Samstag, 18. Mai 2024

Die Aktivierung vergangener Utopien
Mit Picard und Benjamin in das Museum der Zukunft

Oft sind sie zu Kathedralen der Hochkultur erstarrt, die Museen des 21. Jahrhunderts. Hüter des Kanons, stets unterfinanziert, stets überambitioniert. Dabei könnten sie doch so viel mehr sein, Labore der Zukunft, Superhelden im unübersichtlichen Diskursdschungel der Gegenwart.

Von Nora Sternfeld | 05.05.2024
Blick auf die Biosphäre des Environment Museums Montreal, Umweltmuseum, Cirrocumuluswolken dahinter.
Wie wird das Museum der Zukunft aussehen und welche Geschichten wird es erzählen? (imago images / imagebroker / imageBROKER / Guenther Schwermer via www.imago-images.de)
Es könnte so schön sein, wenn … Museen zu Orten der Begegnung, der Gegenöffentlichkeit, der Herausforderung der eigenen Sammlungen werden, kurz zu Orten einer Selbstbefragung einer demokratischen Gesellschaft. Im Rahmen der „Denkfabrik“ des Deutschlandradios befragen wir die altehrwürdige Institution des Museums auf seine Zukunftstauglichkeit. Doch welche Zukunft soll das eigentlich sein, in Zeiten, in denen autoritäre Politik wieder denkbar ist, in der die Bildungschancen von Kindern und Erwachsenen von den finanziellen Mitteln abhängen, in der eine Gesellschaft der nötigen Transformation in eine klimaschützende Zukunft eigentlich nur hinterherläuft?
Vielleicht ist es die dringendste Aufgabe des Museum der Zukunft, uns aus der Zukunft, auf die wir gegenwärtig zutreiben, zu befreien, um eine andere bessere, freiere Zukunft zu stiften, oder zumindest ihre Entwürfe zu begleiten? Dieses spezifische Museumspotenzial, das wir als materielles Reservoir vergangener Möglichkeiten bezeichnen könnten, führt zur Frage nach dem radikaldemokratischen Museum. Was können wir aus einer radikaldemokratischen Perspektive für das Museum als Museum lernen und was können wir uns erträumen?
Nora Sternfeld ist studierte Philosphin, hat an der Akademie der Bildenden Künste in Wien promoviert, an zahlreichen Universitäten von Zürich bis Helsinki unterrichtet. Sie hat etliche Ausstellungen kuratiert, war documenta-Professorin in Kassel, ist seit 2020 Professorin für Kunstpädagogik an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Ihre wichtigsten Bücher sind Das Pädagogische Unverhältnis. Lehren und Lernen bei Rancière, Gramsci und Foucault (2009) und Das radikaldemokratische Museum (2018). 

Irgendwann in der letzten Folge der dritten Season von Star Trek Picard sieht alles – erwartungsgemäß für die Mitte der letzten Folge einer Star Trek Season – schrecklich aus. Die Galaxie steht kurz vor ihrer kompletten Zerstörung und alle Strategien, sich zur Wehr zu setzen, scheinen zwecklos: Die Borg, die außerirdischen Antagonisten in der Star Trek Saga, stehen kurz vor dem Sieg. Alle technologischen Systeme sind bereits gleichgeschaltet und bereits von einer Art künstlicher Borg-Intelligenz infiltriert, die den Widerstand selbst zur Beschleunigungskraft der Zerstörung macht. Denn die Technik des Raumschiffs ist in totaler Kommunikation mit allen anderen Raumschiffen und daher gibt alles, was technisch zum Einsatz gebracht wird, dem feindlichen, zerstörerischen und zugleich sehr verführerischen bio- und technopolitischen Borg-System nur weitere und schnellere Möglichkeiten sich zu verbreiten. Und so scheint alles vorbei zu sein.
Es könnte alles so schön sein, wenn… – Das ist die Formel für jedwede Wunschproduktion. Vor dem Hintergrund der Gegenwart, in der es mir auch ohne Borg-Apokalyptik schwerfällt, mir eine schöne Zukunft vorzustellen, schreibt sich die Suche nach einem Wunschtraum in mir unweigerlich in eine Frage um: Was kommt nach der Dystopie? Und was könnte das Museum damit zu tun haben?
