Samstag, 20. April 2024

Kommentar: Rassismus erkennen
Mehr Sensibilität für politisch motivierte Angriffe

Die Zahl rassistischer und antisemitischer Delikte steigt laut Behörden und Beratungsstellen in Deutschland an. Zudem würden sie oft gar nicht erkannt. Es braucht dringend mehr Sensibilität für politisch motivierte Angriffe, meint Vladimir Balzer.

Von Vladimir Balzer | 09.05.2023
Die Rückenlehne einer Holzbank ragt über die Sitzfläche hinaus. Dort, wo niemand sitzen kann, steht auf der Lehne: "Kein Platz für Rassismus".
Rassistische Angriffe nehmen in Deutschland zu: Das Bundeskriminalamt verzeichnet für die politisch motivierte Kriminalität insgesamt einen neuen Höchststand von rund 59.000 Delikten im Jahr 2022. (imago / Eckhard Stengel)
Die Zahlen, die von Nicht-Regierungsorganisationen vorgestellt wurden, sind erschreckend. Es gab nach deren Untersuchungen – und die gelten als verlässlich – noch nie so viele rassistische Taten in Deutschland. Fünf Menschen am Tag werden Opfer. Einer davon ist Kind oder Jugendlicher. Und das sind nur die registrierten Zahlen. Die Dunkelziffer ist sehr, sehr viel höher.
Der rassistische Alltag in Deutschland findet sich in keiner zuverlässigen Zahl wieder. Vom blöden Spruch bis hin zum tätlichen Angriff werden die meisten Taten gar nicht erfasst. Tausende am Tag. Oft fehlt das Bewusstsein, zuweilen auch der Wille der Behörden vor Ort, eine rassistische Tat auch als solche zu benennen. Es beginnt mit der Beweisaufnahme durch die örtliche Polizei, über die Anklage bei der Staatsanwaltschaft bis hin zu den Urteilen der Richterschaft.

Fortbildung für Strafverfolgung und Justiz

Rassistische Straftaten werden oft genug heruntergespielt und gelangen so auch in keine Statistik, obwohl sie da hingehören. Das gilt auch für die neuesten Zahlen des Bundeskriminalamtes. Oder für die polizeiliche Kriminalstatistik, die vor wenigen Wochen öffentlich gemacht wurde. Für alle offiziellen Zahlen gilt: Rassismus muss als solcher erkannt werden.
Das kann nur gelingen, wenn Polizistinnen, Lehrer, Staatsanwältinnen und Richter sensibilisiert werden. Wenn es Fortbildungsangebote für sie gibt. Wenn sie von Betroffenen auf die Probleme hingewiesen werden. Wenn sie einfach mal die Geschichten von Opfern in Ruhe anhören und sie ernst nehmen.
Grundsätzlich muss klar sein: Die Betroffenen sind mit Erlebnissen konfrontiert, die Menschen ohne Rassismuserfahrung einfach nicht haben. Natürlich ist nicht jede Konfrontation ein rassistischer Vorfall. Wenn aber jemand wegen seines Phänotyps herabgewürdigt wird, und zwar nur deswegen, dann ist es, was es ist: Rassismus. Ein Hassverbrechen, das mit aller Härte verfolgt und das nächste Mal verhindert werden muss.

Antirassistische Vereine stärken

Das haben wiederum viele in der Politik inzwischen verstanden. Wir scheinen die Zeiten hinter uns zu haben, als Landesväter und kommunale Verantwortungsträger, gerade im Osten der Republik, rassistische Übergriffe heruntergespielt haben.
Gut, dass in dem aktuellen Fall einer bedrohten Schülergruppe Brandenburgs Ministerpräsident Woidke sofort reagierte und von Rassismus sprach. Gut, dass ihm andere Politiker und Politikerinnen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene folgten.
Auch das demnächst geltende Demokratiefördergesetz gibt Hoffnung. Es muss endlich helfen, die täglichen Bemühungen von antirassistischen Vereinen auf eine stabilere Grundlage zu stellen und ihre Arbeit wertzuschätzen.
Im Osten der Republik, das zeigen die Zahlen, sind die rassistischen Vorfälle besonders verbreitet. Noch ein Warnsignal mehr, dass sich antiliberale und antidemokratische Strukturen in bestimmten Milieus verfestigen. Ein rechter, männlich geprägter Mainstream in der Jugendkultur steht hier wenigen zivilgesellschaftlich Engagierten gegenüber. Aber genau die gilt es nicht allein zu lassen, sondern zu stärken.