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Auserzählt? (2/4)
Im Auserzählten

Die derzeit brennendste globale Geschichte, die erzählt wird, ist die der sich dramatisch zuspitzenden ökologischen Krisen. Sie wird als spektakuläre Untergangserzählung vorgetragen, als Warnung und Mahnung. Doch je lauter und je drastischer wir sie erzählen, umso weniger wird sie gehört oder gar verstanden.

Von Kathrin Röggla |
Ein Bücherstapel, das oberste Buch ist aufgeschlagen.
Kann ein Thema wirklich auserzählt sein? (IMAGO / Zoonar / IMAGO / Zoonar.com / monticello)
Gibt es das überhaupt, das Auserzählte? Kann ein Stoff, ein Thema auserzählt sein? Was meinen wir, wenn wir sagen, eine Geschichte oder ein Stoff sei auserzählt, beziehen wir uns dabei auf eine Verwertungslogik, in der wir sagen, eine Sache hat sich verbraucht? Sie sei inflationär am Markt und es gebe keine Abnehmer für sie. Oder ist eine Erzählung einfach an ihr Ende gekommen. Sie hat einen Rand erreicht und es gibt schlicht kein Wort mehr zu verlieren, ihre Binnenökonomie, die Erzähldramaturgie hat sich erschöpft. Und sprechen wir dabei nur von Literatur, oder auch von gesellschaftlichen Erzählungen? Immerhin hat der Begriff des Narrativs in den letzten 20 Jahren gehörig Karriere gemacht und den der Ideologie ersetzt. Wir hatten also Zeit, uns an die Idee der gesellschaftlichen Erzählungen zu gewöhnen, fast so, als ob wir uns gesellschaftlich „nur“ Geschichten erzählen würden, denen man auf den Leim gehen kann oder nicht, denen jedenfalls wenig reale Grundlage entspricht.
Seltsamerweise gilt die Klimakrisenerzählung schon seit langer Zeit als auserzählt. Wäre hier nicht die traditionelle Aufgabe der Literatur, diese vermeintlich auserzählten Stoffen wieder zurück ins Erzählbare zu bringen, heute mehr denn je geboten?
Ein Essay, der als Vortrag der Autorin auf dem Kölner Kongress 2023 zum Erzählen in den Medien im Deutschlandfunk gehalten wird.
Kathrin Röggla wurde 1971 in Salzburg geboren. Seit 1988 ist sie aktiv in der literarischen Öffentlichkeit und schreibt Bücher, Kurzprosa. Radioarbeiten: Hörspiele, akustische Installationen, Netzradio. Seit 2002 entstanden auch Theatertexte. Zahlreiche Auszeichnungen, Auslandaufenthalte und Poetikdozenturen. Sie ist Vizepräsidentin der Akademie der Künste in Berlin und seit 2020 Professorin für „Literarisches Schreiben“ an der KHM Köln.

Stellen Sie sich vor, Sie hören Radio und hören diesen Bericht über absterbende Korallenriffe, brennende Wälder, Plastikinseln im Ozean. Nicht schon wieder diese Geschichte, rufen Sie. Aber stopp – hören Sie da überhaupt eine Geschichte? Sie denken, Sie hören eine Geschichte, aber das ist es nicht. Gut, setzen Sie nach, denn wenn es eine Geschichte wäre, wäre sie sehr schlecht erzählt.
Ich sage es vorweg, ich bin keine Geschichtenerzählerin, obwohl ich Schriftstellerin bin. Ich tue mich schwer damit, Szenarien zu etablieren, Figuren einzuführen, die einem herzzerreißend nahegehen, einen Plot zu stricken, der einen in Atem hält, mit dem entscheidenden Twist just vor seinem Ende. Und genau das verstehen wir gemeinhin unter Geschichtenerzählen. Unser Konzept davon ist verbunden mit einem linearen Gedanken: Geschichten bewegen sich von A nach B, sie haben Anfang und Ende, sie sind eine Entwicklung, vor allem der Figuren, die etwas durchleben, und, einmal erzählt, sind sie für uns ein Schatz, über den man verfügt, Ausweis für Reichtum. Je mehr Geschichten, umso besser.