Bei Star Trek Picard taucht am Horizont die mögliche Lösung auf: Im Starfleet Museum in dem eine beeindruckende Sammlung von Star Trek-Raumschiffen beherbergt ist, findet sich noch die alte USS Enterprise – ein im Grunde genommen vorsintflutlicher, autonomer Weltraumdampfer, aber fast vollständig restauriert und einsatzfähig. Das Raumschiff, das technologisch noch aus einer Zeit stammt, bevor alles kompatibel miteinander vernetzt wurde, verspricht die letzte Hoffnung auf eine Zukunft aus der Geschichte. Stellen wir uns also ein Museum der Zukunft vor und fragen uns: Was müsste so ein Museum leisten, um uns aus der Zukunft, auf die wir zuzufahren scheinen, zu befreien? Dieser Frage möchte ich nachgehen und dabei zuerst das, was am Museum Museum ist, nicht aus den Augen verlieren. Dieses spezifische Museumspotenzial, das wir als materielles Reservoir vergangener Möglichkeiten bezeichnen könnten, führt mich zur Frage nach dem radikaldemokratischen Museum. Was können wir aus einer radikaldemokratischen Perspektive für das Museum als Museum lernen und was dürfen wir uns erträumen?
Was ist also ein Museum?
Beginnen wir im Heute – also mit der Zukunft, auf die wir zufahren. Beginnen wir mit den Versprechungen, die mit dem Museum im 21. Jahrhundert verbunden zu sein scheinen: Viele Leute haben in den letzten Jahren große Erwartungen an ein Museum der Zukunft. Viele träumen von einer Demokratisierung des Museums als Plattform, Arena und geteilter Raum. In Kunstmuseen und auf Biennalen, aber auch in kulturhistorischen Ausstellungen haben so genannte „Interventionen“ Konjunktur, die durchaus kritisch in den Kanon – also in die machtvollen Deutungen der nationalen, bürgerlichen, westlichen und patriarchalen Geschichtsschreibung – eingreifen wollen. Die Fantasie eines Museums der Zukunft beschäftigt heute die Museumswelt. Und weil sich auch Kuratorinnen und Museologen so sehr ein Museum der Zukunft wünschen, ist in den letzten Jahren die Definition davon, was ein Museum ist, in Bewegung geraten. Sie lautet nunmehr: „Ein Museum ist eine nicht gewinnorientierte, dauerhafte Institution im Dienst der Gesellschaft, die materielles und immaterielles Erbe erforscht, sammelt, bewahrt, interpretiert und ausstellt. Öffentlich zugänglich, barrierefrei und inklusiv, fördern Museen Diversität und Nachhaltigkeit. Sie arbeiten und kommunizieren ethisch, professionell und partizipativ mit Communities. Museen ermöglichen vielfältige Erfahrungen hinsichtlich Bildung, Freude, Reflexion und Wissensaustausch.“
Und wir müssen feststellen: Das klingt auch mehr nach Versprechen, als nach Definition. Was diese jedenfalls mit allen bisherigen Definitionen gemeinsam hat ist, dass das Museum als eine Institution vorgestellt wird, die ganz bestimmte Aufgaben hat: Es „erforscht, sammelt, bewahrt, interpretiert und stellt aus“. Diese Aufgaben, die sich seit 1947 in Variationen wiederholen, habe ich wiederum zum Anlass genommen, um mich mit Interventionen, Aktionen, künstlerischen Arbeiten und kuratorischen Ansätzen zu beschäftigen, die diese Aufgaben ernst nehmen und das Museum von außen aber vor allem auch zunehmend aus seinem Inneren dekonstruieren. Diese lauten:
  • Das Archiv herausfordern
  • Den Raum aneignen
  • Anderes Wissen produzieren
  • Gegenöffentlichkeit organisieren
und:
  • Vermittlung radikalisieren
Zu allen diesen Bereichen konnte ich zahlreiche Beispiele aus den letzten 30 Jahren versammeln: Denn Museen sind zu Orten der Öffentlichkeit und des Konflikts geworden: Sie reflektierten ihre Rolle und Funktion, Aktivisten und Aktivistinnen besetzten Museen, forderten deren Neuperspektivierung und stellten deren Wertesysteme in Frage, klebten sich an Kunstwerken fest oder bewarfen diese mit Suppe, gründeten und forderten alternative Archive, Künstlerinnen begannen, das Museum als Medium zu verstehen beziehungsweise Para-Institutionen in den Institutionen zu entwickeln, Kuratoren nahmen das ernst und änderten ihre Themen und Narrative, Direktorinnen proklamierten die Demokratisierung der Institutionen, die sie dabei paradoxerweise gerne als „ihre“ Häuser bezeichneten.
