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Paradoxie aller Zeiterfahrung
Von Zeitgewinn und Zeitverlust

Die Geschäfts- und Arbeitswelt prägt heute das Motto „Zeit gleich Geld“. Paradox ist: In der digitalen Welt entsteht Zeitgewinn bei gleichzeitigem Zeitverlust. Dabei geht es immer um die quantitive, messbare Zeit. Doch Zeit ist viel mehr als das.

Von Marlen Stoessel |
Illustration: Viele Uhren deren Zifferblätter übereinander liegen.
Die Zeit, die die Uhr misst, ist nicht mehr als eine mathematische Setzung, ohne die unser Alltag jedoch nicht funktionieren würde (imago / Shotshop / Sergey Nivens )
Soziologie und Philosophie, Wirtschaft und Gesellschaft beschäftigt das Thema. Zeit haben, Zeit gewinnen, keine Zeit haben oder Zeit verlieren ‒ ständig tauschen wir uns über dieses Erleben aus wie sonst nur noch über das Wetter.
Nachrichten erreichen uns über räumliche Fernen hinweg nahezu synchron und sind oft im nächsten Augenblick wieder überholt. Ihre Flut tilgt jeglichen Zeitgewinn, verändert oft die Substanz der Mitteilung selbst. Was uns mit den digitalen Hilfen die Arbeit erleichtern, sie also auch beschleunigen oder gar abnehmen soll, kehrt sich immer wieder ins Gegenteil um: Einsparung von Zeit kostet Zeit. Unser kostbares Gut, Zeit, wird gewogen und aufgewogen nicht in Lebensqualität, sondern quantitativ in Algorithmen und Geld. Was aber ist das für ein Gut, dessen Knappheit wir dauernd beklagen oder als Banner vorgeblicher Wichtigkeit vor uns hertragen?
Marleen Stoessel findet Antworten bei Denkern aus Vergangenheit und Gegenwart, von Augustinus bis Hartmut Rosa.
Marleen Stoessel ist promovierte Literaturwissenschaftlerin. Sie arbeitete als Hochschuldozentin, Dramaturgin und Theaterregisseurin und lebt heute als freie Essayistin und Kulturpublizistin in Berlin. Sie veröffentlichte zuletzt das Buch "Lob des Lachens - Eine Schelmengeschichte des Humors" im Insel Verlag.

Das schnelle Vergehen eines erfüllten Tages, der uns gleichzeitig lang vorkommt, oder eines Jahres, das in seiner Leere und Gleichförmigkeit eher langsam zu vergehen und wie in den Lockdowns der Corona-Pandemie das Zeitgefühl zu tilgen schien. Kaum ein Thema, bei dem ein jeder, eine jede nicht ein wenig zum Philosophen wird: die Zeit. Denn Zeit haben oder keine Zeit haben - ständig tauschen wir uns über dieses Erleben aus wie sonst nur noch über das Wetter.

Einsparung von Zeit kostet Zeit

Das hat offenbar mit der Paradoxie aller Zeiterfahrung zu tun, welche nicht zuletzt die digitale Revolution ungleich verschärft hat und die unser Leben, die heutige Geschäfts- und Arbeitswelt prägt: Wir erfahren Zeitgewinn bei gleichzeitigem Zeitverlust. Nachrichten erreichen uns über räumliche Fernen hinweg nahezu synchron und sind oft im nächsten Augenblick wieder überholt. Ihre Flut tilgt jeglichen Zeitgewinn, ja verändert oft die Substanz der Mitteilung selbst.
Oder denken wir, in Umkehrung der Paradoxie, an eine alltägliche Situation: Man braucht eine Bescheinigung, eine Quittung, die früher kurz mit einem Stift ausgefüllt und einem sogleich ausgehändigt wurde ‒ heute funktioniert das nur noch online und oft genug dauert es länger als je zuvor. Was uns mit den digitalen Hilfen die Arbeit erleichtern, sie also auch beschleunigen oder gar abnehmen soll, kehrt sich immer wieder ins Gegenteil um: Einsparung von Zeit kostet Zeit.

Zeit - Ressource, die allem Lebendigen innewohnt

Zeit, ein kostbares Gut, wird gewogen und aufgewogen nicht in Lebensqualität, sondern quantitativ in Algorithmen und Geld. Was aber ist das für ein Gut, das sich mit Industrialisierung und Kapitalismus in die Gleichung "Zeit gleich Geld" gefasst hat? Ein Gut, dessen Knappheit wir dauernd beklagen oder als Banner vorgeblicher Wichtigkeit vor uns hertragen? Die Paradoxie setzt sich hier fort, denn, wer keine Zeit hat, bezeugt sein Beschäftigtsein und beweist damit scheinbar Überlegenheit und Macht. Wer über zu viel Zeit verfügt, gibt hingegen womöglich seine Ohnmacht und soziale Unzugehörigkeit preis.
Könnte es nicht sein, dass der wirklich Souveräne der ist, der über seine Zeit verfügen kann? Der sich Zeit lassen, sie sich nehmen kann? Und nicht als ihr getriebener „Diener“ erscheint? Dessen Vermögen die pure Zeit selber ist, als jene Ressource, die allem Lebendigen innewohnt, vom einzelnen Menschen bis zur Natur unseres Planeten? Zeit, die das Gedächtnis der Erde ebenso wie unsere kollektiven und individuellen Speicher der Erinnerung speist und die selbst in einer Versteinerung noch ihre Spur hinterlassen hat.

