Samstag, 20. April 2024

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Krieg in der Ukraine
Völkerrechtler Kreß: Deutschland darf Waffen in erheblichem Umfang liefern

Die Bundesregierung kann Waffenlieferungen an die Ukraine beschließen, ohne dadurch zur Kriegspartei zu werden, sagt der Völkerrechtler Claus Kreß. Das Land übe sein individuelles Selbstverteidigungsrecht aus, dritte Parteien dürften es unterstützen.

Claus Kreß im Gespräch mit Christoph Heinemann | 05.03.2023
Porträt des Völkerrechtlers Claus Kreß im Saal des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, 2019.
Auch wenn es im Moment unwahrscheinlich erscheine, dass Putin für die Verbrechen in der Ukraine zur Rechenschaft gezogen werde, im Völkerstrafrecht gelte das Prinzip des langen Atems, sagt Claus Kreß. (Getty Images / Anadolu Agency / International Court of Justice)
Die Völkerrechtslage sei ganz eindeutig: Die Ukraine übe ihr individuelles Selbstverteidigungsrecht aus, und dritte Staaten, darunter Deutschland, dürften sie dabei durch Waffenlieferungen unterstützen. Das sagte der Völkerrechtler Claus Kreß, der auch den Ankläger beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag berät, im Interview der Woche.
Dies gelte auch für eine mögliche Lieferung von Kampfflugzeugen. Waffenlieferungen dürften außerdem einen erheblichen Umfang annehmen.

Internationales Tribunal mit großer Signalwirkung

Kreß begrüßte, dass sich die Bundesregierung für die Einrichtung eines Sondertribunals einsetze und sprach sich dabei für ein internationales Tribunal aus.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock habe zunächst im Kern ein ukrainisches Gericht vorgeschlagen, das ukrainisches Strafrecht anwenden würde. Vor einem solchen ukrainischen Tribunal wäre nach geltendem Völkerrecht der aktive russische Staatspräsident Putin immun, also vor Strafverfolgung geschützt. Außerdem sei die Signalwirkung, die von einem ukrainischen Tribunal ausgehe, weitaus geringer als die Signalwirkung eines internationalen Tribunals, das den international anerkannten Straftatbestand anwende.
Kreß sagte, der Deutsche Bundestag solle sich für die Einrichtung eines solchen internationalen Tribunals aussprechen.
Ebenso solle das Parlament die Bemühungen der Bundesregierung unterstützten, das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs so zu ändern, dass das Verbrechen der Aggression, die Entfesselung eines Angriffskrieges, möglichst wirkungsvoll und möglichst gleichmäßig international verfolgt werden könne.

Völkerstrafrecht mit langem Atem

Kreß sagte, es erscheine im Moment unwahrscheinlich, dass der russische Präsident Putin für die Verbrechen in der Ukraine zur Rechenschaft gezogen werde. Dies sei allerdings zu Beginn völkerstrafrechtlicher Ermittlungen häufig so.
Im Völkerstrafrecht gelte das Prinzip des langen Atems. Und es gelte, vorbereitet zu sein für den Fall, dass sich plötzlich ein Fenster der Möglichkeit öffne. Schon die Eröffnung von Ermittlungen und dann erst recht ein Haftbefehlsantrag oder eine Anklageschrift seien wichtige internationale Signale.

Das Interview im Wortlaut:

