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Gesellschaft im Sog der Infantilisierung
Spiel, Spaß und ewige Jugend

Unsere Gesellschaften, unsere Kultur und vor allem unsere populären Medien erzeugen einen Sog in Richtung einer „Infantilisierung“, die gewisse Gefahren für die kulturelle Identität und die Wissensgesellschaft bedeutet.

Von Markus Metz und Georg Seeßlen |
Vier grimassierend lachende Personen vor einer Achterbahn.
Wird Spaß-Haben zum beständigen Lebensziel? (imago images / Panthermedia / "TeamDAF" via www.imago-images.de)
Infantilisierungsbilder sind Teile von Machtverhältnissen. Infantilisierung scheint vor allem ein probates Mittel für die Manipulation von Konsumwünschen, weswegen der Grad an Infantilisierung einer Gesellschaft auch gern an ihren Werbebotschaften bemessen wird. Sie enthalten nicht zuletzt oft eine Sehnsucht nach einer Kindheit, die es nie gab.
Unter Infantilisierung versteht man im Allgemeinen eine Vermischung von drei Impulsen: Da ist einmal die Komplexitätsreduzierung – ein Widerwillen gegen alles Komplizierte, Widersprüchliche und Relativierende. Zweitens ist die Verwandlung aller Kommunikationsformen in „Spiel und Spaß“ zu beobachten, mit einem Hang zu Intimisierung und Verniedlichung. Und drittens ist da der Sieg des kindlichen Narzissmus und Egoismus über erwachsene Verantwortlichkeit und Reflexion.
Aber kommen wir mit diesem gewiss etwas „kulturpessimistischen“ Modell überhaupt weiter, das heißt, der Verfassung unserer eigenen Kultur auf die Spur? Ist der Vorwurf der Infantilisierung gar „klassistisch“ oder „elitär“, also von Leuten erhoben, die sich als etwas Besseres wähnen? Taugt er zur Beschreibung einer Flucht vor der Unübersichtlichkeit und Widersinnigkeit der Realität?
Markus Metz, geboren 1958, studierte Publizistik, Politik und Theaterwissenschaft, er lebt als Hörfunkjournalist und Autor in München. Zuletzt erschien von ihm „Wir Kleinbürger 4.0. Die neue Koalition und ihre Gesellschaft“ (Edition Tiamat, Berlin) und „Apokalypse & Karneval. Neoliberalismus: Next Level“ (Bertz & Fischer, Berlin), beide gemeinsam mit Georg Seeßlen.
Georg Seeßlen, geboren 1948, hat in München Malerei, Kunstgeschichte und Semiologie studiert. Er war Dozent an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland und schreibt heute als freier Autor unter anderem für Die Zeit, Frankfurter Rundschau, taz und epd Film. Außerdem hat er rund 20 Filmbücher verfasst und Dokumentarfilme fürs Fernsehen gedreht.

„Bei uns ist die Arbeitsatmosphäre sehr wichtig: Zum Geburtstag werden unsere Mitarbeiter immer von allen mit Stofftieren beworfen und dabei besungen – bestimmt ist das einer der Gründe, warum wir sehr wenig Fluktuation haben.“
Ein Tipp aus einer Zeitschrift im Jahr 2009 zur Verbesserung des Betriebsklimas. Einem Blick von außen mag es merkwürdig erscheinen, wenn sich erwachsene Menschen gegenseitig mit Stofftieren bewerfen und sich besingen. Man würde diese Szene womöglich als Beleg dafür ansehen, dass unsere Gesellschaft ein Infantilisierungsproblem hat.
