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Covid-19
Familienministerin Spiegel lehnt Impfpflicht für Kinder und Jugendliche ab

Die Umsetzung einer Impfpflicht hält Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) für richtig, da alle anderen Mittel ausgeschöpft seien. Kinder und Jugendliche sollten jedoch davon ausgenommen werden, betonte sie im Dlf. Es gehe darum, dass sich Erwachsene solidarisch zeigten.

Anne Spiegel im Gespräch mit Stefan Heinlein | 17.01.2022
Impfstützpunkt Rhein-Neckar - Kinderimpfaktion
Anne Spiegel (Bündnis 90 / Die Grünen), Bundesfamilienministerin bei einem Besuch einer Impfstraße für Kinder. (picture alliance/dpa)
Die vergangenen zwei Jahre waren für viele Familien ein echter Härtetest. Geschlossene Schulen und Kitas, kaum Kontakte zu Gleichaltrigen. Kinder und Jugendliche brachten im Lockdown viele Opfer, um ihre Eltern und Großeltern zu schützen. Nun liege es vor allem an den Erwachsenen, sich impfen und boostern zu lassen, sagte Bundesfamilienministerin Anne Spiegel im Dlf. Es gehe dabei auch um einen "Akt der Solidarität Kindern und Jugendlichen gegenüber".
Die Pandemie sei für Kinder und Jugendliche deutlich schwieriger gewesen als für "uns Erwachsene", so Spiegel. Die jungen Menschen seien in einer "sehr sensiblen Entwicklungsphase, wo sie den Kontakt zu Gleichaltrigen ganz unbedingt brauchen“. Sehr viele Kinder hätten kaum noch Erinnerungen an die Zeit vor der Pandemie. 

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Mit Blick auf eine höhere Impfquote seien "leider alle anderen Mittel ausgeschöpft". "Von daher halte ich es für richtig, dass jetzt über eine Impfpflicht gesprochen und die dann auch umgesetzt wird“, so Spiegel. Allerdings sollte es absolut klar sein, "dass bei einer Impfpflicht wir über Erwachsene sprechen und nicht Kinder und Jugendliche."
Impfkommission empfiehlt Corona-Impfung für 12- bis 17-Jaehrige.Themenbild -Symbolfoto:Corona Schutzimpfung fuer Kinder und Jugendliche,Impfung. Jugendlicher (14 Jahre alt) vor Impfung, Auf dem Impfgipfel beraten Bund und Laender darueber, ob und wie schnell Minderjaehrige geimpft werden. Impfangebot fuer Kinder und Jugendliche. Impfspritze,Spritze,Impfstoff zur Injektion mit einer Kanuele. Model Released! ¬
Sollte eine Impfpflicht auch für Jugendliche und Kinder gelten?Familienministerin Anne Spiegel ist dagegen. (picture alliance / SvenSimon / Frank Hoermann)
Das Interview im Wortlaut
Stefan Heinlein: Eine aktuelle Studie der Uniklinik Essen belegt: Die Suizidversuche unter Jugendlichen haben sich am Ende des zweiten Corona-Lockdowns mehr als verdreifacht. Wie erklären Sie sich, Frau Ministerin, diese dramatische Entwicklung?
Anne Spiegel: Das sind wirklich alarmierende und erschreckende Zahlen und ich erkläre mir das vor allen Dingen dadurch, dass der komplette Alltag von Kindern und Jugendlichen ins Rutschen geraten ist. Natürlich war es falsch, dass Kitas und Schulen so lange geschlossen waren, und es ist gut, dass wir uns alle zusammen in der Politik, auch die KMK, auch die Länder und auch der Bund vorgenommen haben, dass Schulen und Kitas zu allerletzt geschlossen gehören und nicht zu allererst. Aber auch der Alltag fern von Kita und Schule hat sich sehr stark verändert, und dass vor allen Dingen der Kontakt mit Gleichaltrigen gefehlt hat, das hat viele Kinder und Jugendliche sehr schwer getroffen.

