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Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs
"Mehr Diplomatie statt mehr Waffen"

Waffenlieferungen beendeten den Krieg in der Ukraine nicht, sondern verlängerten das Grauen, sagte Lars Pohlmeier von der Organisation "Internationale Ärztinnen und Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs" im Deutschlandfunk. Es müsse alles für eine diplomatische Lösung getan werden - die Russland mit einschließe.

Lars Pohlmeier im Gespräch mit Sebastian Engelbrecht |
Eine ukranische Flagge weht an einem Denkmal vor bei Angriffen der russischen Armee zerstörten Häusern in der Siedlung Borodjanka bei Kiew
Zerstörung in Borodjanka bei Kiew: Es bestehe die Gefahr, dass das Leid in der Ukraine durch Waffenlieferungen vergrößert werde, weil der Konflikt länger andauere, sagt Lars Pohlmeier (picture alliance / Photoshot/ Yuliia Ovsyannikova / Avalon)
Lars Pohlmeier ist Vorsitzender der deutschen Sektion der Organisation Internationale Ärztinnen und Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW). Er fordert von den politisch Verantwortlichen, weiter nach einer diplomatischen Lösung des Ukraine-Konflikts zu suchen. Es müsse eine zivile Lösung geben, sagte er im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Wenn der militärische Konflikt weiter eskaliere, stürze das möglicherweise alle ins Verderben. „Wir haben viel zu verlieren“, betonte Pohlmeier.

Größeres Risiko eines Atomkriegs

Die Sorge vor einem dritten Weltkrieg sei nicht unbegründet, so Pohlmeier weiter. Es bestehe die Gefahr eines politisch gewollten Einsatzes von Atomwaffen. Auch das Risiko eines unfallbedingten Einsatzes von Kernwaffen sei sehr viel größer, wenn die Systeme in Alarmbereitschaft versetzt würden. Jetzt müsse alles getan werden, um „die Dramatik aus dieser Situation zu nehmen“ und das Morden in der Ukraine zu beenden.
Lars Pohlmeier, Vorsitzender der deutschen Sektion der Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW), auf der Anti-Kriegs-Demo unter dem Motto "Stoppt den Krieg! Frieden für die Ukraine und ganz Europa" am 27. Februar 2022 in Berlin
Lars Pohlmeier, Vorsitzender der deutschen Sektion der Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW), auf der Anti-Kriegs-Demo unter dem Motto "Stoppt den Krieg! Frieden für die Ukraine und ganz Europa" am 27. Februar 2022 in Berlin (picture alliance / SULUPRESS.DE / Marc Vorwerk)
Die Organisation IPPNW wurde 1980, in Zeiten des Kalten Kriegs, von einem US-amerikanischen Kardiologen und seinem sowjetischen Kollegen gegründet. Die Abkürzung steht für International Physicians for the Prevention of Nuclear War. Der Name der deutschen Sektion ist IPPNW Deutschland – Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung. Die Organisation wurde 1985 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Sie hat weltweit 150.000 Mitglieder, die internationale Kontakte und den Dialog pflegen, auch über ideologische Grenzen hinweg.

Waffenlieferungen verlängerten das Leiden in der Ukraine

Pohlmeier sprach sich gegen den Export von Waffen an die Ukraine aus. Es bestehe die Gefahr, dass das Leid durch Waffenlieferungen vergrößert werde, weil der Konflikt länger andauere. Zudem habe Deutschland das Recht und die Pflicht, sich nicht in den Krieg hineinziehen zu lassen. Von einem Eintritt der NATO in den Krieg hätte die Ukraine nichts, meint Pohlmeier. Die Beteiligung der NATO würde seiner Meinung nach zuallererst die Zerstörung der Ukraine bedeuten und „in zweiter Folge möglicherweise auch die Zerstörung Europas“.

Gesichtswahrende Lösung mit Russland

Nach Pohlmeiers Auffassung kann Russland nicht besiegt werden „außer um den Preis der möglicherweise eigenen Vernichtung“. Deshalb müsse alles getan werden, eine „gesichtswahrende Lösung zu finden, die die Russen mit einschließt“. Zunächst müsse ein „Kompromiss-Frieden“ akzeptiert werden, auch wenn dieser nach westlichem Empfinden von Rechtsstaatlichkeit „vielleicht ein fauler Frieden“ sei. Man müsse konsequent darüber reden, wer in diesem Konflikt vermitteln könne und wer auch von russischer Seite als ehrlicher Makler wahrgenommen werden könne.
Hinter verschlossenen Türen, so Pohlmeier, bemühe sich seine Organisation auch um Kontakt zur russischen Regierung.