Etwas jüngeren Datums ist dieses Zitat aus einer Computerzeitschrift:
„Wer jemals ein Videospiel gespielt hat, ist mit Dutzenden von Gamification-Mechanismen vertraut. Erledigt man zum Beispiel in einem Ego-Shooter Gegner, wird man mit mehr Punkten, besseren Waffen und anderen Vorteilen belohnt. Diese Faktoren reichen häufig bereits aus, um über Stunden hinweg hoch motiviert und mit voller Begeisterung dieser Tätigkeit nachzugehen – ein Engagement, das viele Unternehmenslenker auch gerne bei ihren Mitarbeitern, Partnern oder Kunden sähen.“
Infantilisierung
„Der Begriff Infantilismus bezeichnet den Zustand des Stehenbleibens auf der Stufe eines Kindes und kann sich sowohl auf die körperliche als auch auf die geistige Entwicklung beziehen. Der Begriff stammt vom lateinischen Wort infantilis (dt. ‚kindlich‘) ab und hat in den einzelnen Fachgebieten genauer abgegrenzte Bedeutungen. Die Herbeiführung eines Infantilismus wird als Infantilisierung bezeichnet.“
(Fremdwörterlexikon. Bertelsmann, Gütersloh/Berlin/München/Wien 1974)
These
Die postmoderne, postbürgerliche und postaufklärerische Medien- und Konsumgesellschaft will ihren Mitgliedern das Erwachsenwerden schwer machen, weil erwachsene Menschen weniger Konsumlust entwickeln und schwerer zu manipulieren sind. So entstand eine Kultur der allgemeinen Infantilisierung, auf die Medienwissenschaftler und Kulturkritiker wie Neil Postman ab den 1970er-Jahren hingewiesen haben: Ewig kindische Erwachsene und viel zu früh erwachsene Kinder sind eine Folge von Unterhaltung und Massenkultur.
Gegenthese
Ein konservatives Bürgertum in den Gesellschaften des Westens fürchtet um seine traditionelle Ordnung der Lebensabschnitte und der linearen Biografien von Kindheit, Arbeit und Familie. Um sich selbst zur Ordnung zu rufen, beschwört es das Gespenst der kulturellen und politischen Infantilisierung.
Und wie lautet die Synthese?
Wir werden sehen.
1996 nimmt der amerikanische Autor Robert Bly, ein konservativer Intellektueller, in seinem Buch Die kindliche Gesellschaft. Über die Weigerung, erwachsen zu werden die Thesen von Neil Postman noch einmal auf. Für Bly steckt gesellschaftliche Infantilisierung hinter allem, was dem traditionellen Rollenbild in Biografie, Familie und Gesellschaft widerspricht.
Neben dieser konservativen Position entwickelt sich mittlerweile ein anderes Verständnis für gesellschaftliche Veränderungen. Wenn wir von den Gefahren der Infantilisierung sprechen, müssen wir den Begriff heute kritischer und reflektierter benutzen.
Was den Verlauf eines bürgerlichen Lebens anbelangt, so haben wir uns auf eine praktische biografische Dramaturgie geeinigt: Man beginnt als Säugling, wird zum Kind, durchläuft eine ebenso problematische wie aufregende Phase der Jugend, die mit einem mehr oder weniger geglückten Erwachsenwerden endet. Nach der vor allem für die Gesellschaft so nützlichen Erwachsenenphase folgt das Alter, in dem man, schon wegen nachlassender körperlicher und geistiger Fähigkeiten, alles etwas ruhiger angehen lassen darf, und schließlich das Stadium der Vergreisung, das auf mehr oder weniger drastische Weise den Tod vorbereitet.
Der in Deutschland aufgewachsene Religionsphilosoph und Theologe Romano Guardini sah alle diese Lebensabschnitte durch Krisen bestimmt, die schließlich durch die richtigen Entscheidungen und das richtige Verhalten zu meistern sind.
„Der Säugling: die Krise der Loslösung vom Mutterleib und die Erfahrung des Schreckens in der Welt.
Das Kind: die Krise zwischen Abhängigkeit und Selbstbehauptung.
Der Jugendliche: die Krise von Rebellion und Identifikation.
Der Erwachsene: die Krise zwischen Ideal und Wirklichkeit, Mündigkeit und Unterwerfung.