Zumindest der Roman ist historisch untrennbar verbunden mit dem gedanklichen Prinzip einer Weltaneignung, von Kolonisierung und Fortschrittsgedanken. Ob man an Daniel Defoe mit seinem Robinson Crusoe denkt oder an Stendhal. Es mag auch Ausnahmen geben, doch meist bringt das bürgerliche Subjekt etwas mit aus seinem Abenteuer, es steht selten am Ende mit leeren Händen da. Sicherlich können wir diese Folie schon in der Spätmoderne oft kaum noch erkennen, doch selbst wenn wir an David Foster Wallace, William Gaddis oder Elfriede Jelinek denken, gibt es da Bezüge und sei es als Absetzbewegung. Im Krimi- oder Fantasy-Genre ist die Nähe zu den historischen Vorbildern offensichtlicher. Abenteuer, Quest, Reise, Entwicklung und Suche sind zentrale Erzählmotive. Doch das Konzept sollte sich erschöpft haben, worauf uns viele Stimmen aufmerksam machen, darunter sehr prominent die Essayistin und Science Fiction-Autorin Ursula Le Guin mit ihrem Konzept der „Tragetaschentheorie der Erzählung“. Es brauche eine neue literarische Form für diese Welt, wollten wir nicht diese Ausbeutungshaltung fortsetzen, die unser aller Leben kosten wird. Vielleicht wird die neue Haltung wie ein steinzeitlicher Beutel funktionieren, vielleicht tentakulär wie ein Spinnennetz.
Schön und gut, werden Sie mich jetzt unterbrechen wollen, denn Sie sind schon ein wenig ungeduldig geworden. „Sie sind eine schlechte Geschichtenerzählerin, aber das tut nichts zur Sache. Schließlich geht es hier nicht um literarische Geschichten. Oder um besonders originelle, solche mit Neuigkeitswert.“
Sie haben recht. Es sind streng genommen keine literarischen Geschichten, auf die ich hinauswill, sondern das, was man gemeinhin Narrative nennt, also sinnstiftende Erzählstrukturen, die den Berichten und Kommentaren unserer Welt zugrunde liegen, soziale oder epistemische Erzählungen, die Schemata der Welterfassung darstellen, wie sie der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke beschrieben hat, die aber eigentlich mehr in der Sozialwissenschaft oder seit den Schriften von Antonio Gramsci in der politischen Ökonomie zu Hause sind. Das ist schon eine Weile her, dass wir über sie nachdenken. Wie leicht uns dieser Begriff noch heute von der Zunge geht, und wie wenig Kontur er hat! Alles ist heute Narrativ. Ja, die Welt zerfällt uns geradezu in Geschichten, die allerdings oft genug ihre erzählerische Form verbergen und als Tatsachenbericht auftreten. Wir sprechen von gerontophobischen Narrativen, von Klimanarrativen, von wirksamen und mächtigen Narrativen wie dem Wachstumsnarrativ, welches wir trotz Antiwachstumsbewegung nicht und nicht loswerden, alles vom Narrativ eines Produkts bis zum Narrativ einer Generation ist denkbar.
Und immer kommt es erst einmal einzeln daher. In Wirklichkeit bleibt ein Narrativ nie allein, es setzt sich gegen andere durch, es steht in Kontakt, es ist ein Bestandteil einer größeren Erzählung, für die wir keine so inflationären Begriffe haben. Der Narrativbegriff verdeckt eigentlich den Zusammenhang, in dem das Narrativ operiert. Wir sagen heute „Narrativ“, wo wir früher Ideologie meinten, wir sagen „Narrativ“, wo wir früher über ein Weltverhältnis nachdachten. Dieser Begriff funktioniert wie ein Platzhalter für einen Zusammenhang, weil er das Gewebe, die Struktur, in der er funktioniert, nicht zeigt.