Das Interview in voller Länge:
Sebastian Engelbrecht: Die Ärzte gegen den Atomkrieg haben weltweit 150.000 Mitglieder. 1985 erhielten sie den Friedensnobelpreis – fünf Jahre nach ihrer Gründung. Und Lars Pohlmeier ist auch Mitbegründer der internationalen ICAN-Kampagne zur Abschaffung der Atomwaffen, die 2017 auch den Friedensnobelpreis erhalten hat. Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine ist die Angst vor einem Atomkrieg wieder da. In der vergangenen Woche hat die russische Armee in Kaliningrad den Abschuss mobiler ballistischer Raketen mit Atomwaffen geprobt. Das Raketensystem Iskander-M kann mit Marschflugkörpern oder Raketen Ziele in bis zu 500 Kilometern Entfernung treffen. Die Raketen können also Warschau oder Berlin erreichen. Und, Herr Pohlmeier, heute vor 77 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Stehen wir kurz vor einem dritten?
Lars Pohlmeier: Tja, guten Morgen erst mal. Die Gefahr eines Dritten Weltkrieges ist sicher nicht unbegründet, weil wir in der Gefahr stehen, dass die Dynamik, die in diesem furchtbaren Angriffskrieg gegenüber der Ukraine jetzt entstanden ist, unkontrollierbar wird und man befürchten muss, dass auch wir in diesen Konflikt mit hineingezogen werden könnten. Und leider ist es so, dass die Atomwaffen, die immer noch nicht abgeschafft sind, offensichtlich in den militärischen Überlegungen und in der Propaganda jetzt wieder eine größere Rolle spielen und der Einsatz einmal politisch gewollt implizit angedroht wird und gleichzeitig natürlich die große Gefahr eines unfallbedingten Einsatzes besteht. Und diese Gefahr ist sehr viel größer, wenn diese Systeme in Alarmbereitschaft versetzt werden.
Engelbrecht: Der russische Präsident, Wladimir Putin, hat mit blitzschneller Vergeltung gedroht, falls die NATO direkt in den Ukraine-Krieg eingreifen sollte. Sollte sich das westliche Bündnis da von diesen abschreckenden Worten wirklich einschüchtern lassen?
Pohlmeier: Tja, was Präsident Putin denkt und was er wirklich will, das entschließt sich uns nicht wirklich. Ich denke, dass wir alles tun müssen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden und die Waffenhandlungen zu beenden und damit sozusagen die Dramatik aus dieser Situation, auch hinsichtlich der Atomwaffen, zu nehmen. Ganz abgesehen davon, das Morden in der Ukraine zu beenden.