Das Alter: Die Erkenntnis der Grenzen der eigenen Kraft, die Krise der Ernüchterung, die Hoffnung auf Weisheit.
Und schließlich: die Krise des Loslassens, die Erwartung des Endes.“
Es gibt eine Reihe von Modellen, um die Lebensabschnitte einzuteilen, aber sie unterscheiden sich, was unseren Kulturkreis angeht, nur in Nuancen. Und es werden noch weitere, feinere Unterscheidungen eingeführt wie etwa Vorpubertät, Pubertät, Postpubertät.
Diese neuen Zuordnungen zeigen, dass die Grenzen zwischen den Lebensabschnitten biografisch ziemlich flexibel sind, während sie gesellschaftlich und politisch so gut es geht verbindlich gemacht werden:
Man erreicht das Alter, in dem die Schulpflicht beginnt, man erreicht das Alter, in dem man wählen und Alkohol trinken darf oder einen Waffendienst leisten muss.
Man erreicht das Alter der Heiratsfähigkeit, das Alter des Ruhestandes, schließlich das Alter, in dem sich Autofahren oder Berge zu besteigen verbietet.
Wie immer man die Lebensabschnitte im Einzelnen definiert, nach allgemeiner Überzeugung jedenfalls ist es sowohl für den Einzelnen als auch für die Gemeinschaft das Beste, wenn sich jeder Mensch seinem Lebensabschnitt entsprechend verhält.
Anders ausgedrückt: Wenn Menschen sich aus inneren oder äußeren Gründen nicht ihrem biologisch-sozialen Lebensabschnitt entsprechend verhalten, dann stimmt etwas nicht.
Daneben freilich gibt es auch erlaubte, ja geradezu erwartete Formen des Infantilismus, etwa ritualisierte Formen „kindlichen“ Verhaltens im Dienste der Bindung während des Sexual-(Werbeverhaltens) und Beschwichtigungsverhaltens (siehe Demutsgebärde). Infantilismen sind im Falle von Ritualisierungen Teil des Normalverhaltens.
Gäbe es im Kommunikationsverhalten in einer Gesellschaft nicht kulturelle Techniken der zielgerichteten, gemeinschaftlichen oder wechselseitigen Infantilisierung, hätte also einerseits die Produktion von Nachwuchs schlechte Karten, andererseits könnten ohne infantile Demutsgesten Konflikte leicht zu einem Streit mit womöglich tödlichem Ausgang führen.
Eine Gesellschaft, in der jede Form von Infantilismus unterdrückt würde, wäre nicht weniger schrecklich als eine Gesellschaft, die sich das Infantile zum Leitmuster macht.
Problematisch ist also weniger die Infantilisierung an sich, sondern vielmehr der Verlust der Kontrolle über sie.
Infantilisierung wird als kulturelles Problem erkannt, wo sie die Bereiche erfasst, die nach unserer Auffassung ganz besonders nach einem erwachsenen, reflektierten, nüchternen und kritischen Verhalten verlangen: die Arbeit, das Verhalten im öffentlichen Raum, die Politik, die kritische Debatte, der wissenschaftliche Common sense, die Vermittlung von Information, die Diskurse von Moral und Vernunft. Doch gerade dort, in der Politik, in den Medien, in der Ökonomie, tauchen derzeit vermehrt Bilder und Sprechweisen auf, die man früher im Kinderzimmer verortete.
So mag uns der Verdacht kommen, nicht mehr in einer vernünftigen Gesellschaft zu leben, die sich Subkulturen der Infantilität leistet, sondern in einer infantilen Gesellschaft, die sich Subkulturen der Vernunft leistet. Als solle gerade verhindert werden, was Neil Postman 1985 in seinem Buch Wir amüsieren uns zu Tode als Wesen eines erwachsenen Verhaltens zugrunde legt…
„Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und zum Aufschub unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung, ein differenziertes Vermögen, begrifflich und logisch zu denken, ein besonderes Interesse sowohl für die historische Kontinuität als auch für die Zukunft, die Wertschätzung von Vernunft und gesellschaftlicher Gliederung.“
Ist also Infantilisierung der Verlust oder der freiwillige Verzicht auf Fähigkeiten wie Selbstbeherrschung, Vernunft und historisches Bewusstsein? Beginnen wir mit einigen Symptomen von allgemeiner Infantilisierung.