Und plötzlich taucht er überall auf. Homo narrans, sagt Albrecht Koschorke und anthropomorphisiert diesen diskursiven Zustand, womit er sich in bester Gesellschaft befindet. Andere wie der Literaturwissenschaftler Fritz Breithaupt gehen einen Schritt weiter in die Biologie und denken über das „narrative Gehirn“ nach, so sein letztes Buch, das den schönen Untertitel trägt: „Was unsere Neuronen erzählen“. Oder wir hören von Bestsellerautor*innen, wir seien „erzählende Affen“.
„Sie spitzen zu“, werden Sie mir entgegenhalten, „das muss jetzt nicht sein.“ – Gut, bleiben wir noch ein wenig auf dem Soziologenpfad: Wir verständigen uns also sozial über Erzählungen… – „Nein! Das tun wir eben nicht!“, ist derzeit ein berechtigter Zwischenruf aus Amerika zu vernehmen: Kommt es durch diese Narrative nicht immer zu größeren Zerwürfnissen? Vor kurzem hat der amerikanische Literaturwissenschaftler Peter Brooks, einst ein Klassiker der Narratologie, in seiner Publikation „Seduced by Story“ seine Kritik an dem Ubiquitärwerden des storytellings geschrieben. In der Wochenzeitung Die Zeit äußerte er sich dazu: „Es gibt eine Storyfizierung der Realität und keine andere Art von Diskurs scheint es überhaupt noch wert, angewandt zu werden. Es gab mal sowas wie politische Redekunst, Rhetorik, die hier an Highschools gelehrt wurde. Heute geht es nur noch darum, eine Geschichte zu erzählen.“ Und die ist, das habe man ja auch beim Sturm aufs Kapitol in Washington gesehen, dazu da, die Gesellschaft zu spalten oder mit Informationskriegen wie zum Beispiel denen der sogenannten „Storykillers“ die eigenen Taschen zu füllen, in dem man Wahlen beeinflusst. Der „narrative turn“, den wir schon bei Koschorke finden, wird zum „narrative takeover“ und vielleicht liegt unser Unbehagen, das Gefühl, einfach nicht mehr zuhören zu können, an dieser inflationären Situation?
Stimmt das überhaupt, dass alles die Form von Geschichten annimmt? Diesen Zweifel nehme ich aus einer Begegnung mit dem Dokumentarfilmemacher Marcel Kolvenbach mit. Kolvenbach arbeitet als Reporter des investigativen SWR‑Recherche-Units und macht journalistisch eine ganz andere Erfahrung. Medial gesehen, erzählt er, sei nichts schwieriger als Geschichten zu verkaufen. Der Investigativjournalismus, also der vertiefende Journalismus, erzählt nicht mehr einfach eine recherchierte Geschichte, ein Zusammenhang muss immer schon unter einem Hashtag und einem Produktnamen gefasst werden wie bei den Panama Papers oder den Paradise Papers oder wie jetzt kürzlich den „Storykillers“, ermittelt durch das Forbidden-Stories-Kollektiv, als wäre so eine Recherche ohne diese Produktverpackung und den Zusammenschluss mehrerer „Erzähler“ nicht schwergewichtig genug. Umgekehrt findet medial eine vollkommene Entleerung des Story-Begriffs statt, so bietet mir Mozilla seine neue Plattform als „Storys für mehr Sichtbarkeit an“, wo es um ein rein technisches Feature geht. Alles wird mit Story betitelt und nichts ist mehr das, was wir früher unter „Geschichte“ verstanden.Vielleicht sollte man aber ganz anders danach fragen, wie nahe unsere medialen Erzählungen und die dadurch ins Leben gerufenen Narrative eigentlich noch an dem Realen dran sind, also an dem, was da draußen tatsächlich geschieht? Denn das haben wir in all der Faszination über Narrative möglicherweise vergessen, dass wir nicht wirklich in den Geschichten leben. Oder gar in einer großen Welterzählung, die aus widersprüchlichen Narrativen besteht, dieser Gedanke wäre nahezu antiaufklärerisch. Denn es gibt ja das Reale, Ungebundene, Unzusammenhängende, die krude Wirklichkeit jenseits unserer Erzählungen und audiovisuellen Features, mit denen wir sie zu packen oder zu verfälschen suchen. Und dieses Reale leidet im Moment unter Klimastress und einer massiven Artenvernichtung. Wobei die Begriffe „leiden“ und „Klimastress“ schon wieder dem narrativen Kosmos zuzurechnen sind.