Augustinus und die Illusion der Zeit

„Wenn wir über Zeit sprechen, wissen wir, was das ist; wir wissen es auch, wenn ein anderer darüber zu uns spricht. (...) Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht. Dennoch behaupte ich, dies mit Sicherheit zu wissen: Ginge nichts vorüber, gäbe es keine vergangene Zeit; käme nichts auf uns zu, gäbe es keine zukünftige Zeit; wäre überhaupt nichts, gäbe es keine gegenwärtige Zeit. Und was die Gegenwart angeht: Bliebe sie immer gegenwärtig und ginge sie nicht über in die Vergangenheit, wäre sie nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit (...)“
Zeit sieht man nicht. Sie ist nicht greifbar. Wie Luft und Wind wird sie nur in ihren Auswirkungen und Manifestationen erkennbar. Der Heilige Augustinus widmete der Zeit in seinen "Bekenntnissen" ein ganzes Kapitel. Ende des 4. Jahrhunderts hat er sie verfasst, und das Erstaunliche seiner Ausführungen ist, dass er mit seinen Fragen und Analysen intuitiv Erkenntnisse der heutigen Physik berührt: die Illusion der Zeit, die paradoxen Bezüge der Gegenwart, eines scheinhaften Jetzt, das er am Ende als ewiges in seinem Gottesglauben aufgehoben sieht. Denn Gegenwart gibt es hiernach immer nur als verschwindende, die uns als Erinnerung bleibt ‒ oder in Erwartung eines Künftigen, die beide nur in unserer Vorstellung, in unserem Geist zu existieren vermögen.
Dies sind die Wirkungen der Zeit. Die Zeit aber, welche die Uhr misst, ist nicht mehr als eine mathematische Setzung, ohne die freilich weder unser Alltag funktionieren, weder Züge fahren könnten noch wissenschaftliche Erkenntnisse bis hin zur Raumfahrt möglich wären. Mit Newton wurde die Zeit zu einer absoluten Größe erhoben, die bekanntlich mit Einstein eine andere, relativierende Dimension erhielt, bis zur Infragestellung des Phänomens Zeit überhaupt. Die seit dem Mittelalter mechanisch gemessene Uhrzeit vermochte sich allen Epochen- und Zeitenwenden zum Trotz zur heutigen Alleinherrscherin und Taktgeberin über Natur und Menschenwelt aufzuschwingen.

Die zwei Modi des Begriffs "Zeitenwende"

Mittlerweile hat sich die Erde mehrfach gedreht. „Zeitenwende“ ist auch, nach einer Bundestagsrede von Bundeskanzler Scholz anlässlich des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, das Stich- und Schlagwort dieser Tage. Es suggeriert einen eher langzeitlichen, überschauenden Blick von oben auf die Welt und unsere Gegenwart seit dem Kriegsbeginn im Februar 2022. Und es meint die Konsequenzen, die sich aus dieser neuen Sicht ergeben: militärische Aufrüstung, Unterstützung mit Waffen des um seine Freiheit kämpfenden ukrainischen Volks, samt dem hohen Preis und den Opfern, welche diese Solidarität für die übrige Welt bedeutet.
Wie auch immer man dazu stehen mag: das Wort „Zeitenwende“ transportiert zugleich weit mehr an Bedeutungen, als es aus der aktuellen politischen Lage zu schöpfen vermag. Ein passiver und ein aktiver Modus sind ihm eigen: Wie die Zeiten uns ändern und wie zugleich auch wir sie zu ändern und zu wenden vermögen: zum Guten wie zum Schlechten. In dieser erweiterten und verdoppelten Sicht sind im Begriff „Zeitenwende“ zugleich alle Krisen-, Kipp- und Wendepunkte unserer Gegenwart miterfasst: Von der Finanzkrise, der Flüchtlings- und Hungerkrise über die Corona-Pandemie bis zum Krieg in der Ukraine - sie alle befördert vom unaufhaltsamen, sich rasant beschleunigenden Klimawandel, der das Leben von Natur und Mensch auf diesem Planeten immer fragwürdiger macht.
All das hat zugleich mit unserem Verhältnis und Umgang mit Zeit zu tun, welche der Energieträger allen Lebens auf diesem Planeten Erde ist. Als jene Energie, die nicht messbar, doch offenbar auch nicht unermesslich ist. Jene Zeit also, die jenseits aller quantitativ messbaren Zeit wirksam ist. „Zeitenwende“ in diesem globalen Zusammenhang heißt so schlicht wie schrecklich: Die Natur schlägt zurück, das Eis von Arktis und Gletschern schmilzt, aus der Eiszeit wird Heißzeit, mit Hitzedürren auf der einen und Überflutungen auf der anderen Seite. Alles bereits seit Jahrzehnten bekannt und registrierbar. „Zeitenwende“ wird, so betrachtet, in dem genannten Doppelsinn zu einem Diagnose-, Erkenntnis- und auch zu einem Kampfbegriff.