Distanzverlust
Konnte man es noch als nordische Exotik hinnehmen, dass man in einem gewissen schwedischen Möbelhaus nachhaltig geduzt wird, erscheint es mittlerweile fast schon normal, von den imaginären Stimmen der Ökonomie, der Medien und der Politik im Tonfall familiärer Vertraulichkeit angesprochen zu werden: Im Verkehrsfunk des öffentlichen Rundfunks, auf der Webseite und im Mailing der Bank, in der Fernsehwerbung oder in Twitter-Botschaften von Politikerinnen und Politikern ist das Du verbreitet, als befände sich der Sender bereits im Intimbereich von Freundschaft und Familie. Tatsächlich ist ja auch beständig von einer imaginären Familie der Kunden, der Parteigänger, der Verkehrsteilnehmer die Rede.
Neil Postmans Definition eines erwachsenen Verhaltens fordert die Anerkennung einer sozialen Gliederung ein. Das greift auf Gebote von Distanz und Respekt voreinander zurück. Das heißt, ein erwachsener Mensch sollte die Freiheit und die Fähigkeit haben, Distanz oder Nähe zu seinen Mitmenschen selbst zu bestimmen. Dazu gibt es verschiedene kulturelle Techniken; eine davon ist die verbale Anrede. Das Recht auf Intimsphäre und auf gebotenen Respekt steht einem erwachsenen Menschen nicht nur räumlich, sondern auch sprachlich zu. Insbesondere im deutschen Sprachraum besonders auffällig ist eine Form der Vertraulichkeit, die sich nicht zuletzt im allfälligen Duzen ausdrückt.
Komplexitätsflucht
Die Welt ist alles, was ICH bildhaft darstellen kann. So beschreibt etwa der Kulturhistoriker Johan Huizinga 1956 das historische Spiel der Kinder als Verbildlichung von Geschichte. Umgekehrt können wir es als Symptom einer allgemeinen Infantilisierung der Kommunikation verstehen, dass die Dinge verbildlicht werden müssen, um akzeptiert zu werden. Es geht weniger darum, dass man Dinge versteht, als darum, dass man sich Dinge vorstellen kann. Nicht umsonst heißt das populärste Organ der journalistischen Infantilisierung in Deutschland BILD Zeitung.
Zum erwachsenen Denken gehören im Allgemeinen die Fähigkeit zu Abstraktion, Kritik und Selbstkritik, die Differenzierung, die Anerkennung von Widersprüchen und Grenzen und nicht zuletzt eine Toleranz gegenüber Gegenentwürfen. Unter kindlichem Denken stellen wir uns dagegen eher ein holistisches, narratives und visuelles Geschehen vor. Eine märchenhafte Einheit von Ich und Welt.
Regression
Zum imaginären Paradies der Kindheit gehört die Möglichkeit des Rückzugs: Vor den Gefahren und Ängsten zieht man sich in die eigene Familie, in das eigene Zimmer, ins eigene Bett, in die eigene Fantasiewelt zurück. Diese Fähigkeit, sich vor dem, was Angst macht oder was als Konflikt unlösbar scheint, in mehr oder weniger geschlossene Räume – einschließlich mehr oder weniger geschlossener Räume des Denkens und der Vorstellung – zurückzuziehen, ist auch dem erwachsenen Menschen geblieben.
