutschland plant einen Umzug in eine neue Wohnung. Im April besuche ich beide, um ihnen beim Ausräumen ihrer Keller zu helfen. Dabei stoße ich auf weitere Archivalien: Kalender meines Großvaters, denen ich entnehme, dass er am 17. April 1961 im deutschen Kulturinstitut den Film „Canaris“ über einen widerständigen Geheimdienstchef der Wehrmacht sah. Hunderte Dianegative, nummeriert und einzeln aufgelistet in DinA-5-Heften. Ein Tonband mit der Aufschrift „Interview mit M.“ und ein Abspielgerät. Weitere Tonbänder fehlen, ebenso der Jahreskalender 1962 und die Negative der Dias, die mein Großvater im Werk in Helwan aufgenommen hat. Stattdessen: ein Horoskop, das er für mich erstellt hat, und ein kleines, aus goldenem Draht geflochtenes Portemonnaie mit einer ägyptischen Pfundnote darin.
Zwar habe ich mittlerweile begonnen, mit Merle die bisherigen Funde und Ereignisse zu ordnen, aber noch ist offen, was damit passiert. Ich beschließe, den Sommer mit Spurensuche in Kairo zu verbringen. Gleich nach meiner Ankunft eröffnet in Garden City die Einzelausstellung der Künstlerin, die zur Popularität des ehemaligen ägyptischen Präsidenten arbeitet. Das Spiegel-Titelblatt von 1963 hängt an der Wand: „Deutsche Raketen für Nasser“. Ich sehe es lange an und denke darüber nach, wie merkwürdig es sich anfühlt, als Enkelin mit dieser Geschichte verbunden zu sein. Im Zuge ihrer Recherchen ist sie auf ein Modell der HA-300 gestoßen, dem Flugzeug, an dem mein Großvater in Kairo arbeitete. Sie schenkt es mir.
Auf der Botschaft erhalte ich eine Broschüre mit Namen und Telefonnummern von Mitgliedern der deutschen evangelischen und katholischen Kirchengemeinden. Ich rufe zwei von ihnen an, die bereits lange genug in Kairo leben, um möglicherweise Experten oder Mitglieder ihrer Familien gekannt zu haben. Eine ältere Frau ist am Telefon sehr gesprächig und erzählt, wie sie in den 1960er Jahren mit anderen deutschen Ehefrauen Kuchen für die Basare buk. Ansonsten hat sie kaum Erinnerungen. Ob sie Arabisch könne, frage ich sie. „Nein“, ist ihre Antwort. „Wissen Sie, wenn man in der Fremde lebt, trifft man sich nur mit Seinesgleichen“. Ein katholischer Pfarrer reagiert erfreut auf meinen Anruf. Sein Onkel, der inzwischen in Bremen lebt, sei auch einer der deutschen Experten gewesen. Ich frage ihn, ob er mir den Kontakt vermitteln könne. „Nein“, sagt er, der Onkel würde mir sowieso nichts erzählen. Wir verabreden uns zu einem Spaziergang. Er kommt nicht. Ich höre nie wieder von ihm.
Von einer Filmemacherin, die für ein Projekt die Geschichte der ägyptischen Präsidenten recherchiert hat, erhalte ich Namen und Telefonnummer eines ehemaligen Militärangehörigen, von dem sie glaubt, dass er mit den deutschen Experten in Verbindung gestanden haben könnte. Ohne lange zu zögern rufe ich ihn an und stelle mich als Enkelin eines der Experten vor. Er legt den Hörer auf.
Schließlich erhalte ich den Kontakt zu einem jungen deutsch-ägyptischen Wissenschaftler. Ich verabrede mich mit ihm. Auch sein verstorbener Onkel, so erzählt er mir, war ein deutscher Experte. Als er seinerzeit davon hörte, wollte er dazu recherchieren. Doch man riet ihm ab, es sei vermintes Gebiet. Er bringt mich zu einem anderen Onkel, der in Heliopolis lebt, in den 1960er Jahren für die Lufthansa gearbeitet hat und deshalb deutsch spricht. Er begrüßt uns in seiner Wohnung, seine Frau hat Kaffee und Kuchen vorbereitet. Ich erzähle ihm von dem Leitz-Ordner meines Großvaters, dessen Inhalt sorgfältig abgeheftet sein Leben in Kairo dokumentiert. Er steht auf, verlässt den Raum und kommt mit einem ebensolchen Ordner zurück. Es ist das Gegenstück aus der Zeit eines ägyptischen Flugzeugingenieurs in Frankfurt.