Die offenen Briefe an den Bundeskanzler 

Engelbrecht: Nun gibt es zu diesem Thema jetzt mehrere Argumentationen. Führende Intellektuelle haben zwei offene Briefe an Bundeskanzler Olaf Scholz geschrieben. Im ersten forderten 28 von ihnen unter Führung der Frauenrechtlerin Alice Schwarzer das kategorische Verbot, das Risiko eines Atomkriegs in Kauf zu nehmen. Können Sie sich diesem ersten Brief anschließen?
Pohlmeier: Ja, ich habe ihn auch selbst mit unterschrieben. Zwar nicht als Erstunterzeichner, aber es haben ja mittlerweile mehrere 100.000 Menschen diesen Brief unterzeichnet, und ich bin einer davon.
Engelbrecht: Können Sie das noch ein bisschen ausführen? Warum stehen Sie hinter diesem Brief?
Pohlmeier: Es ist ja eine unheimlich schwierige Situation, die Frage der Waffenlieferungen, die uns sehr bewegt. Und es gibt keine goldene Antwort dafür. Wir ringen um das Richtige, was wir tun können. Frau Baerbock hat im deutschen Fernsehen davon gesprochen, von den Vergewaltigungen durch russische Soldaten, und das als Argument für Waffenlieferungen genommen. Und ich teile diese furchtbare emotionale Betroffenheit. Die Frage ist, ob Waffenlieferungen das schneller beenden, oder ob sie praktisch dieses furchtbare Leid nicht verlängern. Und das ist sozusagen das Problem, was wir mit den Waffenlieferungen haben. Wir glauben, dass die Waffenlieferungen den Konflikt verlängern und damit das Grauen verlängern und eben nicht abmildern werden und beenden werden. Und deswegen denke ich, dass auf dieser Ebene dieser Brief eine richtige Initiative ist und auch hinsichtlich der Atomwaffen richtig ist, dass man alles tun muss, um wieder in einen Dialog zu kommen. Das ist ja die Aufforderung, die damit verbunden ist, um eine diplomatische Lösung zu erreichen. Denn nur das kann das Ziel sein.
Engelbrecht: Also, wenn ich Sie richtig verstehe, wenn die Ukrainer jetzt leiden, dann ist das weniger Leid, als wenn die ganze Welt leidet? Ist das nicht zynisch gegenüber den Ukrainern?
Pohlmeier: Nein, so habe ich das nicht gemeint. Die Frage ist, ob Waffenlieferungen das Vergewaltigen, dieses Bild, das Frau Baerbock benutzt hat, ob es das schneller beenden kann. Und ich fürchte, dass die Waffenlieferungen angesichts der Stärke der russischen Armee den Konflikt verlängern und dadurch das Leid in der Ukraine vergrößert wird am Ende. Ich sage ein anderes Beispiel. Ich hatte sehr viel Hoffnung am Anfang des Krieges, dass die Soldatenmütter in Russland dazu führen würden, wenn die ersten toten russischen Soldaten kommen, wie im Afghanistan-Krieg, dass es eine emotionale psychologische Wende geben wird in Russland durch die toten Jungen, die nach Hause kommen. Und ich bin erschüttert, dass im russischen Staatsfernsehen Eltern präsentiert werden, die angeblich von ihren verstorbenen Kindern sprechen und sagen: Unsere Jungen müssen gerächt werden – gerächt werden in der Ukraine. Und das wird natürlich zu einer weiteren Eskalation dieser unglaublichen Gewalt führen. Und dann würden die Waffenlieferungen … ist die Gefahr, dass damit das Leid vergrößert wird, weil der Konflikt verlängert wird. Und ich habe leider keinen Zweifel daran, dass Wladimir Putin bereit ist, wie er das in der Vergangenheit gezeigt hat, gnadenlos die Ukraine auch zu zerstören. Dann hätten die Menschen in der Ukraine nichts von diesem Konflikt. Das ist meine Sorge.
Engelbrecht: Aber ist das nicht letztlich ein westlicher Egoismus, der sich da ausdrückt? Wir im Westen wollen unbehelligt bleiben von diesem Krieg auf diese Weise, indem wir keine Waffen schicken.
Pohlmeier: Also, noch mal. Für mich hat das zwei Ebenen. Also, ich habe gesagt, dass ich der Meinung bin, dass das Leid in der Ukraine verlängert wird. Das hat nichts mit Egoismus zu tun. Das halte ich für einen Akt der Solidarität, um Leid und Mord zu ersparen und auch die … was ich als Zerstörung der Seelen nenne, die durch Krieg passiert und die lange, lange nachwirken wird. Deswegen ist es wichtig, dass die Kampfhandlungen eingestellt werden. Das ist keine Unterstützung irgendeiner dieser Wahnsinnsambitionen Russlands und es ist kein Ausdruck fehlender Solidarität, sondern es ist im Gegenteil ein humanitäres Anliegen, was ich hier damit vertrete. Auf der anderen Ebene bin ich absolut der Meinung, dass wir das Recht haben und die Pflicht haben, uns nicht in diesen Krieg hineinziehen zu lassen, weil: Auch davon hätte die Ukraine nichts. Im Falle eines NATO-Eintritts – und möglicherweise gibt es Versuche, die NATO in diesen Krieg hineinzuziehen – das würde zuallererst die Zerstörung der Ukraine bedeuten und in zweiter Folge auch die Zerstörung möglicherweise Europas. Und das ist auch nicht im Interesse der Ukraine. Das ist ebenfalls weder zynisch noch unsolidarisch, im Gegenteil. Das ist ein humanitäres Anliegen.

Es geht nicht um ein Nachgeben gegenüber Wladimir Putin.