Fragt sich nur, wie oft und wie intensiv er von dieser Möglichkeit Gebrauch macht. Während in den Kulten der Regression, im Fernsehprogramm, auf dem Fußballplatz oder im Bierzelt, dieses Verhalten gepflegt werden darf, drängt es in einer infantilisierten Gesellschaft nach außen und macht sich als regressive Störung bemerkbar, die sich als kindliches Verhalten gegenüber den Anforderungen der Wirklichkeit zeigt: Trotz und Beleidigtsein, Suche nach Ersatz wie zum Beispiel das Essen, narzisstisches Jammern oder Verweigerung. In der Psychoanalyse versteht man darunter eine Abwehr gegenüber den verbotenen Wünschen ebenso wie gegenüber den unerfüllbaren Forderungen innerer oder äußerer Autorität dadurch, dass man sich auf frühere Entwicklungsstufen zurückzieht.
Forever Young. Jugendkult und Jugendwahn
Stellen wir uns gestandene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor, die angestrengt nach dem Jugendwort des Jahres fahnden und mit Ergebnissen wie „unterhopft“, „verbuggt“, „Arschfax“ oder „Yolo“ auftauchen, so ist andersherum klar, dass die Fixierung auf das Jugendliche selber nur infantil sein kann. Während umgekehrt Jugend – wie man etwa am Engagement für Ökologie oder soziale Gerechtigkeit erkennen kann – ihrerseits einen Status der Reflexion, Kritik und Verantwortung erlangen muss, den man zuvor Erwachsenen zugeordnet hat.
So wie die ewige Kindheit zum inneren Ideal wird – als müsste man seine ganze Arbeitskraft und seine Gier nach Reichtum in den Dienst der Erfüllung von kindischen Wünschen stellen, um sich Luxus zu leisten, der genau besehen nur eine Rückkehr von Spielzeug in Form der Superware ist – so wird die ewige Jugend zum äußeren Ideal. Man versucht dabei, mithilfe von Kosmetik, Lebensstil und plastischer Chirurgie nicht nur den Prozess der Alterung aufzuhalten, sondern auch der Routine, der Langeweile oder auch der Verantwortung des Erwachsenseins zu entkommen.
Die Mainstream-Gesellschaft orientiert sich in Mode, in Sprache und in Freizeitverhalten an der Jugend, genauer genommen an dem, was man sich unter Jugend vorstellt. Diese Aneignung freilich führt zu einem bemerkenswerten Paradoxon, das der Sozialwissenschaftler Bernhard Heinzlmaier so beschreibt:
„Die Jugend hat nun mit ihren Revolten einen Beitrag zur Überwindung disziplinargesellschaftlicher Strukturen geleistet. Damit wurde die Jugend aber gleichzeitig zur Avantgarde ihrer eigenen Abschaffung. Denn je mehr der mit Jugendlichkeit gekoppelte Konsumismus ins Zentrum der Gesellschaft rückte, desto mehr wurde die Gesellschaft als Ganzes durch ihren Konsum jugendlich.“
Lustprinzip versus Realitätsprinzip
Es ist nicht das Glück, was unser System seinen Menschen verspricht, und schon gar nicht Weisheit oder Erleuchtung. Es ist der Fun, der Spaß, der den Sinn des Lebens ausmachen und für den man alles Erdenkliche tun soll. Das Spaß-Haben wird zum beständigen Lebensziel, das paradoxerweise nur zu erreichen ist, wenn gleichzeitig Leistungswille, Selbstoptimierung und ein gewisses Maß an sozialer Rücksichtslosigkeit im Konkurrenzkampf eingesetzt wird. Es ist das Symptom, dem wir immer wieder in der Form von Alltagskatastrophen und bizarren Aggressionsausbrüchen begegnen:
Wer Spaß-Haben als Lebensziel akzeptiert hat, kann mit Frustrationen und Schwierigkeiten nicht mehr umgehen. So begegnen uns immer wieder Menschen, die wie verzogene Kinder reagieren, wenn sie nicht sogleich bekommen, was sie verlangen oder ihnen nicht sofort die Belohnung zuteilwird, die sie sich erwarten.