Aber Sie haben recht. Das führt uns nirgendwo hin, allenfalls in eine erkenntnistheoretische Sackgasse, dabei wollen Sie bloß an den Ort, an dem ich gut unterbrochen werden kann.
Sind es etwa die sterbenden Korallenriffe, schmelzenden Gletscher und Methangashöhlen im auftauenden Permafrost, die das tun? Sowas unterbricht nicht, sagen Sie, sondern ist Teil der Story, die wir nicht mehr hören können, und das ist ja auch das Problem – die Dramaturgie, der Zusammenhang.
Wenn der Alarmknopf gedrückt wird, und es heißt: Fünf Minuten vor zwölf, wenn die Klima- und Weltuntergangsuhr nicht stehenbleibt, sondern immer vorrückt, schalten Sie die Ohren ab, denn sonst würde ja etwas geschehen. Oder etwa nicht? Kommt die Botschaft nicht mehr rüber? Dass keine Zeit mehr bleibt?
Nein, das unterbricht nicht, wiederholen Sie: Wir befinden uns mit diesen Endzeitgeschichten auf radikal auserzähltem Terrain, wir kennen das zugrundeliegende Muster zu gut – mindestens Bibel! Die Klimakatastrophe als globale Zusammenschau erreicht uns auch nicht mehr oder zumindest nicht so, wie es die erzählerische Intention möchte. Genauso wie die Neuigkeiten aus der Pandemie. Nichts hat uns in den vergangenen drei Jahren so sehr ermüdet wie Coronazahlen, und wir sind wirklich dankbar, dass wir sie nicht mehr andauernd vor die Nase gesetzt bekommen.
Aber, muss ich hier einwenden, Coronazahlen sind keine Geschichte. Zahlen sind nie Geschichten. Sie müssen in Geschichten verpackt werden, und das geht nicht immer geräuschlos vonstatten. Bei gewissen Themen hören wir mehr das Klappern der Erzählbestecke, und bei der Klimakrise wird dies besonders laut. Warum?
Fallen uns die Formen, in denen versucht wird, eine fesselnde ökologische Erzählung zu bauen, immer stärker ins Auge, weil es eben eine Welterzählung ist, also immer schon zu groß für unsere Vorstellungskraft, nur noch im Fahrwasser Bruno Latours mythologisch zu packen? Klar ist, dass die Form ihrer Erzählung nicht zu vordringlich sein darf, wollen wir sie glauben, und Glaubwürdigkeit ist nunmal die Währung der Narrative.
Der Literaturwissenschaftler Adrian Daub richtet in seinem Buch über die Diskursverwerfungen der „Cancel Culture“ unser Augenmerk auf diese literarischen Äußerungsformen der Narrative. Diese werden ja konkret hervorgerufen durch Text, Bild und Ton, auch durch technische Features, kleine Jingles, Memes.
