Samstag, 20. April 2024

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Kommentar zu Silvester-Randalen
Der Blick auf migrantische Jugendliche ändert sich

Mit der Gewalt in der Silvesternacht habe sich der Blick auf migrantische Jugendliche verschoben, kommentiert Burkhard Ewert. Das Verständnis dafür, die Herkunft der Täter und ihr soziales Umfeld auszublenden, schwinde auch in wohlmeinenden Kreisen.

Ein Kommentar von Burkhard Ewert, "Neue Osnabrücker Zeitung" | 07.01.2023
Polizeibeamte stehen hinter explodierendem Feuerwerk.. Berlins Regierende Bürgermeisterin will, dass sich die Innenminister mit dem Thema beschäftigen.
Nach Angriffen auf Einsatzkräfte in Berlin in der Silvesternacht hat die Diskussion über Konsequenzen begonnen (picture alliance / dpa / TNN / Julius-Christian Schreiner)
Im politischen Denken der Deutschen wandelt sich derzeit so manches. Die Freiheit beispielsweise steht nicht mehr universal über allem, siehe die verschobenen Maßstäbe in der Corona-Pandemie. Auch der Blick auf kriegerische Gewalt hat sich verändert: siehe Ukraine. Jetzt wanken auch prägende Grundsätze einer lange romantisierten Integrationspolitik.
Die Silvesterkrawalle und die nachfolgenden Debatten aber sind nicht der Grund für diesen Wandel. Sie bildeten nur den Anstoß, um genauer hinzusehen und die Umstände ehrlicher zu benennen, ähnlich wie es im Jahr 2015 war. In der damaligen Silvesternacht ließen massive sexuelle Übergriffe den unkritischen Blick auf die Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Afrika platzen. Diesmal flogen Raketen und Böller, Flaschen und Steine auf Feuerwehrleute und Polizisten, während sich die Täter filmten, mit armseligem Geprotze in die Kameras sprachen und ihre Videos umgehend posteten.
Die Bilder beendeten für jeden sichtbar die Erzählung einer entrechteten, grundsätzlich gutwilligen zugewanderten Jugend, die fleißig Bewerbungen schreibt. Die doch eigentlich etwas ganz anderes machen möchte und sich nur wegen diskriminierender Strukturen, traumatischer Fluchterfahrungen und rassistischer Chefs nicht als Teil der deutschen Gesellschaft entfalten könne.
Stattdessen brüsteten sich in den sozialen Medien brutale Horden, die zwar den Mut haben, johlend mit Pistolen in die Luft zu schießen. Die sich aber kaum ein Herz fassen – wie Sozialarbeiter berichten -, mal beim Zimmermann um die Ecke nach einer Lehrstelle zu fragen oder in der Pflege zu arbeiten, wo sie allesamt, so wäre anzunehmen, im Schoße der Gesellschaft mehr als herzlich willkommen wären.

Täter und Milieu offen benennen

Das Interessante dabei: Wer die Täter und ihr Milieu offen benennt, wird mitunter reflexartig als Rassist bezeichnet und beschuldigt, durch Stigmatisierung derlei Grenzüberschreitungen erst zu befördern. Dieser Ansatz aber scheint nun in die Defensive zu geraten – einerseits, weil die mehrheitlich eingewanderten Täter mit ihrer Gewalt selbst prahlten.
Andererseits schwindet auch in wohlmeinenden Kreisen, unter Szenekennern und Sozialarbeitern, Journalisten und Wissenschaftlern, Gewerkschaftern und Einsatzkräften das Verständnis. Verständnis für ein Geschwurbel, das die Herkunft der Täter und ihr soziales Umfeld ausblendet, wenn es doch mindestens mittelbar einen relevanten Teil der Problemlage bildet.
Wer etwa auf Twitter noch daran festhielt, dass an Silvester nicht die Gewalt, sondern die Böller das Problem und ihr Verbot die Lösung seien, sammelte zwar seine Likes von Gleichgesinnten. Unter Fachleuten stieß er aber auf Verständnislosigkeit und Spott.
Kein Geheimnis ist auch, dass gerade die Bewohner der einschlägigen „Szeneviertel“ – selbst oft Einwanderer - in Berlin und Frankfurt, Hamburg oder Köln keinen Nerv mehr darauf haben, unter der Rohheit dieser Gruppen selbst zu leiden und im Zweifel noch in einen Topf mit ihnen geworfen zu werden.

Faesers Antwort: Deutliche Worte zu Silvesterkrawallen

Und was sagt die Politik? „Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit“, schrieb Ferdinand Lassalle. So gesehen, bleiben die sozialdemokratische Bundesinnenministerin Nancy Faeser und Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey dem Gründervater ihrer Partei treu. Denn auch sie zählen zu denen, die in den Tagen nach den Silvesterkrawallen deutliche Worte fanden. 
„Gute Politik muss klar benennen, was ist“, erklärte nun also Faeser in Anlehnung an den Klassenkämpfer Lassalle. Und fährt fort, Zitat: „Wir haben in deutschen Großstädten ein Problem mit bestimmten jungen Männern mit Migrationshintergrund, die unseren Staat verachten. Die Polizei muss sehr konsequent in Brennpunkte hineingehen. Die Strafe muss auf dem Fuße erfolgen.“
Geschmunzelt haben wird da ein gewisser Thilo Sarrazin. Nach der langjährigen Debatte um sein Buch über Zuwanderung und deren Risiken wurde er schlussendlich aus der SPD ausgeschlossen. Neben einigen grenzwertigen Passagen hatte der verfemte Genosse in seinem Buch ein Vorwort verfasst und diesem einen historischen Ausspruch vorangestellt – und zwar genau jene Worte Lassalles, auf die sich Faeser jetzt bezog: aussprechen, was ist.
Es wandelt sich derzeit manches in Deutschland. Auch in Sachen Migration ist es an der Zeit.
Burkhard Ewert, Chefredakteur der Neuen Osnabrücker Zeitung sowie Chefredakteur für Politik & Gesellschaft des Verbundes von NOZ Medien und Medienholding Nord.
Burkhard Ewert ist stellvertretender Chefredakteur der "Neuen Osnabrücker Zeitung" ("NOZ") und leitet die gemeinschaftliche Mantelredaktion, die über die "NOZ" hinaus u. a. den Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag und die "Schweriner Volkszeitung" sowie mehrere digitale Produkte und externe Kunden mit Inhalten aus Politik und Wirtschaft, Kultur und Service versorgt. Ewert studierte Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Bielefeld und war vor dem Wechsel nach Osnabrück u. a. leitender Redakteur beim "Handelsblatt" in Düsseldorf.