Gamification. Die Welt als Spiel und das Spiel als Welt
Von der geopolitischen Weltlage bis zum Gebrauch eines Rührstabs, von der „interaktiven“ Tele-Kommunikation bis zur Mathematikstunde, aus dem Konzept eines spielerischen Lernens ist die Aneignung der Außenwelt als Spiel geworden. Das mag Sprach- und Bildungsbarrieren abbauen, es hat aber auch seinen Preis. Was nicht gespielt werden kann, wird auch nicht verstanden. Die Zeitschrift Computerwoche erklärt in dankenswerter Offenheit die Absicht:
„Grundlage des Gamification-Ansatzes ist es, dass die Teilnehmer eine oder mehrere spielerische Aufgaben zu erledigen haben. Die Aufgaben sind häufig unterhaltsam und abwechslungsreich, um von dem eigentlichen Zweck abzulenken. Neben Punkten und Abzeichen können den Spielern auch reale Rabatte, Gutscheine oder Geschenkkarten winken. Dies steigert die Motivation der Benutzer und hält das Engagement hoch.“
Es wird also das Kind in uns angesprochen, um den Erwachsenen in uns außer Gefecht zu setzen. Und das Kind wird belohnt, damit der Erwachsene nicht merkt, dass er betrogen wird. Man kann sich daher dem Impuls der Infantilisierung auf zwei Arten nähern, einerseits als Phänomen von Zeitgeist und Kulturgeschichte, andererseits als Strategie und Manipulation. Beides widerspricht aber einer gleichsam naturgeschichtlichen oder anthropologischen Bestimmung des modernen Menschen zur Infantilisierung, wie sie etwa der Verhaltensforscher Konrad Lorenz schon 1973 apokalyptisch genug formuliert hat:
„Wenn die fortschreitende Infantilisierung und wachsende Jugend-Kriminalität des Zivilisationsmenschen tatsächlich, wie ich befürchte, auf genetischen Verfallserscheinungen beruht, so sind wir in schwerster Gefahr.“
Es ist beim besten Willen, sich einer allzu kulturpessimistischen Sichtweise zu widersetzen, nicht zu leugnen: In der Gesellschaft, in der wir leben, gibt es Tendenzen und Mechanismen der Infantilisierung, die weit über das Maß einer therapeutischen und ausgleichenden Wirkung hinaus gehen. Überdeutlich sind dabei die drei großen Quellen dieser allgemeinen Infantilisierung:
Erstens die werbetreibende Wirtschaft mit ihrem Interesse an Konsumenten, die sich nach kindlichen Wünschen, nicht nach Vernunft und Moral richten, sowie eine Arbeitswelt, die an die Stelle erwachsener Konflikte um Löhne, um soziale Gerechtigkeit, um politische Teilhabe eine familiäre, zugleich autoritäre und regressive Gemeinschaft setzen will.
Zweitens eine profitorientierte und marktgängige Medienwelt, die ihren Adressaten immer weniger erwachsenes Denken zumutet und immer mehr infantiles Sentiment liefert. So wird Infantilisierung zu einem Trostangebot, die Angst vor der intellektuellen und kritischen Überforderung größer als der ursprüngliche aufklärerische Auftrag.
Drittens eine populistische Politik, die mehr über Talk Shows, Bierzeltauftritte und emotionale Twitter-Nachrichten als durch parlamentarische Debatten funktioniert.
Spätestens hier sehen wir die Infantilisierung der Gesellschaft nicht mehr nur als kulturelles Defizit, sondern als ernste Gefahr für die Demokratie am Werk. Denn die Infantilisierung ist nur der emotionale Begleitaspekt einer möglicherweise noch tiefer reichenden Veränderung, nämlich der Entmündigung und Selbstentmündigung der Bürgerinnen und Bürger.