Auf literarischer Ebene zum Beispiel gerne auch vermittels Anekdoten. Diese haben keine unwichtige Rolle in der Kommunikation über Cancel Culture und sie sind nicht gerade unschuldig. Die Anekdote gilt als zeitlos funktionierende Erzählung, verwandt dem Gerücht, das immer Aktualität simuliert, sie scheint von keinem Autor zu kommen und wird doch stets persönlich angebunden, sie besiegelt den Realitätsgehalt durch Suggestion eines realen Erfahrungshintergrundes, um über ihn hinauszugehen und zu verallgemeinern. Und alles steht in einem Zusammenhang, der nicht gezeigt wird. Literarische Formen äußern sich auch in Erzählmotiven wie der Heldenreise oder in Figurenkonstellationen wie Protagonist versus Antagonist, also wer gegen wen antritt, zum Beispiel Greta Thunberg gegen die mächtigsten Industrielobbyisten, David gegen Goliath. Uralt.
Wir haben schon festgestellt, dass das Narrativ gerne seine literarische Gemachtheit aus Legitimationsgründen verbirgt, aber zu deutliches Erzählen ermüdet eben auch.
Woran das beim Klimathema liegt, könnte uns der Soziologe Nils Kumkar zeigen. Er arbeitet in seiner Publikation über „Alternative Fakten“ die kommunikativen Strukturen in diesem Phänomen heraus. In der Klimakrisenkommunikation, vornehmlich eine Wissenschaftskommunikation, in einem epistemischen Rahmen, gibt es eben als Adressaten nicht nur die breite Öffentlichkeit, sondern auch die Politik, die dieses Wissen mal auf die eine oder andere Weise umsetzt. Die Gegenstatements der sogenannten Klimaleugner sind möglich durch das politische Misstrauen der Öffentlichkeit und nicht dazu da, etwas wahrhaftig zu falsifizieren, sondern erzeugen ein kommunikatives Rauschen, eine Irritation, die lediglich der Verschiebung dient. Das ist auch ihr Ziel.
Diese Verschiebung zu beschreiben unternimmt Kumkar anhand einer Nacherzählung eines Witzes von Sigmund Freud: „A hat von B einen kupfernen Kessel entlehnt und wird nach der Rückgabe von B verklagt, weil der Kessel nun ein großes Loch zeigt, das ihn unverwendbar macht, Die Verteidigung von A lautet: ‚Erstens habe ich von B überhaupt keinen Kessel entlehnt; zweitens hatte der Kessel bereits ein Loch, als ich ihn von B übernahm; drittens habe ich den Kessel ganz zurückgegeben.‘“
Auf die Klimakrise bezogen, folgt die Leugnungslogik des menschengemachten Klimawandels genau diesem Muster. Erst in Gänze dementieren und dann nach und nach in unlogischer Weise weitermachen. Es sind kommunikativ wegrutschende Positionen, die von ihrem Status als Gegenthese leben.
Das heißt auch, dass es niemals egal ist, wann etwas gesagt wird, und unser Augenmerk sollte nicht darauf liegen, dass ewige Gültigkeit beansprucht wird, sondern dass es Formulierungen sind, die momenthaft gegen etwas antreten. Auf Narrative bezogen, müsste man von Gegenerzählungen oder Durchkreuzungen sprechen, was natürlich auch die Dramatik einer Erzählung auszuhebeln vermag und letztlich Ermüdung erzeugt. Und was ist das Auserzählte anderes als eine ermüdete, eine erschöpfte Erzählung?
Seltsamerweise gilt die Klimakrisenerzählung schon seit langer Zeit als auserzählt. Vielleicht sogar schon von Anfang an. Zumindest ist es schwer sich den Moment vorzustellen, als wir sie noch nicht auswendig kannten.