Aber was, wenn all das uns nicht demokratisiert, sondern vielleicht sogar entdemokratisiert hat?
Heute ist die Repräsentation der Demokratie in vielen Museumsleitbildern und Ausstellungsprogrammen zentral, während die Demokratie als Repräsentation immer schwächer wird. Fast stellt sich die Frage, ob bei dem Interesse an der Demokratie im Museum nicht bereits eine Demokratie gemeint ist, die deshalb im Museum ist, weil es sie bald nicht mehr zu geben droht, weil die Demokratie selbst – wie man so sagt – „museal“ werden könnte. Was ist, wenn der Change, also die Veränderung, die hier gemanagt wurde, gar nicht nur zum Besseren war? Fast sieht es so aus, als hätten die Borg mit ihren verführerischen Netzwerkstrukturen die Museen schon übernommen.
Und wenn es so wäre, wie könnten sie in die Institution des Museums hereingekommen sein? Vielleicht im Gewand des Progressiven, vielleicht über die Infrastrukturen der verführerischen Versprechen? Wenn es die Borg waren, dann haben sie sich gut getarnt – mit Themen, für die jahrelang gekämpft wurde, wie Feminismus, Antirassismus, Umweltpolitiken, Institutionskritiken, Inklusionsdebatten, dekoloniale und queere Theorien… Mit Themen also, die heute in aller Munde sind, während sich strukturell nur wenig zum Besseren verändert hat. Dadurch wird ein hart erarbeitetes kritisches Vokabular nicht selten zum Label entleert. Wir haben uns im kritischen Museums- und Ausstellungsfeld seit vielen Jahren in Widersprüche verwickelt. Glauben wir den Anrufungen, dann stehen wir mitten in einem Paradigmenwechsel. Wir hören vielerorts von einem „Museum der Zukunft“, und es scheint, als würde dies heißen: „Alles wird besser“, oder vielleicht: „Alles muss besser werden.“ Eben offener und feministischer, umweltbewusster und inklusiver und so weiter und so weiter. – Aber wenn wir uns der Realität der Institutionen, ihren Arbeitsverhältnissen, ihren Hierarchien, ihren Plänen im Krisenmodus und ihren Perspektiven widmen, stellen wir fest: Wenig ist besser. Nur vieles ist unsicherer geworden, vieles ist schwieriger. Also heißt „Alles wird besser“ einfach: „Alles muss gut klingen“? Heißt es vielleicht sogar, dass institutionelle Diskurse alle Beteiligten zunehmend performativ daran gewöhnen, dass kritische Rhetorik mit unkritischem Handeln einhergeht, dass alles anders formuliert werden muss, damit die Strukturen so bleiben können, wie sie sind, beziehungsweise damit sie sogar noch unsicherer werden, noch privatisierter, noch vernetzter unter privaten Bedingungen?
Zwei Aspekte scheinen hier wichtig. Der erste Aspekt betrifft die Strukturen der Institutionen: Solange deren vielbeschworene „Dekolonisierung“, „Diversifizierung“ und „Demokratisierung“ sich nur auf Projekte beschränkt und progressive Ansätze keine strukturelle Absicherung in den Institutionen haben und die Museen als solche gar nicht betreffen, sondern nur die Themen ihres Betriebs, dann ist der Traum vom Museum der Zukunft nicht nur ein Wunschtraum, sondern oft einer jener existentiellen Albträume – von denen wohl alle prekären Projektarbeitenden in ihren kurzen Nächten überfallen werden, wenn sie wieder einmal vor der Deadline durchgearbeitet haben, um „fingers crossed“ – lieber gleich mehrere Projekte einzureichen und nicht sicher sind, wie sie im nächsten Jahr überleben werden.
Es reicht also nicht, bloß von Demokratisierung oder von Gleichheit zu sprechen. Solange die Akteure und Organisationsformen der Institutionen sich nicht ändern, solange also die meisten Direktorinnen und Kuratoren weiße, westliche und bürgerliche Positionen haben, solange die gesellschaftlichen Strukturen rassistisch bleiben und die Privatisierung der öffentlichen Institutionen voranschreitet, scheint die ganze Rhetorik über das Museum der Zukunft schal.