Erinnern wir uns an den Philosophen Immanuel Kant und seinen Essay „Was ist Aufklärung?“ aus dem Jahr 1784. Kant beginnt seinen Aufsatz unmittelbar mit einer Definition. Nach ihm ist die Aufklärung der „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“.
Unmündigkeit sei das „Unvermögen sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen“. Diese Unmündigkeit sei selbst verschuldet, wenn ihr Grund nicht ein Mangel an Verstand sei, sondern die Angst davor, sich seines eigenen Verstandes ohne die Anleitung eines anderen zu bedienen. Daraufhin fügt Kant den Wahlspruch der Aufklärung ein: „Sapere aude!“, was etwa bedeutet „Wage zu wissen!“ und von Kant mit „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ erläutert wird.
Später liefert Kant an anderer Stelle auch noch eine einfachere Definition der Aufklärung: „[D]ie Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung.“
„Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Einen solchen Mut kann nach Ansicht der Psychologie wie der Philosophie aber nur jemand entwickeln, der sich zu einer vollständigen, autonomen und selbstkritischen Person entfaltet hat oder auf bestem Weg dorthin ist.
Werden wir also als Erwachsene aufgeklärte Menschen?
Oder können wir umgekehrt erst als aufgeklärte Menschen wirklich erwachsen werden?
Und ist daher umgekehrt der Niedergang der Aufklärung auch die Absage an den mündigen und erwachsenen Menschen?
Ist also Infantilisierung nur ein besonders drastisches Mittel bei der Umkehrung der Aufklärung als Rückführung in eine selbst verschuldete Unmündigkeit?
Nun die eingangs angekündigte Synthese, bitte!
Kulturelle Infantilisierung als Begleitprogramm einer allgemeinen Rückführung in die Unmündigkeit, um den Menschen zu kontrollieren und zu manipulieren, ist das eine. Das andere aber ist, dass die traditionelle lineare Abfolge der Lebensabschnitte, wie sie die bürgerliche Gesellschaft des Westens zu ihrem eigenen Nutzen entfaltete, nicht mehr als allein gültige biografische Ordnung funktionieren wird.
In der Welt der Medien, der sozialen Netzwerke, der immer früher einsetzenden Weichenstellungen für Identitäten und Karrieren kann die Kindheit nicht mehr der geschützte Raum sein, den wir einmal hatten – oder uns wenigstens einbildeten zu haben. So mögen wir in der Zukunft darauf angewiesen sein, diesen verlorenen Zustand der Kindheit in lebenslangen Dosierungen nachzuholen. Aber wie in der Kindheit als zeitlich begrenzter Lebenserfahrung kommt es auch in der biografisch aufgelösten Kindheit darauf an, wer oder was dabei mitbestimmt.
Infantilisierung ist mittlerweile zu einem umkämpften Begriff geworden, für den es eine kritische und eine reaktionäre Lesart gibt. Die Lösung besteht gewiss nicht in der Rückkehr zu den alten Modellen der exakt definierten Lebensabschnitte. Genau so wenig aber kann sie in einer lebenslänglichen Abhängigkeit von Infantilisierungsangeboten aus Medien, Politik und Entertainment zu finden sein.
Wir müssen offenbar lernen, mit den Versuchungen der nachgeholten oder biografisch aufgelösten Kindheit umzugehen. Man muss das Kind in sich nicht nur akzeptieren, sondern es auch immer wieder einmal frei laufen lassen. Dazu gehört wohl auch, dass man vor den Symbolen und Riten der partiellen Infantilisierung keine Angst haben muss. Zweifellos gibt es etwas, das schrecklicher ist als der Rücksturz in die Kindheit, die es nie gab, nämlich die Verdrängung und Maskierung davon. Die Gefahr besteht, dass aus einer heilsamen Kulturtechnik eine kulturelle Droge wird, und dass nun, anstatt das Infantile aus dem Erwachsensein zu verbannen, das Erwachsensein aus einem Lebensstil der Infantilisierung verbannt wird.