"Ältere Generationen müssen sich jetzt solidarisch zeigen"

Heinlein: Waren Schulschließungen und der Verzicht auf soziale Kontakte für Kinder möglicherweise sogar gefährlicher als das Virus? Kann man es so zuspitzen?
Spiegel: Mit Zuspitzungen bin ich immer vorsichtig in der Corona-Pandemie, aber ich würde auf jeden Fall sagen, dass es für die Kinder und Jugendlichen wesentlich schwieriger war als für uns Erwachsene, denn sie sind in einer sehr, sehr sensiblen Entwicklungsphase, wo sie den Kontakt zu Gleichaltrigen ganz unbedingt brauchen. Vor allen Dingen Jugendliche, die sich ja eigentlich in einem Abnabelungsprozess von der Familie, von Zuhause befinden, wenn die dann auf einmal fast nur noch zuhause sind und keinen Kontakt mit Gleichaltrigen haben, außer über digitale Möglichkeiten, dann hinterlässt das Spuren und das sollte uns allen auch eine große Warnung sein, dass wir jetzt hier vor allen Dingen Solidarität zeigen. Die älteren Generationen müssen sich jetzt solidarisch zeigen mit den jüngeren, zum Beispiel beim Thema Impfungen, und sich impfen und boostern lassen.

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Heinlein: Der Lockdown, Frau Ministerin, war für Kinder schwieriger als für Erwachsene, haben Sie gesagt. Haben Staat und Gesellschaft die Pandemie-Bekämpfung auf dem Rücken der Kinder und Jugendlichen ausgetragen, zumindest für einige Zeit?
Spiegel: Es war sicherlich zu lange, als die Kitas und Schulen geschlossen wurden. Wir waren damals zwar in einer anderen Phase der Pandemie, aber ich finde, die Lehre daraus sollte sein – und das findet sich ja jetzt auch so in den politischen Rahmenbedingungen; das begrüße ich auch -, dass es eine politische breite Einigkeit gibt, dass man Kitas und Schulen wirklich nicht als allererstes wieder schließen möchte, dass das ganz am Ende der Liste kommt und dass wir erst darüber sprechen müssen, und zwar in aller Vehemenz, wie wir es schaffen, dass sich einerseits Erwachsene impfen und boostern lassen, oder dass Erwachsene auch ihre Kontakte reduzieren, auch als ein Akt der Solidarität Kindern und Jugendlichen gegenüber.

"Habe Karl Lauterbach als wahnsinnig klugen, kompetenten und tollen Kollegen erlebt"

Heinlein: Interessant in diesem Zusammenhang, Frau Spiegel: Für Gesundheitsminister Karl Lauterbach sind die Zusammenhänge zwischen Lockdown und den negativen Belastungen für Kinder und Jugendliche, die Sie gerade beschrieben haben, nicht hinreichend wissenschaftlich bewiesen. Wie bewerten Sie die Zweifel Ihres Kabinettskollegen?
Spiegel: Na ja. Wenn ich das richtig verstanden habe, ging es ihm nicht nur um den Lockdown, sondern um die Pandemie insgesamt, und da hat er insoweit recht, als dass der Lockdown verschärfend dazu beigetragen hat. Aber ich glaube, die Corona-Pandemie insgesamt macht Kindern und Jugendlichen zu schaffen, auch der Alltag, der nicht Kita und Schule ist, hat sich ja stark verändert. Wenn wir uns das überlegen: Wir alle haben noch Erinnerungen an die Zeit vor der Pandemie, sehr, sehr schöne Erinnerungen. Aber viele Kinder haben eigentlich kaum oder keine Erinnerungen mehr an die Zeit vor der Pandemie, als noch keine Einschränkungen da waren, und das ist sehr schwerwiegend auch für die Psyche eines kleinen Menschen.
Heinlein: Nun wirft die Opposition Karl Lauterbach vor, das Leid der Kinder kleinzureden mit seiner Bemerkung. Das sei respektlos, das sei weltfremd. Frau Spiegel, fehlt dem Politiker und dem hochdekorierten Wissenschaftler Lauterbach tatsächlich der Bezug zum Alltag der Familien?
Spiegel: Ach was! Da würde ich entschieden widersprechen. Ich habe Karl Lauterbach bisher wirklich als wahnsinnig klugen, kompetenten und tollen Kollegen erlebt. Ich bin sehr froh und fühle mich auch geehrt, dass ich mit so jemandem in der Bundesregierung arbeiten darf. Ich nehme, ehrlich gesagt, überall, wo ich Gespräche führe, ein großes Aufatmen wahr, dass so jemand sich jetzt um die Bekämpfung der Corona-Pandemie kümmert.