Einige der Experten lebten wie meine Familie in Zamalek, die meisten jedoch weiter südlich in Maadi, einem Stadtteil, der als besonders kosmopolitisch galt. Eine Freundin, die in Maadi aufgewachsen ist, schlägt vor, mit dem Auto dort durch die Gegend zu fahren. Wir nehmen Briefe meines Großvaters mit und suchen die Häuser der Adressaten. Das erste, das wir finden, ist heute eine moderne Kindertagesstätte, die wir uns ansehen. Was wir dort wollen, wissen wir nicht genau, es ist, wie eine leere Vergangenheit zu betreten. Wir halten kurz an der Synagoge. Ihr gegenüber liegt die Villa, in der laut Unterlagen der Arzt unserer Familie, Dr. Eisele, gelebt haben muss. Später erfahren Merle und ich von einem Nachbarn, dass er zu Lebzeiten täglich im Fensterrahmen lehnte und auf die Synagoge starrte.
Meine Freundin hat eine Mitgliedschaft im Sports Club und zeigt mir, wo die Familien der deutschen Experten ihre Freizeit verbrachten. Zwischen Pools, Spielplätzen für die Kleinen und Tennisplätzen für die Großen taucht ein verlassenes Freiluftkino auf. Wir klettern zum Projektionsraum, der wie die Zuschauertribüne aus Stein gebaut ist, und blicken von dort auf eine große Mauer, die früher als Leinwand gedient hat.
Irgendwo zwischen Downtown und Maadi soll es einen deutschen Friedhof geben. Ich mache mich auf den Weg. Es dauert lange, bis ich ihn zwischen einem Schweizer und einem britischen Friedhof gefunden habe. Als ich ihn betrete, beeindruckt mich die Pflanzenvielfalt, es wirkt wie ein botanischer Garten. Ich sehe mir jeden Grabstein an, um Namen aus der Korrespondenz meines Großvaters wiederzuerkennen. Nach einiger Suche stoße ich auf ein Grab, dessen großer, efeuumrankter Grabstein besonders hervorsticht. Ich lese die Gravur: „Dr. Hans Eisele, 13.3.1912 - 3.5.1967“. Ich schicke eine SMS an meine Schwester in Frankfurt: „Was würdest du tun, wenn du vor dem Grab eines KZ-Arztes stehen würdest?“ „Kotzen, kotzen, kotzen“, antwortet sie.
Ich gehe zurück zur U-Bahn und fahre noch weiter in den Süden der Stadt bis zur Endstation in Helwan. Hier ist irgendwo das Werk, in dem mein Großvater gearbeitet hat. Ich mache mich zu Fuß auf die Suche, es ist heiß. Irgendwann stehe ich vor den langgezogenen Werksmauern. Was heute dahinter geschieht, erschließt sich mir nicht, aber das Gebäude wird bewacht. Fotografieren scheint zu gefährlich und so mache ich mich auf den Rückweg. An der U-Bahn-Station angekommen, betrete ich ein Restaurant, um mich vor der Fahrt zu erfrischen. Der Kellner holt seinen Chef. Ich sei die erste Nicht-Ägypterin an diesem Ort, sagen sie. Was mich hierher verschlägt? Ich fahre gern bis zur letzten U-Bahnstation, um eine Stadt kennenzulernen, antworte ich. Wir machen ein Gruppenfoto für die Bildergalerie des Restaurants.