Engelbrecht: Nun ist ein zweiter Brief hinzugekommen von 58 deutschen Intellektuellen und Prominenten, initiiert von dem Grünen-Politiker Ralf Fücks. Diese Intellektuellen plädieren nun im Gegenteil dafür, der Ukraine Waffen zu liefern. Sie schreiben, die Gefahr eines Nuklearkrieges sei nicht durch Konzessionen an den Kreml zu bannen, denn diese Konzessionen würden ihn, den Kreml, zu weiteren militärischen Abenteuern ermutigen. Wie stehen Sie zu dieser doch treffenden Argumentation? 
Pohlmeier: Ich kenne den Brief natürlich auch und habe Skepsis, dass hier der richtige Punkt getroffen wird. Ich verstehe die schwere Kritik und die Frustration. Das sind ja viele Mitunterzeichner, die Russland gut kennen, teilweise selber von dort stammen. Es geht nicht um ein Nachgeben gegenüber Wladimir Putin. Und es kann auch nicht … es steht in dem Brief drin: Wladimir Putin darf das Feld nicht als Sieger verlassen. Es geht hier aber nicht um Sieg und Niederlage. Wir können Russland nicht besiegen, außer um den Preis der möglicherweise eigenen Vernichtung. Deswegen muss alles getan werden, um – so furchtbar das vielleicht klingen mag – eine gesichtswahrende Lösung zu finden, die die Russen miteinschließt. Und dieser Tenor fehlt mir in dem Brief. Ich verstehe die große Kritik am Handeln Russlands und auch den Reflex, Härte zu zeigen. Ich glaube aber, da der Westen Russland militärisch nicht besiegen kann, muss es an irgendeiner Form eine Brücke geben. Und dieser Aspekt ist da zu wenig benannt.
Engelbrecht: In diesen beiden Briefen wird auch deutlich, dass es eine unterschiedliche Gewichtung von Werten gibt. Das hat Ralf Fücks für seine Position und nach seiner Meinung interessant auf den Punkt gebracht, der schon erwähnte Ralf Fücks von den Grünen. Er sagte im Zusammenhang mit dieser Debatte, der Frieden sei nicht der höchste Wert, sondern Freiheit und Gerechtigkeit. Können Sie dem zustimmen?
Pohlmeier: Ja und nein. Für mich gibt es Frieden eigentlich nur in Freiheit und Gerechtigkeit. Aber leider ist in vielen Ländern der Welt dies nicht möglich. Ich beobachte seit langen Jahren in Russland den Demokratieabbau, der mich sehr bekümmert. Es ist ganz furchtbar und schwer auszuhalten. Auch das wird reflektiert durch kritische Stimmen gegenüber Russland. Ich teile diese Einschätzung. Das Problem ist nur, und das ist meine Sorge, wenn man zum Beispiel sieht: Im Korea-Krieg, da hat der Krieg am 50. Breitengrad begonnen. Dann ist die Frontlinie einmal quer durchs Land bis ganz in den Süden gegangen und dann noch mal wieder bis ganz in den Norden. Ich war selber in Pjöngjang in Nordkorea. Dort steht kein einziges altes Haus mehr. Am Ende hat man sich wieder am 50. Breitengrad getroffen. Ich würde dieses Schicksal der Ukraine und den Menschen aus der Ukraine gern ersparen. Und deswegen glaube ich, dass in der Güterabwägung, wo es keine goldene Antwort gibt, das weiß ich, es besser sein kann zu sagen, es muss ein Frieden, auch wenn es ein Kompromissfrieden und vielleicht ein fauler Frieden in unserem Empfinden von Rechtsstaatlichkeit ist, als erstes akzeptiert werden, um darüber die Möglichkeit zu schaffen, Gerechtigkeit und Freiheit wieder zu entwickeln.
Engelbrecht: Hinter der Idee, die Ukraine aufzurüsten, steht ja auch der Gedanke letztlich, abzuschrecken. Die Befürworter von Waffenlieferungen argumentieren so. Der Gefahr einer atomaren Eskalation müsse durch glaubwürdige Abschreckung begegnet werden. Haben die da nicht einen Punkt?
Pohlmeier: Die Abschreckungsideologie halte ich für einen Mythos. Und ich kann nur sagen, Experten aus dem US-Militär, Generäle, die sich dann in die Pension verabschieden, die sagen, dass nichts passiert ist in den Zeiten der Abschreckung, ist Gott und Glück gewesen. Es gibt so viele mögliche Fehlerquellen in einem Hochrüstungs-, Abrüstungssystem, dass das nicht die Perspektive sein kann. Ich glaube, dass Abschreckung fehleranfällig ist. Und es reicht ja ein Fehler, ein Unfall, wenn man sich zukünftig wieder massiv bedrohen wollte, um die Vernichtung unseres Kontinentes innerhalb von Sekunden, Minuten, zu erreichen. Das ist das eine. Das Zweite, was mich bekümmert an dieser Frage, ist, wenn es um Hochrüstung geht: Ich glaube angesichts der großen Herausforderungen, wir haben weder die finanziellen Ressourcen noch haben wir die intellektuellen Ressourcen, um das zu bespielen, um das zu erreichen. Mich bekümmert, wir haben zu wenig Ärztinnen und Ärzte. Mein Sohn muss jetzt eine Berufsentscheidung treffen. Soll er jetzt überlegen, ob er Raketenbauer wird oder Kampfpilot? Wir haben doch dafür gar nicht die gesellschaftlichen Ressourcen. Den Klimawandel als Phänomen, das müssten wir doch abschreiben. Wir brauchen doch Geld und Intellekt, um diese Probleme zu lösen. Das heißt, es wäre eine Falle, in diese Richtung zu gehen.