Heinemann: Gast in unserem Funkhaus ist Professor Claus Kreß. Er lehrt Strafrecht und Völkerrecht an der Universität zu Köln und er ist Special Advisor, also Berater, beim Ankläger am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Und mit der letztgenannten Funktion, Berater beim Internationalen Strafgerichtshof ist das Thema der kommenden rund 25 Minuten vorgegeben. Ein Jahr Zeitenwende. Professor Kreß, was ist am 24. Februar 2022 aus völkerrechtlicher Sicht geschehen?
Kreß: An diesem Tag hat die russische Föderation einen Angriffskrieg gegen die Ukraine entfesselt. Ein Angriffskrieg ist die schwerstdenkbare Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbots. Wir sollten aber nicht vergessen, der völkerrechtswidrige Gewalteinsatz Russlands gegen die Ukraine hat lange vorher begonnen, 2014, und zwar auf der Krim.
Heinemann: Wie haben die Institutionen des Völkerrechts in den vergangenen zwölf Monaten, bleiben wir jetzt mal bei diesem Zeitraum, auf Russlands Angriffskrieg reagiert?
Kreß: Hochaktiv. Und das ist ein Lichtzeichen. Zunächst einmal ist die UNO-Generalversammlung für den von Russland blockierten Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in die Bresche gesprungen. Die Generalversammlung hat Russlands Vorgehen sehr früh als Aggression verurteilt, hat dann die Annexionen in der Ostukraine verurteilt und noch vor Kurzem hat die Generalversammlung erneut den sofortigen, bedingungslosen Rückzug aller Truppen Russlands aus dem Gebiet der Ukraine gefordert.
Dann hat der UNO-Menschenrechtsrat eine internationale Untersuchungskommission eingesetzt. Bei dieser erwarten wir in den nächsten Wochen einen umfänglichen Bericht. Der wird uns wahrscheinlich ein noch genaueres Bild von den horrenden, russischen Völkerrechtsverletzungen vermitteln. Und dann gibt es die internationale Justiz, die aktiv ist, der Internationale Gerichtshof, der Europäische Gerichtshof für die Menschenrechte und der Internationale Strafgerichtshof.
Heinemann: Sie haben, um das einzuordnen, den Irakkrieg der sogenannten Koalition der Willigen von 2003 als völkerrechtswidrig bezeichnet. Ebenso, wie Sie geschrieben haben, Auswüchse US-amerikanischer Drohneneinsätze gegen diffuse Ziele des transnationalen Terrorismus. Dann den Gewalteinsatz der Türkei in Syrien von 2019 oder Saddam Husseins Überfall auf Kuwait – 1990 war das. So, worin unterscheiden sich für den Völkerrechtler diese Gewalteinsätze von dem russischen Angriffskrieg?
Kreß: Vielleicht zunächst noch einmal zur Gemeinsamkeit. Es geht in allen Fällen leider auch um Verletzungen des völkerrechtlichen Gewaltverbots. Und wir müssen das deutlich sagen. Gerade der völkerrechtswidrige Irak-Krieg von 2003, der erweist sich bis heute als eine empfindliche Hypothek für den Westen. Aber es muss auch deutlich gesagt werden, die Dimension des Unrechts des laufenden russischen Angriffskrieges ist noch einmal eine ganz eigene. Hier verbinden sich Maßlosigkeit der Gewaltbereitschaft mit dem Ziel des Landraubs zu Lasten einer Nation, der ukrainischen Nation, deren Identität schlicht geleugnet wird.
Heinemann: Hypothek, sagten Sie gerade eben, wegen der Glaubwürdigkeit des Westens?
Kreß: Genau.

Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs teils blockiert

Heinemann: Gegen Russlands Machthaber Putin richtet sich jetzt der Verdacht eines Verbrechens der Aggression oder anders ausgedrückt, der Entfesselung eines Angriffskrieges. Der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofes kann ihn deswegen bisher aber nicht anklagen. Was folgt daraus?
Kreß: Das ist richtig. Ankläger Karim Khan sind im Hinblick auf das Verbrechen der Aggression die Hände gebunden. Die Zuständigkeitshürde ist hier besonders hoch. Es bedurfte, weil Russland keine Vertragspartei ist, des grünen Lichts des Sicherheitsrates der UNO.
Heinemann: Vertragspartei des Internationalen Strafgerichtshofes.
Kreß: Genau, des Internationalen Strafgerichtshofes. Es bedurfte des grünen Lichtes des UNO-Sicherheitsrates. Und dazu wird es natürlich solange nicht kommen, wie Putin im Amt ist und Russland das Veto einlegen kann. Und daraus folgt jetzt, dass der Internationale Strafgerichtshof auf die Entfesselung des Angriffskrieges gezielt nicht reagieren kann, denn das ginge nur über das Verbrechen der Aggression.
Und zum Zweiten bedeutet es, dass die Ermittlungen, die laufen, das Unrecht, das mit diesem Angriffskrieg verbunden ist, nur zum Teil erfassen kann. Denken Sie an die Tötung zahlloser ukrainischer Soldaten im Gefecht. Das sind keine Kriegsverbrechen, auch keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die könnten nur erfasst werden über das Verbrechen der Aggression.
Heinemann: Der Internationale Strafgerichtshof kann deshalb jetzt keine Anklage erheben, weil Russland im Sicherheitsrat sitzt. Wer ist verantwortlich für diese Einschränkung der Arbeit des Gerichtshofes?
Kreß: Das sind im Kern westliche Staaten. Frankreich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten. Und das ist eine historische Ironie, denn es sind ja diese drei westlichen Siegermächte gewesen, die zusammen mit der Sowjetunion in Nürnberg den großen historischen Präzedenzfall gegen das Verbrechen der Aggression geschaffen haben. Die haben sich nun in den Verhandlungen der letzten Jahrzehnte für diese Beschränkungen im ISTGH-Statut eingesetzt. Und diese Beschränkungen kommen nun russischen Verdächtigen zugute.
Heinemann: ISTGH ist der Internationale Strafgerichtshof. Wie ließe sich jetzt diese Schwachstelle beheben?
Kreß: Nun, das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes ist ein völkerrechtlicher Vertrag. Den kann man ändern und den müsste man ändern. Das würde anstrengend in diesem Fall, aber Außenministerin Baerbock hat sich unlängst dafür ausgesprochen. Und ich finde, das verdient nachdrückliche Zustimmung.
Heinemann: Würde wahrscheinlich auch dauern.
Kreß: Es würde eine Weile dauern. Zunächst die Verhandlungen, dann bedürfe es der Ratifikation.

Anklage wegen Kriegsverbrechen schon jetzt möglich

Heinemann: Welche Straftaten kann der Internationale Strafgerichtshof denn jetzt bereits zur Anklage bringen?
Kreß: Das sind Kriegsverbrechen, Menschlichkeitsverbrechen und Völkermord. Und, um es etwas konkreter zu machen, es ginge um gezielte Angriffe auf Zivilisten, um die Tötung und Misshandlung von Gefangenen, um Vergewaltigungen oder andere Sexualdelikte und auch in dieser Situation um die Deportation von Kindern.
Heinemann: Tötung von Gefangenen – gilt das auch für mutmaßliche Kriegsverbrechen der ukrainischen Seite?
Kreß: Der Ankläger nach dem Statut kann, ja, er muss sogar, in alle Richtungen ermitteln. Das ist wichtig für die Legitimität. Allerdings geht es bei dem Internationalen Strafgerichtshof um großflächige, systematische Verbrechen. Und ich habe keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass es zu solchen Verbrechen auf der ukrainischen Seite gekommen sein könnte.
Heinemann: Also, der Ankläger könnte jetzt loslegen. Aber wieso hat Karim Khan, der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes, bisher noch keine Anklage erhoben?
Kreß: Dazu kann ich auch nur eine Vermutung anstellen. Sie müssen bedenken, im Visier des Internationalen Strafgerichtshofes sind nicht einfache russische Fußsoldaten. Der Internationale Strafgerichtshof wird eine bestimmte Kommandostufe ins Visier nehmen. Und da gilt der Grundsatz: Je höher sie innerhalb der Befehlskette ansetzen, desto anspruchsvoller werden die Ermittlungen. Und das natürlich insbesondere in einem laufenden Angriffskrieg.
Es ist im Übrigen daran zu erinnern, es hat in der bisherigen Praxis des Internationalen Strafgerichtshofes Haftbefehlsanträge, Anklageschriften gegeben. Die haben richterlicher Prüfung nicht standgehalten. Da lag so ein bisschen der Verdacht, die Befürchtung im Raum, die seien hastig erstellt worden, vielleicht auch unter politischem Druck. Und das wird der Ankläger in dieser Situation nicht wiederholen wollen.
Heinemann: Auf dessen Schultern also ein großer Druck lastet.
Kreß: Also, die Erwartung ist von vielen Seiten sehr, sehr groß – in Anführungszeichen – „zu liefern“.