Der Mensch der Zukunft wird stattdessen lernen, in diversen Kulturen und Identitäten zu leben, hier Kind und dort Erwachsener, und er wird lernen, die verschiedenen Stadien des Menschseins in sich miteinander zu versöhnen. Und gerade auf der Basis einer Anerkennung des Kindes in sich, des Jugendlichen im Alter, wird er imstande sein, zu erkennen, wie zerstörerisch Infantilisierung und Jugendwahn sein können, wenn sie als manipulativen Strategien eingesetzt werden.
Es ist, mit anderen Worten, eine neue Frage der Selbstbestimmung. Wäre es nicht eine fantastische Utopie, über das eigene Leben und seine Sphären bestimmen zu können, sich frei zwischen verschiedenen Stadien zwischen Naivität und Reife, zwischen Magie und Rationalität, zwischen Spiel und Arbeit, zwischen Abenteuerlust und Sicherheitsdenken zu entscheiden, je nach Bedürfnissen und Lebensumständen? Unser Lebensplan ist längst nicht so strikt geordnet, wie uns Kultur, Politik und Pädagogik glauben machen. So wäre es vielleicht auch eine Befreiung?
Allerdings: Der Utopie vom Menschen, der über den eigenen Lebensfilm bestimmt wie eine Regisseurin oder ein Regisseur und dabei nach Herzenslust vor und zurück springt, steht auch eine bedrohliche Dystopie gegenüber. In ihr stehen immer dümmere Menschen immer klügeren Maschinen gegenüber, in ihr bleibt der Mensch lebenslang das Kind, das nun nicht mehr von den Eltern, sondern von Werbung, Unterhaltung, Arbeitsalltag und politischer Manipulation an der Hand genommen wird. Hier bedeutet das Infantile nicht Lust an einer inszenierten Kindlichkeit, sondern Angst vor der Zukunft, vor Verantwortung und intellektueller Provokation. Und hier ist es nicht der selbstbestimmte Mensch, der über seine biografischen Bausteine verfügt, sondern eine soziale Maschinerie.
Bemerkenswerterweise geht ja die nicht zu übersehende Infantilisierung der Mainstream-Gesellschaft mit einer wahren Bildungskatastrophe einher. In einer Welt, in der zehnjährige Kinder über Karrieren nachdenken, das komische Abenteuer der Pubertät als kulturelles Leitmotiv verkauft wird, mächtige Politiker sich verhalten wie verwöhnte und trotzige Kinder und Schulen sich von Bildungseinrichtungen zu sozialen Schlachtfeldern verwandeln, muss möglicherweise auch neu über das Prinzip Pädagogik nachgedacht werden.
Auch in Kindergärten, Schulen und Universitäten werden Kindheit, Jugend und Erwachsensein erfunden. Für eine infantilisierte Gesellschaft freilich kann das ideale Erziehungsziel nicht mehr greifen: der mündige Mensch. Der Mensch, der in der Lage ist, kindlich, jugendlich, erwachsen und altersweise zugleich zu denken. In der infantilisierten Gesellschaft ist das Recht auf Kindheit abhandengekommen.
Einen solchen Bereich, in dem kindliche Neugier und erwachsene Verantwortung, freies Spiel und harte Arbeit kein Widerspruch sind, diesen Bereich gibt es ja bereits. Man nennt es: Kunst. Das also wäre eine Lösung. Oder der Traum von einer Lösung aus dem Gefängnis einer zugleich infantilisierten und kindheitslosen Gesellschaft zu entkommen: das eigene Leben als Kunstwerk zu begreifen und zu gestalten.
Davon freilich sind wir noch weit entfernt. Denn es gilt zuvor, ein Paradoxon zu lösen. Man muss sehr erwachsen sein, um das Kind in sich zu befreien. Man muss sich ein Maß an Kindlichkeit bewahren, um das Erwachsensein zu ertragen. Eine infantilisierte Gesellschaft aber lässt weder das eine noch das andere zu.