Parallelen zum Jahr 1980 

Engelbrecht: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Heute mit Lars Pohlmeier, dem Vorsitzenden der deutschen Sektion der Internationalen Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs. Ihre Organisation, Herr Pohlmeier, wurde in den 80er-Jahren gegründet oder 1980, als auch die Angst vor einem Atomkrieg, ähnlich wie heute, sehr groß war. Was unterscheidet die jetzige Situation von der damaligen?
Pohlmeier: Im Grunde würde ich sagen, ich war 1980 noch nicht dabei, weil ich zu jung dafür bin. Aber ich befürchte, dass vieles jetzt ähnlich ist. Eigentlich hatten wir zuletzt das Gefühl, wir müssen wieder ganz da anfangen, wo wir 1980 angefangen haben. Das galt für unsere Organisation zu sagen: Wir etablieren professionelle persönliche Kontakte zwischen Ärztinnen und Ärzten aus unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlichen Ideologien, vielleicht auch, um in einen Dialog zu kommen. Und ich glaube, dass wir das geschafft haben, ist ein großer Wert. Und ich würde mir wünschen, dass unsere Gesellschaft insgesamt diesen Dialog versucht zu führen, gerade auch mit Russland, um Vertrauen aufzubauen, um in ein Gespräch zu kommen und von unten zum Frieden beizutragen. Es geht nicht um Zustimmung der Regierungspolitik. Es geht darum, Dialogfelder zu eröffnen. Und das ist ein großartiges Ergebnis der IPPNW, mit großen Schwierigkeiten, mit viel Misstrauen. Es ist interessant, das beobachtet zu haben für mich. Aber ich glaube, das ist ein sehr großer Wert und insofern auch ein Modell für viele andere Aktivitäten, die leider jetzt ja eher eingestellt werden, mit Russland.
Engelbrecht: Wie ist es in der jetzigen Situation? Sind Sie mit Ihren russischen Kolleginnen und Kollegen in Kontakt, und was können Sie bewirken? Was können Sie tun gegen einen möglichen Atomkrieg?
Pohlmeier: Ja, wir sind mit russischen Kollegen in Kontakt. Es ist klar, dass diese Kontakte unter schwierigsten Bedingungen derzeit stattfinden aufgrund der extrem restriktiven Rechtslage. Wir wissen alle, dass das Wort Krieg nicht genannt werden kann, dass also unsere Kolleginnen und Kollegen unter großem Druck sind. Insofern ist es im Moment auf einem Level, den Kontakt zu halten, der Solidaritätsversicherung, Friedensbotschaften auszutauschen. Aber eine freie Debatte lässt sich derzeit leider nicht führen. Es ist jetzt wichtig, die Kontakte zu halten, damit man das gemeinsam überlebt.
Engelbrecht: Ich weiß, dass die Frage ein bisschen unverschämt ist, aber dennoch will ich sie stellen. Noch einmal: Was kann Ihre Organisation, deren Ziel es ist, den Atomkrieg zu verhüten, eigentlich bewirken?
Pohlmeier: Also wir haben jetzt vor kurzem noch, das war nach Beginn des Krieges, da hat die Russische Akademie der Wissenschaften ihre Jahrestagung gehabt. Zu dem Zeitpunkt war es noch möglich, dass Gastredner aus den USA sich dazu geschaltet haben und hier eingefordert haben, dass die Atomwaffen aus der höchsten Alarmbereitschaft genommen werden. Da ist unsere Möglichkeit, über traditionell hochrangige Kontakte in Staaten der Welt, nicht nur in Russland natürlich, sondern in vielen anderen Ländern der Welt, versuchen, Einfluss zu nehmen mit unseren humanitären Anliegen. Und auf einer anderen Ebene, das ist ja einer der Erfolge, die wir vorzuweisen haben, ist es uns ja gelungen, auch bei den Vereinten Nationen ein Vertragswerk zu verhandeln, was Atomwaffen verbietet. Dieser Vertrag ist ja erst in 2021 in Kraft getreten, und es ist ein großartiges Ereignis wesentlich von unserer Organisation, in einem großen Netzwerk als Kampagne.
Engelbrecht: Und jetzt, in diesen Tagen und Wochen, schlagen Sie vor, man müsse der russischen Regierung Brücken bauen. Das ist ein Lösungsvorschlag, aber was bedeutet das konkret? Was könnte das bedeuten?
Pohlmeier: Na, wir haben es so genannt auf unserer Erklärung am letzten Wochenende: mehr Diplomatie statt mehr Waffen. Wir reden über Waffenlieferungen, aber wir müssen auch konsequent darüber reden: Wer kann vermitteln in diesem Konflikt? Wir bedauern sicherlich, dass die Vereinten Nationen, auch Herr Guterres, erst sehr spät nach Moskau gereist ist. Die Frage ist, wer ist ein ehrlicher Makler in diesem Konflikt? Oder wer kann von der russischen Seite als ehrlicher Makler wahrgenommen werden? Muss man vielleicht doch China mit einbeziehen in eine diplomatische Lösung? Welche Länder könnten das noch sein? Traditionell für uns eigentlich die Regierungen Finnlands und Schwedens als bislang ja neutrale Länder. Und darüber müssen wir uns den Kopf stärker zerbrechen. Nicht, welche Waffensysteme wir liefern. Und das ist das, was wir politisch fordern würden.
Engelbrecht: Haben Sie auch die Kanäle, diese Gedanken in der jetzigen Situation wirksam einzubringen?