Liegt es daran, dass diese Erzählung keine Zukünftigkeit in sich trägt, weil sie im Grunde eine Verohnmächtigungsgeste ist, eine erschöpfte Erzählung, die uns andauernd in das zu große Bild schickt? Und hat dies etwas mit der Behauptung zu tun, dass die Geschichten, erzählt von Minderheiten (Frauen, Migrant*innen, von Armut Betroffene, Queere), immer nur dieselben sein sollen? „Ihr wiederholt euch ja nur“, unterstellt man ihnen, „ihr könnt immer nur diese eine Geschichte erzählen.“ Oder ermüdet die Katastrophenerzählung, weil nichts Wirkliches in ihr geschieht? Die Katastrophe sei ohne Ereignis, formuliert es die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn mit einem Rückgriff auf Walter Benjamin in ihrem Werk Zukunft als Katastrophe, denn sie habe sich ausgewachsen zu einem dauernden Istzustand, und nur auf einen Sprung in der sich verstetigenden Katastrophe ist zu hoffen. Nichts, das einen Unterschied machen könnte, geschieht mehr. Und bei Geschichten, denen man zuhört, ist der Unterschied, der zu machen ist, wesentlich. Natürlich gibt es derzeit zahlreiche Vorstöße, genau das zu ändern, sie wirken nur oft sehr allgemein oder abstrakt. Zumindest mir geht es so, wenn ich Texte der Politökonomin Maja Göpel oder der Philosophin Eva von Redecker oder von beiden zusammen lese. Ich bewege mich dabei immer auf einer begrifflichen Makrostruktur, es geht um Freiheit, Gerechtigkeit. Es geht darum, das Wachstumsnarrativ umzuschreiben, Kreislaufwirtschaft zu etablieren, Welt wieder anzunehmen, intakte Ökosysteme zu regenerieren oder nicht-menschliche Akteure einzubinden und einen neuen Multiperspektivismus zu pflegen, zu vernetzen. Schöpfen, nicht erschöpfen.
Das ist nicht abstrakt, sagen Sie, als hätten Sie sich den Kopf gestoßen. Haben Sie auch. Und zwar an Brechts Exildachbalken: „Die Wahrheit ist immer konkret“ steht da geschrieben. Und das hier ist nicht wirklich konkret. Konkret wäre an dieser Stelle mein Problem: Was tun, damit jemand wie Sie wieder zuhört?
Das, was alle machen. Am besten wir gehen zu Stoffentwicklern von Netflix. Die wissen doch, wie man packende Stories produziert. Die wissen auch: Es gibt das Auserzählte gar nicht. Denn mal ehrlich, kann ein Stoff, ein Thema auserzählt sein? Und während wir also zu den Stoffentwicklern von Netflix gehen, das ist ungefähr noch 300 Meter geradeaus und dann links rein, sollten wir uns noch einmal fragen: Was meinen wir überhaupt, wenn wir sagen, eine Geschichte oder ein Stoff sei auserzählt? Beziehen wir uns dabei auf eine Verwertungslogik, in der sich eine Sache verbraucht? Sie sei inflationär am Markt, und es gebe keine Abnehmer für sie. Oder ist eine Erzählung einfach an ihr Ende gekommen? Sie hat einen Rand erreicht, und es ist schlicht kein Wort mehr zu verlieren, ihre Binnenökonomie, die Erzähldramaturgie hat sich erschöpft. In solche Gedanken verwickelt bleiben wir vor der Netflixtür stehen und läuten. Wir sind uns sicher, auch die Stoffentwickler müssen fest von der wahren Aufgabe der Literatur überzeugt sein: Nämlich diese vermeintlich auserzählten Stoffen wieder zurück ins Erzählbare zu bringen. Nur, welche erzählerischen Mittel sind dafür noch geeignet, die ihren Stoff und das heißt die in ihm liegende Dramatik nicht verraten?
Es braucht einfach ein paar Heldengeschichten, die an der massiven politischen Blockadehaltung scheitern. Gibt es alles schon, angefangen von The Constant Gardener von John le Carré. Oder Der Schwarm von Frank Schätzing. Nur warum erscheinen uns solche Romane seltsam harmlos? Vielleicht weil so ein Text immer noch von einem stabilen Rahmen ausgeht, in dem er zu erzählen ist. Und den gibt es nicht mehr. Darauf machte uns der indische Autor Amitav Gosh schon vor einiger Zeit aufmerksam. Der gemäßigte Alltagsrahmen der Umwelt ist ins Rutschen gekommen, und das stellt uns vor erzähltechnische Herausforderungen.