Der zweite Aspekt betrifft die Funktion des Museums selbst. Das Museum kann nämlich vieles, aber es kann nicht alles. Und während die Rede von der Demokratie im Museum Konjunktur hat, scheint zugleich die Demokratie selbst auf der ganzen Welt immer gefährdeter. Damit besteht die Gefahr, dass zentrale Fragen auf die Ebene der Darstellung und Erzählung abgeschoben werden, wo sie im wahrsten Sinne des Wortes nur scheinbar aufgegriffen werden können, während sie vielmehr auf anderen Ebenen – also gewissermaßen in der Wirklichkeit – erkämpft und diskutiert werden müssen. Soll hier das Museum vielleicht etwas leisten, das es vielleicht gar nicht am besten oder möglicherweise gar nicht kann? Denn Repräsentation im ursprünglichen Sinn der Vertretung ist Teil öffentlicher Versammlungen von Demokratien in Parlamenten und auf der Straße. Im Museum hat Repräsentation eine ganz andere Funktion: Es geht hier um Formen der Darstellung: um die Auseinandersetzung mit Geschichte, mit Sichtbarkeit, es geht um Prozesse der Kanonisierung, um das, was wir wissen können, und das, was verleugnet wird. Es geht auch darum, wer spricht, wer in einer Gesellschaft Geschichte machen darf und wer bloß zum Objekt der Geschichte wird. All dies sind wichtige und notwendige Fragen, sie haben auch etwas mit Demokratie zu tun, aber sie können niemals die Auseinandersetzung um die politische Repräsentation als kollektive und konfliktuelle Regierung des Demos ersetzen.
Ist das „radikaldemokratische Museum“ also auch in diesem Zusammenhang vielleicht schon Teil des Problems und nicht der Lösung? Ist der Traum von seinen immersiven und partizipativen Elementen vielleicht sogar Mittel der Entdemokratisierung der Gesellschaft? Was kann das Museum als demokratische Institution leisten und welche imaginären Anrufungen der Repräsentation von Demokratie sind fast schon undemokratisch?
Wann – verdammt! –  und wie sind die Borg nun an Bord des Museums gelangt? Sie kamen, so scheint es, im Gewand des progressiven Neoliberalismus. Dort ist es ihnen gelungen, alles in sein Gegenteil zu verkehren: Indem sie zur Zukunft verführt haben, war im permanenten Wandel plötzlich keine Zeit mehr und dann wurden alle großen Träume Wirtschaftsplänen unterworfen, und weil die Träume zugleich immer größer (im Hinblick auf Innovation) und immer kleiner (im Hinblick auf Budgets) werden sollten, waren sie immer weniger auf Öffentlichkeit ausgerichtet, wurden also privatisierter, manchmal gar oligarchischer, wurden auf Basis privater Technologien immer mehr miteinander vernetzt und während sie noch progressiv schienen, waren sie eben vielleicht bereits Borg.
Es gibt allerdings etwas, das ich die verstaubt progressive Dimension des Museums nennen würde, das möglicherweise ganz andere Kräfte entfalten kann. Ich schlage also vor, im Museum, mit dem Museum und gegen das Museum zurück zu gehen zu den Möglichkeiten, bevor sie verbaut waren. Allerdings kann man diese Möglichkeiten nicht nutzen oder erreichen, wenn wir einfach nur wieder zurück wollen. Denn es gibt Gründe, warum wir die Geister riefen, die wir jetzt nicht mehr loswerden: Museen sind alles andere als unschuldig, ihre Sammlungen und ihre Ordnungen sind immer von den jeweiligen historischen Machtverhältnissen bestimmt gewesen. Stets sind sie Ausdruck und Mittel eines gewaltvollen Wissens, das mit dem einherging, was Benedict Anderson die „Erfindung der Nation“ nannte und ihr weißer, westlicher, patriarchaler Kanon musste und muss befragt werden.