Das Filmcenter ist noch immer Baustelle. Trotzdem soll langsam etwas stattfinden. Das vorgesehene Datum der ersten öffentlichen Vorführung wird überraschend zum Feiertag erklärt: Es ist der Tag der Amtseinführung von Präsident Sisi. Man hat mir schon häufiger nahegelegt, in der deutschen Presse über die Situation in Kairo zu schreiben. Als Filmkuratorin habe ich nun Gelegenheit. Ich schreibe für die TAZ, dass Downtown zwar relativ ruhig bleibt, das Kino aber voll ist. Es läuft Griffith’s revolutionäres Stummfilmexperiment „Intolerance“, nicht etwa sein erstes großes Epos „Birth of a Nation“, was bei der Begrüßung besonders hervorgehoben wird. Nach der Vorführung wird lange über die vier Erzählstränge, die zu einer leidenschaftlichen Anklage an Macht und Unterdrückung werden, diskutiert. War es richtig, sie in einem Film zu erzählen, oder wären vier Filme besser geeignet gewesen, um der Komplexität der Geschichte gerecht zu werden? Das gemeinsame Nachdenken über die Anordnung von Narrativen nimmt mehr Zeit in Anspruch als der Film.
Ich biete einen Workshop über das Kuratieren von Kurzfilmprogrammen an. Um erfahrbar zu machen, was zwischen dem Ende des einen und dem Anfang des nächsten Films im Kopf der Zuschauer*in passiert, und warum die Reihenfolge der Filme deshalb gut überlegt sein will, bitte ich die Workshopteilnehmer*innen, zwischen zwei Filmen die Augen zu schließen. Nur mit einem Laptop ausgerüstet, versuche ich so, die Situation im Kino zu simulieren. Wie so oft fällt der Strom aus. Bis zum Ende des Workshops sprechen wir in die Dunkelheit hinein.
Als das Filmcenter ein Jahr später tatsächlich eröffnet, will ich als Geschenk eine 16mm-Kopie des Films (nostalgia) von Hollis Frampton mitbringen. Der Filmemacher, der mich 2020 in Kairo besuchen wird, um die Pyramiden zu sehen, hat einmal darüber geschrieben: „Ein Scheiterhaufen des Autobiografischen, das aus der eigenen Asche wiederaufersteht. Film als Opfer und Versöhnung. Ein logisch unlogisches Spiel.“ Bei der Einreise am Flughafen nimmt man mir die Filmrolle ab, der Karton wird versiegelt und weggesperrt. Als ich wegen meines Rückflugs wieder da bin, erkundige ich mich nach dem Verbleib des Films, was Diskussionen auslöst. Ich rufe einen Freund an, weil meine Arabisch-Kenntnisse mich nicht sehr weit bringen, und gebe einem Security-Mitarbeiter das Telefon. Nach ein paar Sätzen gibt er es mir zurück, verschwindet kurz in einem Raum und drückt mir den Filmkarton in den Arm. Anschließend begleitet er mich durch das gesamte Boarding und über die Landebahn bis zum Einstieg ins Flugzeug. „Was hast du ihm gesagt?“ frage ich später den Freund. „Dass Merkel gerade Sisi besucht. Und dass dein Großvater für Nasser gearbeitet hat.“
Zurück in Berlin schlägt Merle vor, die Materialsammlung in ein geordnetes Archiv zu überführen. Wir verabreden uns für die Ostertage. Obwohl ich seit Jahren in Archiven arbeite, um sie zum Leben zu erwecken, war ich nie für ihre Ordnungssysteme zuständig. Zunächst sichten wir alles und versehen jedes einzelne Schriftstück mit einer Kombination aus Buchstaben und Zahlen, die Merle notiert. Um es beschreiben zu können, müssen wir den Inhalt der Schriftstücke kennen. Ich beginne, die Briefe meines Großvaters laut vorzulesen, bis ich am dritten Tag meine Stimme verliere.