Internationales statt hybrides Sondertribunal

Heinemann: Völkerrechtler Professor Claus Kreß ist auch Berater des Anklägers beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Professor Kreß, längst wird an der Einrichtung eines Sondertribunals der Vereinten Nationen gearbeitet. Wie könnte ein solches Sondertribunal gebildet werden?
Kreß: Hierfür gibt es ein klares Modell. Die Vereinten Nationen und die Ukraine würden einen völkerrechtlichen Vertrag schließen. Dieser Vertrag würde ein internationales Tribunal zur Entstehung bringen. Auf der Seite der Vereinten Nationen würde der Generalsekretär agieren und dies auf ein Ersuchen der UNO-Generalversammlung hin.
Heinemann: Sie haben, um das zu unterscheiden, den Vorschlag von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock zur Einrichtung eines sogenannten hybriden Sondertribunals kritisiert. Welcher Unterschied besteht zwischen hybrid und international?
Kreß: Der Begriff hybrid ist nicht sehr klar. Was Frau Baerbock in diesem ursprünglichen Vorschlag vorschwebte, war im Kern ein ukrainisches Tribunal, das vor allem ukrainisches Strafrecht anwenden soll. Und vor einem solchen ukrainischen Tribunal wäre nach dem geltenden Völkerrecht der aktive Staatspräsident Putin immun, also vor Strafverfolgung geschützt. Das ist nun kein kleiner Punkt, denn Präsident Putin ist der Hauptverdächtige.
Und zum Zweiten wäre natürlich die Signalwirkung, die von einem ukrainischen Tribunal, das ukrainisches Strafrecht anwendet, weitaus geringer als die Signalwirkung eines internationalen Tribunals, das den international anerkannten Straftatbestand anwendet. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben unlängst, und ich finde, sehr richtig festgestellt, die Verfolgung des Verbrechens der Aggression liegt im Interesse der internationalen Gemeinschaft insgesamt. Dem würde es entsprechen, dass ein internationales Tribunal ein entsprechend eindrucksvolles Signal aussendet.
Heinemann: Vor dem internationalen Sondertribunal wäre Putin nicht geschützt.
Kreß: So ist das. Wir haben eine klare internationale Rechtsprechung. Und man darf davon ausgehen, dass sich die Richter eines internationalen Tribunals daran orientieren würden. Und die sagt, dass sich an dieser Stelle eben ein genuin internationales Tribunal von einem nationalen Tribunal unterscheidet.

Sondertribunal könnte Internationalen Strafgerichtshof stärken

Heinemann: Bundesjustizminister Marco Buschmann schrieb in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ jetzt kürzlich, dieses Sondertribunal müsse so gestaltet werden, dass der Internationale Strafgerichtshof nicht gefährdet werde. Was bedeutet die Einrichtung jetzt eines Sondertribunals für diesen Internationalen Strafgerichtshof, in dessen Zuständigkeit diese Straftaten ja eigentlich gehörten?
Kreß: Dem Bundesjustizminister ist uneingeschränkt zuzustimmen. Natürlich darf der Internationale Strafgerichtshof nicht geschwächt werden. Das würde bei dem Modell eines internationalen Tribunals, das ich eben skizziert habe, auch berücksichtigt. Die laufenden, sehr wichtigen Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofes würden in keiner Weise beeinträchtigt. Es würden dem Internationalen Strafgerichtshof auch keine Mittel entzogen.
Jetzt ist der Internationale Strafgerichtshof kein Monopolist. Er ist ein Pfeiler im Rahmen eines flexiblen Systems, in dem je nach Situation mehrere Akteure zum Einsatz kommen, um ein übergeordnetes Ziel zu verfolgen. Und das ist die möglichst umfassende Verfolgung von Völkerstraftaten. Und so wäre es auch hier. Das internationale Sondertribunal und der Internationale Strafgerichtshof würden komplementär wirken.
Ich würde sogar sagen, dass ein internationales Sondertribunal den Internationalen Strafgerichtshof stärken könnte. Denken Sie einmal zurück an die Sondertribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda. Die haben dem Internationalen Strafgerichtshof den Weg gebahnt. Und genauso könnte ein internationales Sondertribunal für das Verbrechen der Aggression, der Behebung der Schwachstelle den Weg bahnen, die wir im Moment im ISTGH-Statut haben.
Allerdings müsste es dazu wirklich ein internationales Tribunal sein, das den internationalen Tatbestand anwendet und nicht ein hybrides Tribunal, von dem ja gerade das Signal ausginge: Wir weichen der Anwendung des internationalen Straftatbestandes aus und wenden stattdessen nur nationales Recht an.