Aber ich möchte hier eben behaupten, dass auch dies mit ihren eigenen Mitteln aus ihnen selbst heraus geschehen kann. Denn die Geschichte hinterlässt Spuren, auch Spuren, die sie eigentlich verwischen will. In diesem Sinne sind die Objekte und materiellen Überlieferungen im Museum Gegen-Stände im wahrsten Sinne des Wortes: Sie stehen nicht selten dem entgegen, was aus ihnen gemacht werden sollte und was aus ihnen gemacht wird. Sie tragen Spuren, die noch nicht gelesen wurden und was diese bezeugen können, kann ihre Ordnung Lügen strafen.
Ist unser einziges Mittel gegen die Borg vielleicht, diese Spuren zu lesen und die Rufe zu hören, die von einem Material ausgehen, das im Museum, in seinen Gegenständen, aber auch in den Brüchen und Lücken seiner Ordnungen und Erzählungen gegen dessen Logik spukt?
Dieser Spuk, der sich den verführerischen, routinierten Infrastrukturen widersetzt, mit deren Hilfe die Borg an Bord gegangen sind, verdankt sich einer zugleich ganz materiellen und einer immateriellen Dimension: Er ist im Material selbst, eben in den Spuren dessen, was da ist, obwohl es nicht gesammelt werden sollte, in den Spuren, die Lücken hinterlassen, in den Spuren uneingelöster Vergangenheiten, verlorener Kämpfe, in den Spuren dessen, was nicht bewusst gesammelt wurde. Die Kraft, die eine Begegnung mit diesem Spuk für den Kanon hat, ist wiederum immateriell: Sie durchkreuzt die Logik des Archivs, die Logik seiner Deutungshoheit. Die Kraft ist all das, was nicht in die Ordnung des Archivs passt, all das, was sich dagegen sträubt, in Schachteln gesteckt zu werden: das Affektive, das Performative, die Erinnerung, der Widerstand, das Eigensinnige, das Unausgegorene - kurz „das potentiell Andere“. Diese Kraft ist allerdings nicht in den zukunftsstrotzenden Leitbildern der Museen zu finden, sondern in den Lücken, den Brüchen, den Widersprüchen der Sammlungen – dort wo die Ordnungen nicht ganz passen und alles vielleicht aus ganz anderen Gründen bewahrt wurde.
Und hier kommt Walter Benjamin ins Spiel. In seinen Thesen zur Geschichte nannte er diesen Moment, in dem das Potenzial einer anderen Möglichkeit den Fluss der unaufhaltsam scheinenden Geschichte zu durchkreuzen imstande ist, die „Jetztzeit“. Das ist ein Bezug von Geschichte und Gegenwart, den er radikal von dem der „Mode“ unterscheidet. Hier springt man in die Vergangenheit, um dort das Aktuelle zu finden. Hier, so Benjamin, kommandiert die herrschende Klasse wie in unserem Beispiel die Borg. Denn heute kolonisiert der modische Einfühlungszwang der kapitalistischen Verhältnisse mit seinen billigen Versprechungen von Reichweite, Besucherzahlen und Marketing nicht nur die Vergangenheit und die Gegenwart, sondern sogar die Zukunft.
Die andere Beziehung zur Geschichte, das ist die Jetztzeit: In dieser tritt die uneingelöste Vergangenheit in Verbindung mit einer anderen als der herrschenden Zukunft. Die „unterdrückte Vergangenheit" bekommt die Möglichkeit, gehört zu werden und sprengt dabei das scheinbare Kontinuum von Geschichtserzählung auf. In dem was war, liegt also noch einiges Potenzial dafür, dass etwas anders wird. In der Jetztzeit liegt vielleicht eine andere Zukunft als die, auf die wir zuzufahren scheinen. Könnte das die Superkraft des Museums sein?