Hah, sind Sie etwa mit dem Finger schon wieder am Bildschirm oder am Radioregler, bereit, den Kanal zu wechseln? Vielleicht sollten Sie selbst zu Wort kommen? Aber ich muss Sie warnen: Sie sind in einem literarischen Text unterwegs und da geschieht nichts eins zu eins.
In einer griechischen Tragödie – eine Form, die gerade durch das Klimakrisenthema und Bruno Latours Theorien theatral wieder in Mode gekommen ist – würden Sie jetzt als Chor auftreten und es endlich aussprechen:
Wir hören nicht zu, weil es uns schon erzählt wurde. Wir hören nicht zu, weil es unsinnig ist.
Wir hören nicht zu, weil man uns ständig Vorwürfe macht. Wir hören nicht zu, weil wir nicht wirklich gemeint sind.
Wir hören nicht zu, weil die Sache zu groß ist.
Wir hören nicht zu, weil es an der Problemlage vorbeigeht.
Wir hören nicht zu, weil sich die Geschichte erschöpft hat. Wir hören nicht zu, weil ohnehin nichts geschieht.
Wir hören nicht zu, weil wir schon wissen, von wem sowas kommt.
Wir hören nicht zu, weil uns das Wörtchen wir zu oft vorkommt, und uns etwas verkauft werden soll.
Wir hören nicht zu, weil sich die Geschichte ohnehin verliert.
Das tut gut, nicht? Dieser letzte Punkt ist interessant. Denn ginge man vom Narrativ wieder zur Narration, zurück zur literarischen Form, dann liegt es, das hat nicht zuletzt die Autorin Rebecca Solnit gezeigt, durchaus in unserem Interesse, dass wir uns verlieren. „Sich nie zu verirren, heißt, nicht zu leben“ lautet ihr Credo, mit dem sie nachzeichnet, was diese Form der durchaus dramatischen Begegnung mit der Welt bedeutet. Es sind vor allem Streifzüge durch das plötzlich fremd Gewordene, Landschaften, wüste Gegenden, aber auch Städte, in denen Ein-Sich-Verlieren stattfindet, eine große Herausforderung, was in Zeiten von google-maps kaum noch vorstellbar ist.
Aber es gelingt, dazu braucht es nicht immer nur Funklöcher. Dabei wird vor allem auch die eigene Position äußerst in Frage gestellt. Solnit beantwortet diese Infragestellung mit einem Verweis auf Sokrates in paradoxer Weise: Man könne das Unbekannte kennen, weil man sich daran erinnert. „Man kenne bereits das, was unbekannt zu sein scheint; man sei bereits hier gewesen, allerdings nur als jemand anders.“ Besser jemand anders werden als sich nie zu verlieren.
Lässt sich das auf Erzähltechniken übertragen? Und kann sich eine Geschichte über das Artensterben überhaupt noch verlieren? Sind die poetischen Verlustlisten nicht genau das Gegenteil und beschwören die Anwesenheit des bereits Abwesenden? Vielleicht hat das Anna Lowenhaupt Tsing in ihrem Buch Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus versucht. Er folgt der Geschichte eines Pilzes, der aus beschädigten prekären Umwelten entsteht und in ebenfalls prekären Marktverhältnissen gesucht, gepflückt und verkauft wird. Es sind Überlebensgeschichten.
Aber ich verstehe, Sie sind nicht Rebecca Solnit und auch nicht Anna Lowenhaupt Tsing, Sie sind jemand, der oder die bereits vor den Stoffentwicklern von Netflix steht, weil sie eine Breitenwirkung jenseits des akademischen Milieus wollen, in dem ich mich angeblich verschanzt habe. Sie wollen also ein politisches Narrativ schaffen mit Hilfe der Kunst, oder, wie Sie das lieber formulieren, der Kultur, eines, das einen Unterschied macht.