"Im Völkerstrafrecht gilt das Prinzip des langen Atems"

Heinemann: Professor Kreß, Sie sind Wissenschaftler, kein Wahrsager. Trotzdem die Frage: Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass Putin und/oder andere Verantwortliche seines Machtzirkels für die Verbrechen in der Ukraine zur Rechenschaft gezogen werden?
Kreß: Das erscheint im Moment gewiss unwahrscheinlich, aber das ist zu Beginn völkerstrafrechtlicher Ermittlungen häufig so. Im Völkerstrafrecht gilt das Prinzip des langen Atems. Es gilt, vorbereitet zu sein für den Fall, dass sich plötzlich ein Fenster der Möglichkeit öffnet und im Übrigen auch schon Zwischenschritte in einem internationalen Verfahren. Schon die Eröffnung von Ermittlungen und dann erst recht ein Haftbefehlsantrag oder eine Anklageschrift, das sind wichtige internationale Signale.
Heinemann: Welche Rolle spielt die deutsche Justiz bei der Aufarbeitung mutmaßlicher Verbrechen während des russischen Angriffskrieges?
Kreß: Die deutsche Justiz ist bereit, ihren Beitrag zu leisten. Der Generalbundesanwalt hat die Situation in der Ukraine früh ins Visier genommen, schon 2015. Zunächst im Hinblick auf Vorgänge in der Ostukraine und jetzt beobachtet er natürlich genau mögliche Völkerstraftaten im Zuge des laufenden Angriffskrieges. Man will vorbereitet sein für den Fall, dass ein Verdächtiger Fuß auf deutschen Boden setzt. Man könnte sich aber auch vorstellen, dass es einmal zu einem deutschen Auslieferungsersuchen kommt.
In beiden Fällen ginge es um deutsche Weltrechtspflege, so, wie sie in den letzten Jahren ja international für einige Aufmerksamkeit gesorgt hat. Ich erinnere an die Verurteilungen von syrischen Geheimdienstmitarbeitern wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und auch an die Verurteilung eines Kämpfers des sogenannten Islamischen Staats wegen Völkermordes zulasten der Jesiden. Das waren Pionierleistungen, etwa in dem letzten Fall, das erste Urteil wegen Völkermordes zulasten der Jesiden durch ein nationales Gericht weltweit.
Heinemann: Weltrechtspflege bedeutet, Deutschland würde in diesem Fall quasi treuhänderisch die Strafverfolgung übernehmen.
Kreß: Das ist ganz präzise, genau.
Heinemann: Marco Buschmann hat jetzt Eckpunkte für die Verbesserung von deutschen Strafverfahren wegen internationaler Verbrechen vorgelegt. Unter anderem schlägt der Bundesjustizminister vor, dass sich Opfer von Kriegsverbrechen oder von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in solchen Verfahren, die jetzt in Deutschland, wie gerade besprochen, wegen dieser Verbrechen geführt werden, dass diese künftig als Nebenklägerinnen, als Nebenkläger sich anschließen können. Wie bewerten Sie diese Reforminitiative?
Kreß: Ich habe mich über diese Initiative sehr gefreut. Sie greift zwei sehr wichtige Felder auf. Zum einen die Verbesserung der Stellung der Opfer in deutschen Völkerstrafverfahren und dann zum Zweiten die Frage der Verbreitung dessen, was die deutsche Strafjustiz tut, insbesondere über Deutschlands Grenzen hinaus. Und das sind genau die beiden Problemfelder, die in der Praxis, über die wir gerade gesprochen haben, zutage getreten sind. Insofern finde ich, dass hier die Grundrichtung genau stimmt. Was die Feinheiten anbetrifft, müssen wir die Gesetzesentwürfe abwarten.
Heinemann: Übrigens ein Problem, das Sie in einem Gespräch hier im Deutschlandfunk vor einem Jahr schon mal skizziert haben und daraufhin ist einiges geschehen.
Kreß: Und darüber darf man sich vielleicht besonders freuen.