Wir bringen das Tonbandgerät zum Laufen. Weihnachten 1962. Die Familie sitzt mit dem ägyptischen Freund meiner Mutter im Wohnzimmer in der Abu El Feda. Mein Großvater will ein Interview mit ihm machen. Der junge Mann zündet sich eine Zigarette an, meine Mutter bittet ihn, ihr auch eine zu geben. Für sie sei das Rauchen nicht gut, antwortet er. Warum sei es für sie nicht gut, aber für ihn in Ordnung, fragt sie ihn. Es folgt eine Diskussion über Rechte und Pflichten von Frauen, an der auch meine Großmutter teilnimmt. „In Amerika“, sagt sie, „denken die Frauen nur an sich. Sie schminken sich und gehen ins Kino."
Meine Großmutter hat ihre Tagebücher und Briefe in Sütterlinschrift geschrieben. Meine Mutter ist damit vertraut und so reise ich mit Merle im Mai 2015 nach Frankfurt. Trotz ihrer beginnenden Augenkrankheit liest sie uns stundenlang aus den Aufzeichnungen ihrer Mutter vor. Obwohl sie erzählt, wie aufmüpfig meine Großmutter gegenüber der Kirche gewesen sei, scheint ihr ihre Religion sehr wichtig gewesen zu sein. Sie fand darin Trost, aber auch Entschuldigungen für all das Leid, das sie empfand. Sie schrieb lange Briefe an einen Pater in Kairo. Sie berichtete von ihren Krankheiten und es gelang ihr, von dem Schmerz zu berichten, den die Liebesbeziehung ihres Mannes zur Haushälterin ihr bereitete, ohne sie zu erwähnen.
Um wieder aus der dunklen Vergangenheit aufzutauchen, beginnen wir ein Gruppenskype mit meinen Tanten. Sie sprühen vor lebendigen Erinnerungen an Kairo.
Im August 2015 reisen wir nach Süddeutschland, um dort den Geburtstag der älteren meiner beiden Tanten zu feiern. Eine willkommene Gelegenheit, alle zu treffen, auch die jüngere Generation. Wir verbringen einen entspannten Tag im Garten einer meiner Cousinen. Ich frage mich, warum wir alle eigentlich immer so wenig Kontakt hatten.
Mein Onkel ist auch mein Taufpate, aber an so etwas erinnern wir uns alle, wenn überhaupt, nur durch Fotos. Er ist angetan von der Idee, dass Merle und ich die Geschichte unserer Familie erforschen. Als erstes Kind in der Familie war er bereits Anfang 20, als seine Eltern nach Kairo aufbrachen, und stand gerade am Beginn einer Schauspielerkarriere. Aus diesem Grund war er nicht dabei. Aber sehr viel später, in den 1990er Jahren, folgte er seiner Neugier und reiste als Tourist nach Ägypten. Bei einer Militärkontrolle auf einer Wüstenstraße, so erzählt er uns, übernahm sein Fahrer das Wort. Er sprach Arabisch mit den Uniformierten, die meinen Onkel daraufhin freundlich zuwinkend passieren ließen. Auf die Frage, was der Fahrer ihnen erzählt habe, erklärte dieser, er habe ihnen gesagt, dass es sich um den Sohn eines Deutschen handelte, der einst für Nasser gearbeitet hat. 20 Jahre, bevor ich am Flughafen mit der gleichen Erklärung durchkomme.
Merle stellt ein Mikrofon auf, um das Gespräch aufzuzeichnen. Sie weiß genau, wann es möglich und wann es unpassend ist, sie scheint meine Verwandten besser einschätzen zu können als ich. Mein Onkel ist Öffentlichkeit gewöhnt, er liebt es, in ein Mikrofon zu sprechen. Er erzählt, wie er einmal in Kairo zu Besuch war und in der Kirche als Messdiener einsprang, um seine Eltern glücklich zu machen. Zurück in Deutschland mietete mein Großvater eine Wohnung in München als Büro an, er lebte mit seiner Frau außerhalb der Stadt.