Ja, immer noch stehen wir in diesem Produktionsbüro. Inzwischen haben wir erkannt, dass das auch nur so eine der vielen kleinen Filmklitschen ist, die es heute gibt. Gewohnt zu pitchen, gewohnt, eine Filmidee in drei Sätzen darzustellen. Erstaunlicherweise haben sie uns noch nicht rausgeworfen, sprechen inzwischen von dem Potential einer Erzählung zum binge watching und binge listening, also zu verführen. Das, was alle erreichen wollen. Immer schön dran bleiben. Keinen Zentimeter Abstand zwischen der Geschichte und Ihnen. Und danach, wenn die Serie endlich zu Ende ist, hat man etwas, über das man sich angeregt unterhält, wo Zuschauerforen und fan fiction communities wie Pilze aus dem Boden schießen, die dann unsere Geschichte weiterschreiben und irgendwann dann auch die Wirklichkeit umschreiben wollen. Hat man schon alles gehört: Plötzlich wollen sie einen Unterschied machen, kommen aus ihrer Fiktion, aus ihrem epischen Universum raus in die reale Welt und ÄNDERN die. Und schon haben wir sie, die Weltveränderung durch die Erzählung. Doch wo ist sie, die Welt?
„Mensch ohne Welt“, lautet der aktuelle Befund der Soziologin Alexandra Schauer über unsere Gesellschaften. Da ist uns etwas abhanden gekommen, sowas wie eine gemeinsame Öffentlichkeit, ein gemeinsamer Stadtraum, ein gemeinsames Zeitgefühl. Und jetzt stehen wir da inmitten eines Meeres an Geschichten, mehr noch, inmitten des Meeres des Auserzählten. Oder haben Sie nicht das Gefühl, mitten im Auserzählten zu stehen, das wächst, ja, es erweitert sein Terrain ständig. Warum? Vielleicht, weil wir uns, hervorgerufen von social media und der Schnelligkeit der digitalen Kommunikation, in sehr engen und erregten Diskursdebatten befinden, in denen nicht mehr klar ist, wo der reale Grund ist. Da sind sich Soziologen wie Nils Kumkar und der Literaturwissenschaftler Adrian Daub sicherlich einig.
Mit Kumkars Blickverschiebung auf das Kommunikative des Erzählens, seiner Netzstruktur wird übrigens klar: Mit Narrativen wird gepokert. Sie haben aber eine Eigenmacht, die nicht zu unterschätzen ist. Und in dieser Eigenmacht liegt auch die Möglichkeit, dass man genau das Gegenteil von dem erreicht, was man intendiert hat. Oder dass sie von anderen besetzt werden. „Vollende die Wende!“ oder „Klimaschutz ist Heimatschutz!“ Mit dieser Erinnerung an rechtsextreme Begriffsbesetzungen fliegen wir nun endgültig aus der Filmklitsche raus.
Kommt man nur durch Ermüdung an ein Ende? Sind wir hier überhaupt an ein Ende gekommen? Oder: Diese Geschichte hier ist nicht anschlussfähig.
Vielleicht benötigen wir mehr offensichtlich nicht anschlussfähige Geschichten, und nicht andauernd solche, die versuchen, anschlussfähig zu sein, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht sind. Die reale Klimakrise ist auch nicht sehr anschlussfähig, das ist vermutlich das, was am ehesten verstanden werden muss. Realismus würde hier bedeuten, nicht anschlussfähige Erzählungen zu schreiben und das inmitten radikaler Kontextabhängigkeiten. Wir sind Umwelttiere.
Insofern kann ich Sie aus meiner Erzählung auch nicht rausführen, das müssen Sie selbst tun.