Am Ende muss man auch manchmal mit dem Teufel ins Bett gehen, um etwas zu erreichen.

Pohlmeier: Man muss sagen, dass ja der ehemalige Gesundheitsminister unter Gorbatschow, der ist einer der Gründerväter der russischen IPPNW. Also, es gibt Kanäle in die Politik, und wir versuchen hier, sozusagen auch hinter verschlossenen Türen in Kontakt zu kommen.
Engelbrecht: Auch zur jetzigen russischen Regierung?
Pohlmeier: Auch zur jetzigen russischen Regierung.
Engelbrecht: Wollen Sie uns darüber mehr erzählen?
Pohlmeier: Darüber möchte ich nicht öffentlich mehr erzählen. Aber ich sage nochmals klar, wenn ich sage „Brücken bauen“, heißt das kein Einverständnis mit dem, was passiert, sondern es kann am Ende nur eine zivile Lösung geben. Ich sage es mal so: Am Ende muss man auch manchmal mit dem Teufel ins Bett gehen, um etwas zu erreichen. Denn die Alternative eines militärischen Konfliktes, der weiter eskaliert, das stürzt uns möglicherweise alle ins Verderben. Und wir haben sehr viel zu verlieren.
Engelbrecht: Aber die russische Regierung, namentlich Wladimir Putin, hat ja alle diplomatischen Versuche letztlich mit Hohn und Spott zurückgewiesen durch den Beginn des Krieges. Glauben Sie da wirklich, etwas bewirken zu können?
Pohlmeier: Ich glaube, auch Wladimir Putin hat ein Interesse, einer Lösung zuzustimmen, weil er ein Interesse haben muss, auch als Autokrat, dass das Volk in einer gewissen Sicherheit lebt, um selber seine Macht erhalten zu können. Ich weiß, dass es unheimlich schwierig ist, für mich persönlich auch, das auszuhalten, dass es im Moment keine diplomatische Lösung gibt, die offensichtlich auf dem Parkett ist. Es ist unheimlich schwer. Und trotzdem sehe ich darin die einzige Chance, es weiter zu versuchen, wieder neu in ein Gespräch einzutreten, weil die Alternative nur die Vernichtung sein wird am Ende des Tages.

