Sonntag, 12. Mai 2024

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Nachhaltigkeit und Konsum
Warum das ewige Verlangen nach Neuem?

Um ein Smartphone schon nach einem Jahr zu ersetzen, verbraucht die Herstellung zu viele Ressourcen. Aber auch bei Kleidung, Sofa und Weihnachtsdeko ist Wegwerfen keine gute Option. Warum bedeutet es uns so viel, ein Ding „neu“ zu haben?

Von Jakob Mainz | 21.11.2022
Zwei Mitarbeiter eines Repair-Cafes reparieren eine Nähmaschine.
Eine kaputte Nähmaschine kann im Repair Cafe wieder hergestellt werden, sie muss nicht auf dem Müll landen (picture alliance / dpa / Keystone / Adrian Reusser)
Peter Kenning ist Professor für Betriebswirtschaftslehre und Marketing an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Vor gut 20 Jahren war er einer der Gründer der Neuroökonomie. Eine Disziplin, die versucht, ökonomische Modelle mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zu verbessern – also etwa die Frage, unter welchen Umständen Menschen eine Kaufentscheidung treffen. Bevor es zu einer Kaufentscheidung kommt, sagt Peter Kenning, werden im Gehirn zwei Strukturen aktiviert:

„Die erste Struktur ist die sogenannte Belohnungsstruktur. Der Fachbegriff dafür ist Nucleus Accumbens. Das ist eine tief im Gehirn liegende Struktur, die den Belohnungswert eines bestimmten Produktes oder einer bestimmten Leistung kodiert. Wenn wir also ein attraktives Produkt sehen vom Design her oder vom Geschmacklichen her, dann wird diese Struktur aktiviert.“

Preis tritt an gegen Belohnungssystem


Unser Gehirn belohnt uns also, wenn wir uns etwas zuwenden, das uns begehrenswert erscheint. Es gibt aber einen Gegenspieler.
„Die zweite Struktur, die eine Rolle spielt - ist den Menschen auch bekannt - dass Preise eine wichtige Rolle bei einer Kaufentscheidung spielen können. Und diese Preisinformation wird im Gehirn verarbeitet in einer Struktur, die eher für die Verarbeitung aversiver, also, wenn man so will, negativer Stimuli verbunden wird.“

Abgewogen und entschieden wird dann im präfrontalen Cortex, direkt hinter der Stirn.

Überlegungen wie zum Beispiel: Das ist aber teuer, ja gut, aber ich kann mir doch auch mal etwas gönnen … Für die Entscheidung kommt es dann stark darauf an, wie neu etwas ist. Der Zusammenhang bestehe darin, dass die Neuigkeit aus verschiedenen Gründen zu einem gesteigerten Belohnungswert führen kann.
"Das eine ist der soziale Wert. Also ein Produkt für das ich soziale Anerkennung bekommen kann in meiner Gruppe, das andere wahrnehmen; mit dem ich mich positionieren kann als jemand, der eine gewisse Art von Kompetenz in dem Bereich Konsum hat."
Neben diesem sozialen Wert gebe es noch den epistemischen Wert.
"Das klingt sehr akademisch. Ist eigentlich der Erkenntniswert, dass man, wenn man dieses Produkt hat, etwas Neues erlebt. Manche Menschen lieben es eben, etwas Neues auszuprobieren, neue Erfahrung zu sammeln, zu experimentieren."

Neues hat einen Wert an sich

Beide Werte lassen sich gut am Beispiel technischer Geräte erklären. Die meisten Smartphone-Hersteller werben mit neuen technischen Funktionen: dem epistemischen Wert. Aber die Geräte haben eben auch einen sozialen Wert: Sie können Zugehörigkeit signalisieren. Neuigkeit verspricht also soziale Anerkennung, aber auch, etwas Neues zu erleben und macht ein Produkt deswegen attraktiv. Auch für Melanie Jäger-Erben, Umwelt- und Techniksoziologin an der Technischen Universität Cottbus-Senftenberg, spielt der soziale Aspekt eine zentrale Rolle:

„In der Konsumgesellschaft gilt der Konsum auch als Eintrittskarte in die Gesellschaft. Wenn man sich dem Konsum entzieht oder auch nicht konsumiert, ist das schnell etwas, was Misstrauen erzeugt, was Menschen komisch finden.“

Durch Konsum etwas Gutes tun?

Kaufen also, um dazuzugehören. Begünstigt wird dieser Mechanismus durch ein Phänomen, das Jäger-Erben als Newism bezeichnet, abgeleitet vom englischen Wort für neu. Eine mit dem Aufkommen der Konsumgesellschaft verbundene Überzeugung, durch Konsum etwas Gutes zu tun:
„Und dieses Einmassieren solcher Werte in den Menschen oder das gesellschaftliche Bewusstsein hat natürlich seine Wirkung, sodass mit Neukauf oder dem Kauf von Dingen auch immer was Positives verbunden wird, nicht nur für sich selbst, weil man was Neues hat zum Ausprobieren, sondern eben auch für die Gesellschaft und Wirtschaft.“

Dieser Glaube ist nicht in Stein gemeißelt. Ein gesellschaftliches Bewusstsein, das unsere Kaufentscheidungen mit steuert, kann sich ändern – allerdings nicht ad hoc. Beide Forscher, sowohl Melanie Jäger-Erben als auch Peter Kenning, sehen einen Ausweg aus dem Überfluss übrigens in der Rückbesinnung auf das Reparieren. Jäger-Erben hat ein Buch geschrieben mit dem Titel: „Verhältnisse reparieren“ und Peter Kenning plädiert als Vorsitzender des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen für ein Recht auf Reparatur.
Die EU-Kommission will 2023 einen entsprechenden Gesetzesentwurf vorlegen.