"Deutschland darf Ukraine mit Waffenlieferungen unterstützen"

Heinemann: Putin hat zur Rechtfertigung seines Angriffskrieges Begriffe des Völkerrechts bemüht, etwa behauptet, er wolle einen Völkermord verhindern. Wie erklären Sie es sich, dass derjenige, der das Völkerrecht nicht achtet, um es vorsichtig auszudrücken, mit dem Völkerrecht argumentiert?
Kreß: Es geht um Außenwirkung. Putin ist natürlich darauf bedacht, dass die wenigen Staaten, die ihn bisher nicht offen verurteilt haben, bei der Stange bleiben. Und würde er nun auch verbal aus dem Völkerrecht ausbrechen, würde er es diesen Staaten schwerer machen, denn es ist für jeden Staat mit einem ganz erheblichen Reputationsverlust verbunden, sich offen gegen das geltende Völkerrecht zu stellen. Wir dürfen uns nur von Putin nicht täuschen lassen. Er ist bereit, völkerrechtliche Begriffe zu manipulieren, sie zur Not bis zu einer inhaltsleeren Worthülse zu degradieren.
Heinemann: Professor Kreß, in Deutschland wurde immer wieder die Sorge geäußert, Deutschland könne Kriegspartei werden. Inwiefern gestattet es das Völkerrecht einem Land, wie jetzt zum Beispiel Deutschland, ein angegriffenes Land, wie die Ukraine, mit Waffen- und Munitionslieferung zu unterstützen?
Kreß: Die Völkerrechtslage ist ganz eindeutig. Die Ukraine übt ihr individuelles Selbstverteidigungsrecht aus und dritte Staaten, darunter Deutschland, dürfen sie dabei durch Waffenlieferungen unterstützen.
Heinemann: Das heißt, bei Waffenlieferungen an ein Land, das sich selbst verteidigt, setzt das Völkerrecht keine Grenzen in Art und Umfang?
Kreß: Es gibt natürlich verbotene Waffen. Die dürfte Deutschland nicht liefern. Nehmen Sie das Beispiel chemischer Waffen etwa. Aber im Übrigen gilt: Die Ukraine übt ihr individuelles Selbstverteidigungsrecht erlaubt aus und das darf Deutschland mit Waffenlieferungen unterstützen. Und diese Waffenlieferungen dürfen auch einen erheblichen Umfang annehmen.
Heinemann: Panzer oder Kampfflugzeuge sogar – und darüber wird ja diskutiert – das wäre okay?
Kreß: Es besteht an dieser Stelle auch kein Unterschied zwischen Waffen und Kampfflugzeugen.
Heinemann: Sie haben jüngst geschrieben, der russische Angriffskrieg habe das völkerrechtliche Gewaltverbot einer erhöhten Erosionsgefahr ausgesetzt. Das heißt, auch andere könnten sich daran nicht mehr gebunden fühlen. Welche Folgen für das Völkerrecht hat Putins Krieg?
Kreß: Es besteht in der Tat die Gefahr der Nachahmung. Es besteht die Gefahr einer steigenden Tendenz, dass politische Konflikte gewaltsam ausgetragen werden, dass imperialistische Ziele gewaltsam verwirklicht werden. Insofern ist Russlands Angriffskrieg nicht nur ein fürchterlicher Überfall auf die Ukraine, es ist auch ein Großangriff auf das völkerrechtliche Gewaltverbot. Und auch aus diesem Grund ist es so wichtig, ihm entschieden entgegenzutreten. Und genau an dieser Stelle hat das Völkerstrafrecht eine zentrale Funktion.