Hier begegnen wir allerdings schon wieder einem lästigen Paradox: Denn wenn ein Museum das Ziel hat, seine eigene Superkraft produktiv zu machen, verbaut es sich wahrscheinlich bereits wieder alle Möglichkeiten. Die neoliberale Organisation der Produktivität selbst birgt eben die Gefahr, dass nicht wirklich etwas geschehen kann – sie dreht sich immer schneller und immer mehr gegen sich selbst. So lässt sich der Superkraft des Museums wahrscheinlich gar nicht im Hinblick auf eine Steigerung der Produktivität begegnen. Auch nicht, wenn es darum gehen soll, die Gegenwart zu legitimieren. Denn, so Jacques Rancière, „aus dem, was gewesen ist, lässt sich niemals auf etwas schließen, was das legitimiert, was ist.“
Für Walter Benjamin führt es daher nicht weiter, wenn man sich in die Geschichte einfühlt, weil man durch diese Einfühlung die Zukunft immer nur als Verlängerung der Gegenwart denkt. Und am Ende legitimiert die Einfühlung in die Geschichte  immer die bestehenden Machtverhältnisse. Und das ist derzeit permanent am Werk. Die Geschichte der Museen und mit ihr die meisten Museen sind vielleicht genau darauf aus, genau dieser Verlängerung der Gegenwart zu vertrauen, aber das ist, so würde ich behaupten, die Macht der Herrschaftsgeschichte des Museums und eben nicht seine die Verhältnisse verändernde Superkraft.  Um der Superkraft des Museums zu begegnen, müssen wir uns dem Unproduktiven und dem Ausrangierten stellen – wir könnten auch sagen dem Verdrängten.
Jetzt könnten wir natürlich auch das wieder produktiv machen. Doch es sieht so aus, als wäre die Produktivität selbst das Einfallstor für die Borg. Denken wir zurück an die USS Enterprise im Starfleet Museum: Niemand hätte gedacht, dass die von irgendeinem Interesse sein könnte – außer für Trekkies und Nerds. Ihr rettender Effekt kommt völlig unerwartet. Wäre er erwartbar, wäre er längst von den Borg ins Netzwerk integriert worden. Die Superkraft des Museums hingegen ist das, was ich gemeinsam mit der Theoretikerin Irit Rogoff „das Unarchivierbare“ nenne. Damit meinen wir eben alles, was nicht in die Logiken und Kategorien des Museums passt und dennoch dort zu finden ist. Das Unarchivierbare ist nicht das Unarchivierte – auch wenn es natürlich immer auch wichtig ist, über alles nachzudenken, das nicht in die Sammlungen und Archive Eingang gefunden hat. Das Unarchivierbare ist vielmehr das, was innerhalb und außerhalb der Mauern des Museums wirkt – und zwar wirkt es trotz aller Historisierung und Kategorisierung weiter. Es entfaltet seine Kraft unabhängig von den Grenzen und Kategorien, die das Museum setzt. Es ist gewissermaßen das Unbewusste der Archive und der Museen, das Verdrängte. Mit Jacques Lacan könnten wir sagen: Es insistiert mehr als es existiert. Dieses Unarchivierbare spukt als Gegenmittel zu den Borg. Dem Unarchivierbaren treu zu sein heißt nicht, es zu archivieren, sondern sich von ihm anstecken zu lassen, es zu aktualisieren. Dem gegenüber das Unarchivierbare archivieren zu wollen, heißt, es zu zerstören, es in Archiviertes zu verwandeln, sein Potenzial stillzustellen. Die Begegnung mit dem Unarchivierbaren ist Aktualisierung, der Schock der Jetztzeit, von dem Benjamin spricht. Wenn Jetztzeit aber nicht produktiv gemacht werden kann, was können wir dann tun? Immerhin scheint es ja doch so, als hätten wir es eilig. Vielleicht nicht ganz so eilig wie Picard und seine Crew, aber doch schon sehr eilig, denn es sieht nicht so rosig aus in der Welt.
Die Superkraft des Museums ist offenbar schon allzu sehr in Gefahr, wenn wir so denken. Denn dann begegnen wir ihr wieder nicht, nicht einmal dann, wenn wir über alles Schwierige und Schreckliche, über den Schmerz und die Kriege, die nun einmal geschehen sind, hinwegkommen wollen. Denn dann sind wir bereits in den Händen der Borg und dem, was Max Czollek mit „Versöhnungstheater“ bezeichnet: die kulturelle und gesellschaftliche Inszenierung des Imperativs, dass alles wieder gut sein soll, ohne dass es wirkliche Konsequenzen geben müsste. „Eine solche Erinnerungskultur“, schreibt Czollek, „die Versöhnung zur Voraussetzung erklärt, hat weder Raum noch Interesse an Gefühlen der Untröstlichkeit und einer Haltung der Unversöhnlichkeit. Damit schließt sie einen erheblichen Teil der Gesellschaft aus der Erinnerungsarbeit aus.“
Was wir allerdings gegen die Borg in der Hand haben, ist die bittere Erkenntnis, dass im Museum eigentlich ohnehin nichts „wieder gut werden“ kann – deshalb ist auch die Rede von der Dekolonisierung, die derzeit überall um sich greift, nur eine neue Version eines „Versöhnungstheaters“. Was aber im Museum geschehen kann und was Max Czollek als Gegenbild anreißt ist: „Untröstlichkeit“. Ich würde nun behaupten, dass dies genau das ist, was das Museum eigentlich kann: Denn die Geschichte ist in gewisser Weise immer Geschichte von Kämpfen und so ist sie auch Geschichte vieler verlorener Kämpfe. Wollen wir sie eben nicht als Geschichte der Sieger erzählen, dann ist es eine Geschichte der Gewalt, des Schmerzes, eine Geschichte der Kriege und der Niederlagen, eine Geschichte, die zum Schweigen gebracht wurde. Wenn wir Museen für diese Geschichte öffnen, brauchen wir eine Vorstellung vom Museum, in dem es mit Czolleks Worten Raum gibt „für Untröstlichkeit und Unversöhnlichkeit“.