Wunsch: Deutschland als Vermittler 

Engelbrecht: Sie formulieren das in einem Ihrer aktuellen Texte so, Sie plädieren dafür, dass Deutschland humanitär oder diplomatisch, also vermittelnd, in den Krieg eingreift. Aber wäre das nicht unsolidarisch gegenüber den Bündnispartnern der NATO?
Pohlmeier: Ich glaube, dass man das abstimmen kann, dass man ja Rollen unterschiedlich verteilen kann. Ich hätte mir oder wünsche mir immer noch, wobei das jetzt natürlich schwieriger wird, einfach auch, weil die Situation so eskaliert ist, dass die Bundesrepublik, mit traditionellen guten Verbindungen sowohl in die Ukraine als auch nach Russland, eine Vermittlerrolle spielt. Das ist jetzt durch die klare, auch militärische Unterstützung der Ukraine schwieriger geworden. Aber das hätte ich mir gewünscht.
Engelbrecht: Dann sprechen Sie in Ihrem aktuellen Papier “Risiken und Nebenwirkungen von Waffenlieferungen“ von „sozialer Verteidigung“. Dadurch würden weniger Menschen getötet, Städte und Infrastruktur geschont. Aber erneut stellt sich hier die Frage, muss das nicht zynisch auf die Menschen wirken, die in der Ukraine, in Mariupol im Bombenhagel stehen, wenn Sie soziale Verteidigung empfehlen?
Pohlmeier: Auch das finde ich nicht. Sollen wir die Menschen in Mariupol auffordern zu kämpfen bis zum letzten Mann? Denn das ist doch das, was jetzt droht. Dass bombardiert wird, bis keiner mehr übrig ist. Und dann werden Helden kreiert, im russischen Fernsehen werden jeden Abend jetzt Kriegshelden präsentiert. Das ist natürlich zynisch. Aber es gibt dann keine Mutter mehr, die ihren Sohn in den Arm nehmen kann, weil er tot ist. Hilft es ihm, dass er ein Held ist, als Held gestorben in Mariupol? Das ist doch die Katastrophe. Und das ist so furchtbar, dass man es kaum aushalten kann. Aber das ist das Problem, was ich an den Waffenlieferungen sehe. Wir kämpfen bis zum letzten Mann, und dann sind alle tot. Das ist keine Solidarität.
Engelbrecht: Herr Pohlmeier, Sie kennen Russland sehr gut. Nicht nur, dass Sie mit einer Petersburgerin verheiratet sind, Sie sprechen Russisch und sind viel unterwegs in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Wie erklären Sie sich eigentlich die gegenwärtige Konfrontation zwischen Russland und dem Westen? Was ist eigentlich der Kern dieser Auseinandersetzung?
Pohlmeier: Ja, seit 1987 reise ich in die Sowjetunion und in die Nachfolgestaaten. Und ich habe auch in Frankreich und den USA gelebt. Ich würde von mir mal sagen, Russland bleibt mir irgendwie doch unverständlich und fremd an gewisser Stelle, und ich bin immer nur fünf Prozent Russe. So sehr ich das Land und die Kultur, das Gute und Schöne, was es ja auch gibt in Russland, liebe oder in Osteuropa liebe, so sehr ist mir vieles unverständlich geblieben. Das, was hier passiert in Russland, sehe ich schon seit Jahren. Ich sehe zum einen einen massiven Demokratieabbau. Ich sehe, dass Kollegen und Freunde von mir ihren Beruf verloren haben oder ihre Stellung verloren haben, weil sie nicht den politischen Stallgeruch haben. Ich sehe Verhaftungen von Freunden, Arbeitsplatzverlust als Strafe für Demonstrationen. Die Einstellung der Pressefreiheit. Da fehlt leider ein Verwurzeln in demokratischen Traditionen. Das Bewusstsein dafür, dass die Meinung des anderen einen Wert hat. Und da gibt es leider in der russischen und auch in der bürgerlichen Gesellschaft sehr stark die Vorstellung, zum einen, man hat mit der Politik nichts zu tun, ist nicht Teil der Gemeinschaft. Da fehlt diese Tradition des aktiven sich-Einmischens, wie es das bei uns gibt. Und der Chef, Putin, wird es schon entscheiden und richten. Ein solches Gefühl. 