"Entwicklung der Zahlen lässt nicht unbedingt optimistische Zukunftsthesen verbreiten"

Heinlein: Ist es aber auch, Frau Spiegel, nicht die Aufgabe der Politik, auch die Aufgabe eines Gesundheitsministers, in dieser Pandemie auch einmal Zuversicht, auch mal Optimismus zu verbreiten? Karl Lauterbach ist ja vor allem aufgefallen - auch aktuell - als Cassandra, der ständig mahnt und den Worst Case an die Schultafel malt. Das wirkt ja auch auf die Psyche von Kindern und Jugendlichen.
Spiegel: Na ja. Aber ich finde, Optimismus sollte dann verbreitet werden, wenn es Anlass zu Optimismus gibt, und wenn man ehrlich ist: Die Entwicklung der Zahlen lässt nicht unbedingt optimistische Zukunftsthesen verbreiten für die nächsten Tage. Dann ist es meines Erachtens vollkommen richtig, dass man auf den Fakten und Zahlen, auf dem, was auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sagen, basierend, sagt, es sind im Moment sehr, sehr schwere Tage. Auch alle Berechnungen, die ich sehe, und alle Modelle, das ist jetzt schon eine ganz, ganz schwierige Phase der Pandemie, weshalb wir alle gefordert sind, alles daran zu setzen, einerseits auf Kinder und Jugendliche zu achten, aber auch für mich ist wichtige Richtschnur, das Gesundheitssystem darf nicht über seine Grenzen hinauskommen. Dass hier Karl Lauterbach auch mahnend agiert, halte ich für vollkommen richtig.
Grundschülerinnen sitzen mit Mund-Nasen-Schutz in einem Klassenraum in Düsseldorf, vor ihnen liegen die Corona-Teststäbchen für den sogenannten Lolli-Test
Lolli-Test an einer Grundschule - Alltag für Schüler und Kitakinder (Imago/ Political Moments)
Heinlein: Eine ganz schwierige Situation erwarten Sie in den kommenden Wochen. Damit sind Sie ja nicht allein, Frau Spiegel. Welche Erwartungen haben Sie denn für die kommenden Wochen? Omikron – Sie sagen es – breitet sich immer weiter aus und viele Kinder und Jugendliche sind noch nicht geimpft, geschweige denn geboostert. Die Schulen haben aber wieder offen.
Spiegel: Auch wenn das sehr schwierig ist, müssen wir ein Stück weit auf Sicht fahren, denn was in dieser Woche die richtigen Maßnahmen sind, das kann sich in so einer dynamischen Situation innerhalb von drei oder vier Wochen noch mal sehr stark ändern. Das mussten wir ja alle auch in der Vergangenheit erfahren. Von daher finde ich es richtig, dass es in Kürze auch wieder eine MPK, eine Konferenz von Bund und Ländern gibt. Ich finde es richtig, da noch mal draufzuschauen, ob die Maßnahmen noch adäquat sind oder ob nachgeschärft werden muss. Klar ist, auch dann wird nicht über Lockerungen zu reden sein, sondern eher die Frage, wo man noch mal nachschärfen, nachziehen kann und muss. Aber Stand heute würde ich sagen, mit den Maßnahmen, die wir schon kennen, Kontakte reduzieren, Kontakte vielleicht auf einen späteren Zeitpunkt verlagern und Maske tragen, sich impfen und boostern lassen und sich auch oft testen lassen – auch da hat Herr Lauterbach recht -, ich denke, das sind die Dinge, um jetzt gut über diese Woche zu kommen, und hoffentlich gesund.