Sie vermutete, dass seine außereheliche Beziehung, die er in Kairo begonnen hatte, fortdauerte und schickte meinen Onkel und meinen Vater, den meine Mutter mittlerweile kennengelernt hatte, zu dieser Wohnung. Beide trugen lange Mäntel, hatten dunkle Haare und gaben sich gern lässig. Nachbarn, die in dem Haus lebten, wussten von der Vergangenheit meines Großvaters in Ägypten. Sie vermuteten, der Mossad habe die beiden geschickt und riefen die Polizei.
Es ist warm, wir sitzen im Garten. Mein Onkel ist krank und trägt einen Morgenmantel, als er diese Geschichten erzählt. Es ist das letzte Mal, dass ich ihn sehe und ihm zuhören kann.
Nur zwei Wochen später feiert der Film, dessen Protagonistin die Stadt Kairo ist, endlich Premiere. Das westliche Publikum hält die Bilder für Szenen der Revolution. Der Film erzählt die Geschichte eines Filmemachers, dessen Leben sich nach und nach auflöst. Die meisten der Erzählstränge werden später für den echten Regisseur zur Wirklichkeit. Bis heute unterliegt der Film in Ägypten der Zensur.
Im Juli 2017 besucht Merle mich in Kairo. Es ist das erste Mal, dass jemand aus meinem Berliner Leben hierher kommt. Ich bin aufgeregt. Merle begleitet mich auf meinen täglichen Wegen durch Downtown. Ich zeige ihr das Filmcenter, das Lotus, den Greek Club, die Geschäfte, in denen ich einkaufe. Wir fahren nach Zamalek in die Abu El Feda, ich zeige ihr das Haus am Nilufer. Anhand des Plans, den meine Mutter für die Haushälterin gezeichnet hat, gehen wir die Einkaufsstraße ab. Wir suchen Orte, die wir aus dem Fotoalbum kennen, wie die Kirche, vor der die jüngste Schwester bei ihrer Hl. Kommunion zu sehen ist. Schließlich betreten wir das Ritz-Carlton, das ich schon so lange von meinem Bett aus im Blick habe.
Es ist merkwürdig, sich vorzustellen, wie es hier wohl 1961 aussah. Eine sehr freundliche Hotelangestellte bringt uns in ein Zimmer, das über jenem gelegen haben muss, in dem meine Mutter und meine Tante nach ihrer ersten Nacht in Kairo in ihren Betten lagen und in die Kamera blickten. Das Mobiliar wurde inzwischen ausgetauscht. Ich trete ans Fenster, mein Blick sucht den Balkon der Wohnung, in der ich am Morgen aufgewacht bin.
Als nächstes fahren wir zu den Pyramiden. Wie meine Mutter ist Merle mehr am Mena House interessiert, sie hat sogar eine Übernachtung in dem teuren Hotel für uns gebucht. Wir wohnen in dem riesigen Anbau, der neu hinzugekommen ist, aber man erlaubt uns, den alten Gebäudeteil zu besichtigen. Lange Flure und riesige Säle, Kronleuchter und dicke Teppiche.
Mir wird klar, dass meine Mutter nach der Erfahrung von Krieg, Flucht und Leid auch etwas ganz anderes kennen gelernt hat. Schließlich besuchen wir das Antiquitätengeschäft. Der Sohn ist auch diesmal nicht da. Wie schon beim ersten Besuch hinterlasse ich meine Telefonnummer. Am Abend trinken wir Wein auf der Terrasse des Hotels mit Blick auf die Pyramiden.
Der Sohn des Antiquitätenhändlers ruft an. Wir treffen ihn in Downtown im Restaurant Felfela. Er erzählt, dass er immer gewusst habe, dass sein Vater eine große Liebe verloren hatte und nun sitzt ihm die Tochter dieser Unbekannten gegenüber. Die spätere Ehe seiner Eltern war glücklich. Aber eines Tages zog sein Vater ein Buch aus dem Regal und schenkte es ihm. Es war ein Lehrbuch für deutsche Sprache. Ich schicke ihm Fotos seines Vaters aus unserer Diasammlung auf sein Mobiltelefon. Merle macht ein Foto von uns beiden.