Kreß: "kluge" zweigleisige Strategie der Außenministerin

Heinemann: Wir haben eben schon mal über die Nürnberger Prozesse gesprochen. Ein kleiner Teil der deutschen Aggressoren stand ja nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg vor Gericht. Wie bewerten Sie die Haltung der Bundesregierung der vergangenen zwölf Monate, wenn es um die Verteidigung des Gewaltverbotes und die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofes bei der Frage der Aggression geht?
Kreß: Ich finde es sehr wichtig, dass Sie Nürnberg ansprechen an dieser Stelle. Bei diesem historischen Nürnberger Präzedenzfall gegen das Verbrechen der Aggression, früher sprach man von Verbrechen gegen den Frieden, ging es um fürchterliche deutsche Angriffskriege. Und daraus hat die deutsche Außenpolitik eine besondere Verpflichtung abgeleitet, die Verpflichtung, sich ganz besonders einzusetzen dafür, dass Verbrechen der Aggression möglichst wirkungsvoll und möglichst gleichmäßig international verfolgt werden.
Und die Bundesregierungen haben in den letzten 25 Jahren dementsprechend gehandelt. Die deutsche Außenpolitik war maßgeblich daran beteiligt – und das war nicht leicht –, das Verbrechen der Aggression überhaupt in die Zuständigkeit des internationalen Strafgerichtshofes zu bringen – zunächst als Platzhalter. Und dann wiederum über viele Jahre haben Bundesregierungen maßgeblich daran mitgewirkt, dass das Verbrechen der Aggression im Statut des Internationalen Strafgerichtshofes definiert wurde, und zwar auf der Grundlage eines internationalen Konsenses. Das hat internationale Aufmerksamkeit gefunden und der deutschen Außenpolitik Respekt eingebracht.
Vor dem Hintergrund war ich erstaunt, dass die Bundesregierung in den ersten Monaten nach der Entfesselung des Angriffskrieges im letzten Jahr das Thema Verbrechen der Aggression beschwiegen hat und dies, obwohl die Bundesaußenministerin sogleich sehr klar und sehr zutreffend das russische Vorgehen als Angriffskrieg benannt hat.
Jetzt inzwischen hat sich die Haltung der Bundesregierung allerdings entwickelt. Die Bundesregierung ist aktiv geworden. Die Außenministerin hat im Januar, in Den Haag sicherlich nicht zufällig vor der Akademie für Internationales Recht eine eindrucksvolle Rede gehalten, bei der sie das völkerrechtliche Gewaltverbot ins Zentrum gestellt hat. Und sie hat für eine zweigleisige Strategie plädiert, um die bestehende Schwachstelle in der internationalen Architektur zu überwinden. Einerseits Einrichtung eines Sondertribunals und zweitens Änderung des ISTGH-Statuts.
Das ist eine sehr gute, eine sehr kluge Strategie, weil sie deutlich macht, Deutschland geht es nicht nur um diesen einen Fall des russischen Angriffskrieges. Deutschland geht es darum, die völkerrechtliche Architektur auf Dauer zu verbessern.
Heinemann: Erhöht die Glaubwürdigkeit.
Kreß: Und das erhöht die Glaubwürdigkeit. Das erlaubt ein glaubwürdiges Engagement, etwa auch mit dem globalen Süden. Nur, an einer Stelle ist die Rede noch halbherzig geblieben. Wir haben darüber gesprochen. Weil es eben nicht hieß, dass ein internationales Sondertribunal einzurichten sei, sondern nur ein ukrainisches. An der Stelle, hoffe ich, ist das letzte Wort noch nicht gefallen, bleibt die Bundesregierung für sachliche Argumente offen.
Und ich hoffe, dass sich der Bundestag, auch das würde deutscher Tradition an dieser Stelle entsprechen, zu Wort meldet. Der Bundestag könnte sich – und ich meine, er sollte sich – in einer Entschließung für eine zweigleisige Strategie unter Einschluss eines internationalen Tribunals aussprechen. Wenn darauf dann die Bundesregierung einginge, dann wäre die deutsche Außenpolitik wieder ganz im Einklang mit der großen Linie der letzten 25 Jahre, die ich skizziert habe.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.