"Die Schulen bleiben offen, das finde ich auch richtig"

Heinlein: Gelockert, Frau Spiegel, sind die Quarantäne-Regelungen. Wie risikoreich gerade für Kinder und Jugendliche sind diese gelockerten Quarantäne-Regelungen, auch angesichts der wieder im Präsenzunterricht befindlichen Schulen?
Spiegel: Meines Erachtens ist man hier mit Augenmaß vorgegangen, denn der Blick in andere europäische und auch internationale Länder zeigt ja ganz deutlich, dass Omikron leider dazu führen kann, dass wirklich empfindliche Teile gerade der kritischen Infrastruktur – und damit meine ich Kliniken und Krankenhäuser, aber auch viel mehr, auch Supermärkte, Polizei, Feuerwehr, die Bildungseinrichtungen – an ihre Grenzen kommen. Von daher ist man hier mit Augenmaß vorgegangen. Klar ist auch, die Schulen bleiben offen. Das finde ich auch richtig. Aber es wird regelmäßig getestet. Es gibt das Maskentragen und mein Eindruck ist wie gesagt, dass jetzt eher wir Erwachsenen gefragt sind, noch mal stärker, wenn es um Nachschärfungen geht, dass wir uns alle selbst in die Pflicht nehmen.

Impfpflicht: "Man muss schauen, ob es gestufte Modelle gibt"

Heinlein: Sie haben das Impfen mehrfach in Ihren Antworten angemahnt, angemerkt. Frau Spiegel, wie schnell muss es jetzt gehen mit einer allgemeinen Impfpflicht? Denn die Impfquote ist ja im Vergleich zu anderen Ländern, zu Spanien etwa, in Deutschland immer noch sehr gering und es geht nur ganz, ganz langsam vorwärts.
Spiegel: Die Impfpflicht ist ja nicht das richtige Instrument, um jetzt in den nächsten Tagen oder Wochen bei der Impfquote voranzukommen. Von daher setze ich bis dahin nach wie vor auf Boostern und auf viele, die sich jetzt vielleicht doch entscheiden lassen, sich impfen zu lassen. Aber ich halte es für absolut richtig, dass der Bundestag über eine Impfpflicht diskutiert, dass es dort entsprechende Anträge gibt. Und ja, ehrlich gesagt: Nach den Zahlen und Daten, die ich kenne, nach den Diskussionen, die ich geführt habe – ich bin davon überzeugt, wir haben leider alle anderen Mittel so weit ausgeschöpft. Von daher halte ich es für richtig, dass jetzt über eine Impfpflicht gesprochen wird und die dann auch umgesetzt wird.
Heinlein: Muss es auch eine Impfpflicht für Kinder und Jugendliche geben? Die entsprechenden Vakzine sind ja bereits auf dem Markt.
Spiegel: Ich muss sagen, das ist genau das, was mir wichtig ist, dass man solche Debatten erst mal führt auf die Erwachsenen hingerichtet. Von daher bin ich der Auffassung, man muss schauen, ob es gestufte Modelle gibt. Aber es sollte absolut klar sein und ich bin da klar, dass bei einer Impfpflicht wir über Erwachsene sprechen und nicht Kinder und Jugendliche. Denn wie gesagt, es geht wirklich jetzt darum, dass wir Erwachsenen schauen, was können wir in dieser Pandemie tun und wie können wir uns solidarisch zeigen.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.//