Freitag, 29. März 2024

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Kommentar zu Holocaust-Gedenken
Aufarbeitungsweltmeister Deutschland muss noch jede Menge dazuzulernen

Aufgabe des Holocaust-Gedenkens sei es aktuell auch, nicht auf die verquere Propaganda Moskaus im Bezug auf den Krieg in der Ukraine hereinzufallen, kommentiert Sabine Adler. Deutschland müsse lernen, Täter und Opfer nicht zu verwechseln.

Ein Kommentar von Sabine Adler | 27.01.2023
Ukrainische Soldaten stehen vor einer Statue der Gedenkstätte in Babi Jar.
Die russische Propaganda klammert die Ukraine als Opfer des Nationalsozialismus aus, setzt sie in perfider Weise sogar mit den ehemaligen Aggressoren gleich, kommentiert Sabine Adler. (picture alliance / Jan A. Nicolas)
Seit 27 Jahren wird an diesem Tag international der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Keineswegs ein immer gleiches Ritual, sondern oft eine Herausforderung. Zwar verliert die Grausamkeit unter deutscher Verantwortung auch bei noch so häufiger Betrachtung nichts von ihrem Schrecken.
Aber unser Blick verändert sich. Zwangsläufig, weil wir von heute aus auf damals schauen. Aus der Gegenwart, ihren neuen Konflikten. Die alten erscheinen dann mitunter in einem anderen Licht. Aber die Geschichte kann uns auch in die Irre führen, wenn wir nicht genau Bescheid wissen. Dann ziehen wir womöglich falsche Schlüsse.

Was die Diskussion um deutsche Panzerlieferung unterstellt

Wer sich in dieser Woche gefragt hat, ob deutsche Panzer wirklich für den Kampf gegen die russische Armee eingesetzt werden dürfen, wo sie doch schon einmal gegen die Rote Armee rollten, unterstellt, bewusst oder unbewusst, dass die Sowjetarmee nur aus russischen Soldaten bestand. Das tat schon 1945 unmittelbar am Tag des Sieges der damalige Diktator Stalin, als er vor allem den russischen Soldaten dankte und nicht gleichermaßen denen vieler anderer Nationalitäten. Georgier, Kasachen, Belarussen auch Ukrainer, die mit an der Befreiung von Auschwitz beteiligt waren.   
Ein Blick auf den Kriegsverlauf damals zeigt, dass die Nazis die belarussische und die ukrainische Sowjetrepublik während des gesamten Russlandfeldzugs okkupiert hatten. Der Teil der heutigen Russischen Föderation war viel kürzer besetzt. In der Ukraine und Belarus gab es die meisten Holocaust- und Kriegsopfer, hier wurden mindestens 1,5 Millionen jüdische Menschen erschossen, noch bevor die Vernichtungslager errichtet waren. Von hier wurden zwei Drittel aller sowjetischen Kunstschätze geraubt.

Nicht in die Falle von Putins Propaganda tappen

Die Menschen auf dem Gebiet, das jetzt Russland ist, haben ebenfalls entsetzlich gelitten. Wenn man aber ausschließlich an sie erinnert, um an das schlechte Gewissen der Deutschen zu appellieren, tappt man in genau die Falle, die Putins Propagandisten aufgestellt haben: Russland wird einmal mehr als Opfer dargestellt, die Ukraine ausgeklammert und in perfider Weise sogar mit den früheren Aggressoren gleichgesetzt, wenn von den angeblichen Faschisten in Kiew die Rede ist.
Auf den Krieg heute allein durch die Brille der Geschichte zu blicken, führt auf den Holzweg. Wladimir Putins Geburtsland, die Sowjetunion, wurde überfallen, sie war ein Opfer. Er selbst ist ein Täter. Er lässt heute morden und nennt seine Opfer Nazis, wie die Schuldigen von damals.
Sich über diese verquere Propaganda nicht kirre machen zu lassen, nicht Freund und Feind zu verwechseln - auch das ist die Aufgabe des heutigen Gedenkens, das selbst uns, den Aufarbeitungsweltmeistern abverlangt, noch jede Menge dazuzulernen.
Sabine Adler, Journalistin und Buchautorin. Journalistik-Studium Universität Leipzig, danach Sender Magdeburg, radio ffn, Deutsche Welle. Seit 1997 beim Deutschlandradio, u.a. als Russland-Korrespondentin, Leiterin des Hauptstadtstudios. 2011-2012 Leiterin Presse und Kommunikation Deutscher Bundestag. Danach Osteuropakorrespondentin, derzeit Leiterin des Reporterpools.