Fast ist im Stundentakt konnte man in diesen Tagen beobachten, wie in der SPD die roten Linien bei der militärischen Unterstützung der Ukraine nach hinten verschoben wurden. Die Lieferung von Leopard-Panzern jedenfalls sei keine rote Linie, erklärte am Donnerstag Fraktionschef Rolf Mützenich. Da war klar, dass er die zweitägige Klausur seiner Fraktion dazu nutzte, um die sozialdemokratischen Abgeordneten auf die bevorstehende Lieferung von Kampfpanzern aus deutscher Produktion einzuschwören.
Am nächsten Morgen erklärte der SPD-Außenpolitiker Michael Roth im Deutschlandfunk, er sehe bei der Regierung gar keine roten Linien für die Lieferung von Waffensystemen mehr. Das legte die Frage nahe, was denn nach den Leopard-Panzern noch alles möglich ist: Hubschrauber? Kampfflugzeuge? Drohnen? Marschflugkörper?
Blankoscheck einer Regierungsfraktion
Am Ende der Fraktionsklausur erklärte Mützenich dann mittags, seine Abgeordneten würden den Kanzler unterstützen, bei „allen seinen Entscheidungen“. Das klang dann schon beinahe wie ein Blankoscheck einer Regierungsfraktion, die lange Zeit wie ein mächtiger Hemmschuh bei der Unterstützung der Ukraine mit Waffen aus Deutschland gewirkt hatte.
Viel zu lang jedenfalls wirkte die Haltung der Bundesregierung viel zu sehr von den politischen Befindlichkeiten der größten Koalitionspartei bestimmt. Das lag auch daran, dass es dem Kanzler nicht gelang, sachliche Gründe für seine monatelange Zurückhaltung bei der Lieferung von Panzern plausibel zu erklären.
Hinter einer angeblich deckungsgleichen Position des Weißen Hauses konnte sich Scholz schon seit dem Spätsommer nicht mehr verstecken, als die US Botschafterin in Berlin Führung von Deutschland einforderte und deutschen Diplomaten in Washington signalisiert wurde, bei der Lieferung von Panzern könne auch Deutschland gerne mal den ersten Schritt unternehmen.
Bizarre Erklärungen aus dem Kanzleramt
Geradezu bizarr wirkten Erklärungen aus dem Kanzleramt, Russland könne sich provoziert fühlen, wenn Panzer mit dem Eisernen Kreuz der Bundeswehr an der Front anrollten. Ein paar Eimer Farbe werden sich auch in schlecht bestückten deutschen Depots noch auftreiben lassen.
Die Brutalität des russischen Feldzuges wurde in diesem Krieg nicht durch Waffenlieferungen aus dem Westen gesteigert, sondern durch die mörderischen Eroberungsphantasien Putins und seines skrupellosen Umfelds. Es gibt kein Zeichen dafür, dass sich die Ukraine anders als durch bewaffnete Verteidigung und Unterstützung ihrer westlichen Partner dagegen wehren kann.
Nach fast einem Jahr gibt es Lehren aus diesem Krieg, die helfen können, den künftigen Kurs des Westens zu bestimmen. Dazu gehört die Erkenntnis, dass Putin sich bislang nicht von heute auf morgen zu einer nuklearen Eskalation verleiten ließ. Zugleich aber gilt auch, dass sich niemand darauf verlassen sollte, dass im Kreml irgendwelche roten Linien gelten. Der Krieg in der Ukraine bedroht Europa und die Welt. Gerade deshalb aber ist eine entschlossene Unterstützung der Ukraine notwendig.
Dauerhaften Sicherheitsgarantien für die Ukraine
Das gilt nicht nur für die nächsten Wochen und Monate, in denen ukrainische Soldaten in Deutschland an Marder- und demnächst wahrscheinlich auch Leopard-Panzern ausgebildet werden. Die Ausweitung des Unterstützungsarsenals wird in Zukunft auch erforderlich sein, um die Ukraine nach einem Zurückschlagen des jetzigen Angriffs auch weiterhin abzusichern. Als Gastgeber des G7 Treffens in Elmau hatte Olaf Scholz die Frage nach dauerhaften Sicherheitsgarantien für die Ukraine im Sommer noch mit einem deplatzierten Grinsen von sich gewiesen. Das wird er sich im zweiten Jahr des Krieges nicht mehr erlauben können.
Die bittere Wahrheit ist, dass die Ukraine nur als hochgerüstete und mit machtvollem Abschreckungspotential ausgestattetes Land bestehen und damit auch Sicherheit für den Rest Europas gewährleisten kann. Die Frage, was nach dem Marder und dem Leopard kommt, ist deshalb unausweichlich.
Stephan Detjen, Chefkorrespondent von Deutschlandradio. Studierte Geschichtswissenschaft und Jura an den Universitäten München, Aix-en-Provence sowie an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Rechtsreferendariat in Bayern und Redakteur beim Bayerischen Rundfunk. Seit 1997 beim Deutschlandradio, zunächst als rechtspolitischer Korrespondent in Karlsruhe. Ab 1999 zunächst politischer Korrespondent in Berlin, dann Abteilungsleiter bei Deutschlandradio Kultur. 2008 bis 2012 Chefredakteur des Deutschlandfunk in Köln. Seitdem Leiter des Hauptstadtstudios Berlin sowie des Studios Brüssel.