Putin ist völlig unfähig gewesen, seine Gesellschaft und seine Wirtschaft insgesamt zu modernisieren.

Und dann sehe ich insgesamt in der Gesellschaft, wie ich es nenne, das totale Modernisierungsversagen der russischen Gesellschaft. Russland verdient Geld mit dem Verkauf von Rohstoffen, aber Putin ist völlig unfähig gewesen, seine Gesellschaft und seine Wirtschaft insgesamt zu modernisieren. Es gibt ja praktisch kein Industrieprodukt, was konkurrenzfähig wäre aus Russland. Keine Autos, keine Flugzeuge, kein medizinisches Equipment. Man könnte sich eigentlich vorstellen, dass da neue Ideen, Märkte und dass eine nachhaltige Wirtschaftsordnung in Russland entstanden wäre, die uns hätte Konkurrenz machen können, mit günstigeren Preisen. Gibt es alles nicht. Und dann ist es natürlich so, dass für dieses Versagen jemand schuld sein muss. Und dann ist es an der Stelle auch ein Stück weit, das ist mein Empfinden, der Westen, der dafür herhalten soll, der uns,  wie es jetzt heißt, schon immer gehasst hätte. Was natürlich völlig irre ist.
Engelbrecht: Die Ärztinnen und Ärzte gegen den Atomkrieg müssten eigentlich alle Pazifisten sein, habe ich mir gedacht – Herr Pohlmeier, sind Sie ein Pazifist?
Pohlmeier: Na, das würde ich so nicht sagen. Ich bin kein Pazifist. Ich finde es eine sehr interessante Frage, und ich habe eine hohe Wertschätzung vor Menschen, die sich als Pazifistinnen und Pazifisten sehen. Ich sehe meine Rolle hier, sie ist sehr stark verbunden mit meinem Beruf des Arztes, wo ich sagen würde: Ich versuche, zu analysieren und nach bestem Wissen und Gewissen eine richtige Entscheidung zu treffen. Und die ist oft in diesem Zusammenhang pazifistisch. Aber es ist keine philosophische Grundhaltung, die mich da antreibt, sondern Erfahrung, Analyse und dann natürlich Überzeugung.
Engelbrecht: Meine letzte Frage: Was könnte die Hoffnung sein, die uns bewegen könnte in der nächsten Zeit? Was könnte ein Schritt sein, der den Krieg noch verhindern kann?
Pohlmeier: Beenden kann, meinen Sie. Ja, ich bin ein extrem hoffnungsvoller Mensch. Ich beschäftige mich immer mit der Zerstörung der Welt ehrenamtlich. Und trotzdem bin ich sehr hoffnungsvoll. Ich glaube, der Akt, sich die Hand zu reichen und zu sagen: Wir halten inne und hören mit diesem Morden und dem Krieg auf und versuchen zu verhandeln – das braucht eigentlich nur fünf Minuten. Es braucht den politischen Willen, und es braucht fünf Minuten. Und es braucht jemanden, der diesen Stein triggert, der sozusagen dieses System zum Stürzen bringt. Meine ganze politische Arbeit, die ja immer aus einer Minderheitenposition gegenüber der großen Politik erfolgt, wenn wir bei den Vereinten Nationen oder wenn wir mit Regierungsvertretern sprechen, ist meine Vorstellung immer die eines Dominospiels. Ein ganzer Raum voller Steine. Aber damit dieses ganze System dann doch umfallen kann zum Besseren, braucht es irgendwo ein Steinchen, das fällt. Wo dieser Stein fällt, weiß ich nicht. Ob ich derjenige sein kann, der diesen Stein anstößt, weiß ich nicht. Aber wir müssen es versuchen, weil ich glaube, dass dieses, was uns vorgegaukelt wird, es sei alles mächtig und unverrückbar, ist letztlich doch instabil. Mit gutem Willen und dem richtigen historischen glücklichen Moment wird man das ändern können. Davon bin ich weiterhin felsenfest überzeugt.
Engelbrecht: Herr Pohlmeier, vielen Dank für das Gespräch.
Pohlmeier: Danke. Auf Wiedersehen.