In Wien gibt es ein Museum, dass es räumlich (noch) nicht gibt, es nennt sich MUSMIG, das Akronym für Museum der Migration. MUSMIG ist ein Kollektiv, ein Versuch postmigrantischer Selbsthistorisierung und eine Performance der Forderung eines Museum für Migration.
„MUSMIG“, so lautet es in der Selbstbeschreibung, „das ist der blinde Fleck traditioneller Museen, der Stachel im Fleisch nationalstaatlicher Institutionen. MUSMIG ist die Lücke, die performativ zur Welt kommt, die Utopie, die sich nur im Sprechakt, im Streitgespräch und im Fest verwirklicht (…). MUSMIG, das ist ein explosiver Moment, bei dem der durch nationale Grenzen eingeschränkte Blick auf Geschichte und Kultur zu Bruch geht und gemeinsam das Recht auf Gleichheit – im Museum ebenso wie außerhalb – eingefordert wird.“
Seit Februar 2024 hat MUSMIG einen Raum im Wiener Museum für Volkskunde. Dessen „Direktionszimmer“ ist Besprechungsraum für das MUSMIG, dem derzeit das erste gewählte – sechsköpfige – Direktor:innenkollektiv vorsteht. Im Manifest des Kollektiv MUSMIG heißt es:
„Ein Museum über Migration ist ein Museum über Kriege.
Ein Museum über Kriege ist ein Museum über Ausbeutung.
Ein Museum über Ausbeutung ist ein Museum über Ressourcen.
Ein Museum über Ressourcen ist ein Museum über Kapitalismus.
Ein Museum über Kapitalismus ist ein Museum über Macht.
Ein Museum über Macht ist ein Museum über Faschismus.
Ein Museum über Faschismus ist ein Museum über Vernichtung.
Ein Museum über Vernichtung ist ein Museum über Schmerz.
Ein Museum über Schmerz ist ein Museum über Rassismus.
Ein Museum über Rassismus ist ein Museum über Grenzen.
Ein Museum über Grenzen ist ein Museum über Bewegung.
Ein Museum über Bewegung ist ein Museum über Menschen.
Ein Museum über Menschen ist ein Museum über Migration.
Ein Museum über Migration ist ein Museum über Kriege.“
In diesem Sinne ist das Museum der Migration ein Museum der Untröstlichkeit. Es erzählt nicht im Hinblick auf Einfühlung, Trost oder Empathie. Es erzählt die Geschichte als „Aufstand der unterworfenen Wissensarten“, und als Geschichte der verlorenen Kämpfe. So gibt es erst im Museum der Untröstlichkeit den Raum, den die Jetztzeit braucht, um gegen das Borg-Kontinuum zum Einsatz zu kommen. Das Museum der Untröstlichkeit, das sich gerade in seiner Unproduktivität, seiner Fähigkeit zu trauern und seiner Unversöhnlichkeit der Anrufung der Borg widersetzt, ist zugleich ein Raum der Möglichkeit. Es ist der Raum, in dem statt dem Versöhnungstheater endlich Konsequenzen auf dem Horizont erscheinen können. Und dieser neue Horizont, der in den unendlichen Weiten erscheint, wenn die Borg endlich geschlagen sind, ist ein demokratischer Horizont, den der politische Theoretiker Oliver Marchart als Horizont von Freiheit, Gleichheit und Solidarität beschreibt.