Merle schlägt vor, den deutschen katholischen Kindergarten in Maadi zu besuchen. Hinter einem großen Tor öffnet sich ein üppiger Garten, in der Mitte ein Käfig voller Schimpansen. Eine Schwester empfängt uns und führt uns zur Leiterin des Kindergartens, die schon seit den 1950er Jahren hier arbeitet. Wir erzählen von unserem Projekt und die alte Nonne erinnert sich an die Zeit der Experten. „Da war dieser Doktor Eisele“, sagt sie. Ein guter Mann, der so vielen Ägyptern geholfen habe. Man würde viel Falsches über ihn berichten, in den Konzentrationslagern hätte er Geistlichen geholfen. Ihre Augen leuchten, als sie von ihm spricht.
Im Juni 2018 reisen Merle und ich zu meiner jüngeren Tante, die nach Schweden ausgewandert ist. Sie zeigt uns neue Fotos und Dokumente, die sie mitgenommen hat. Darunter die Korrespondenz meines Großvaters mit einem Bekannten, der am Edersee lebte. Ihre Schulferien hat sie nicht in Kairo, sondern in dessen Haus mit seiner Familie verbracht. Diese Briefe an meinen Großvater unterschrieb er noch in den 1970er Jahren mit „Heil Hitler“.
Wir machen weitere Exkursionen. Nach Bremen, um einen anderen Experten zu treffen, den Merle ausfindig gemacht hat, nach Stuttgart, um das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt zu besuchen. Als ich beruflich nach Palästina reise, begleitet Merle mich, um ein paar Tage in Tel Aviv zu verbringen. Sie will verstehen, was so viele junge Deutsche in den 1960er Jahren nach Israel zog. Merle taucht immer tiefer in die Recherche ein. Ich spüre, dass das Projekt zu ihrem Projekt geworden ist und es anfängt, weit über meine Familiengeschichte hinauszuwachsen. Diese Dynamik hat etwas Befreiendes.
Die Augen meiner Mutter werden immer schlechter. Nach unserer Rückkehr besuche ich sie in ihrer neuen Wohnung in Frankfurt, um ihr das Tonband vorzuspielen, das ich in ihrem Keller gefunden habe. Sie kann sich gut an die Situation zu Weihnachten erinnern. Ihr fällt ein, dass sie in einer Kiste in ihrer Kammer noch Briefe von ihrem ägyptischen Freund hat. Wir holen sie hervor und ich beginne, sie ihr vorzulesen. Es sind Liebesbriefe, die er an sie geschickt hat, nachdem sie aus Kairo nach München zurückgekehrt war. Die meisten seiner Briefe blieben unbeantwortet.
Auch wenn ich meist nur ein oder zwei Wochen Zeit habe, bleibt Kairo mein zweites Zuhause. Alle drei bis vier Monate fliege ich hin und wohne in meiner kleinen Wohnung mit Blick auf das Ritz-Carlton, den Nil, und bei guter Sicht auf die Pyramiden.
Ende 2019 übergibt Merle mir ihr fertiges Manuskript. Die Augenkrankheit meiner Mutter ist so weit fortgeschritten, dass sie es nicht mehr selbst lesen kann. Ich verbringe die Weihnachtstage damit, es vorzulesen und dabei laut in ein Aufnahmegerät zu sprechen. Es ist meine erste Lektüre. Bei jedem Satz gebe ich mir Mühe, ihn so zu betonen, dass meine Mutter meiner Stimme gut folgen kann.
Während sie sich die Aufnahme anhört und Familienmitglieder das Buch lesen, sind alle im Lockdown. In Kairo gibt es wieder eine nächtliche Ausgangssperre. Die Pandemie hat die Welt in ein neues Verhältnis zu sich selbst gesetzt. Wie das Buch mich, meine Familie und meine Freund*innen. Ich denke an die Worte des Filmemachers, der auf meinem Balkon am Tahrir-Platz steht: „Ein logisch unlogisches Spiel.“ Als ich die Balkontür schließen will, nicht ahnend, dass es für lange Zeit das letzte Mal sein würde, zerbricht das Glas.