Zusammenhang zwischen Öko-Krise und "Uhrenlogik"

Entsprechend stellte der im November 2022 verstorbene Zeitforscher Karlheinz Geißler, der interessanterweise auf das Uhrentragen verzichtete und zahlreiche Abhandlungen, Bücher und Interviews zum Thema verfasst hat, einmal resümierend für die aktuellen und globalen Krisen fest: „Die Klimakrise und die ökologische Krise haben damit zu tun, wie wir mit Zeit umgehen. Wir missachten die Zeiten der natürlichen Systeme und gehen mit Uhrzeit an sie heran, also quantitativ. Unsere Probleme aber sind qualitativ, deswegen müssen wir auch die Zeit wieder qualitativ betrachten.“
Eine so einfach klingende wie brisante Diagnose, die angesichts der aktuellen Entwicklung und Ereignisse nicht ernst genug zu nehmen ist. „Uhrzeit ist gerade, die Zeiten der Natur sind krumm“ ‒ heißt es in dem Buch "Alles eine Frage der Zeit", das Geißler mit seinem Sohn Jonas Geißler und dem Physiker Harald Lesch herausgebracht hat.
„Warum die 'Zeit ist gleich Geld'-Logik Mensch und Natur teuer zu stehen kommt“, lautet die im Untertitel programmatisch formulierte Frage, für deren Beantwortung sie den Zusammenhang von ökologischer Krise mit dem einseitigen Rationalismus jener von ihnen so genannten „Uhrenlogik“ analysieren. Die Abhandlung erschien 2021. Nun macht die durch den Krieg Russlands in der Ukraine sich verschärfende Energiekrise mit ihren globalen Folgen die allseitigen Abhängigkeiten auf erschreckende Weise sichtbar.

Die Vielfalt der Zeit wiedergewinnen

Es gilt also gewissermaßen die Zeit zuwenden, ihre andere energetische, nicht messbare Seite wiederzugewinnen und ihre Vielfalt. Wie aber lässt sich ein qualitatives Zeitverhältnis neu erzeugen, das sowohl der eigenen Regenerationsfähigkeit wie der des Planeten und seiner Ressourcen Rechnung trägt? Vor allem auch der Tatsache, dass diese Ressourcen nicht so schnell nachwachsen können, wie sie verbraucht werden? Unterschiedliche Zeiten der Beschleunigung also, die da am Werk sind, was der Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa, auch er ein scharfsichtiger Zeitanalytiker, als „Desynchronisation“ bezeichnet. Die betrifft auch die menschliche Psyche. Auch sie hinkt hinterher.
Wie ist es also möglich, kollektiv wie individuell, sich aus diesem Natur- und Leben-vernichtenden Zeitdilemma zu befreien? Welches Umdenken wird verlangt, gesellschaftlich wie politisch? Zweimal im Jahr werden zugunsten von Mehrwert, Energie und Wirtschaftswachstum die Uhren umgestellt. Gilt es nicht vielmehr eine andere Einstellung zur Zeit, eine andere Auffassung, ein anderes Bewusstsein von ihr zu entwickeln? Eine neue Wertschätzung, die sich gegen ihren entwertenden Leerlauf richtet?
Wie bei allen Krisenerfahrungen gehört es zum Doppelcharakter auch der Corona-Pandemie, dass durch sie neue Erfahrungen möglich wurden, gerade auch im Umgang mit der Zeit. Als Erfahrung der Entschleunigung, mit der Chance, innezuhalten, sich Zeit zu nehmen, sich aus der Klammer der Uhrzeit zu befreien, wieder buchstäblich zu sich, oder wie es Hartmut Rosa sinnreich nennt, in „Resonanz“ mit sich selbst und der Umwelt zu kommen. Oder, wie Augustinus empfiehlt, eine neue „Aufmerksamkeit“ zu entwickeln, in der Konzentration auf das Jetzt, die Gegenwart.

Das Ungleichgewicht von Arbeit und Muße

Heute nennt sich das „Achtsamkeit“, die nicht zufällig eigens in Kursen trainiert wird: als Fähigkeit, achtsam zu sein. Achtsam auf sich, auf die eigene innere Stimme, die vernachlässigten Bedürfnisse und ebenso achtsam auf die anderen, die Umwelt. Dafür braucht es Pausen, Atempausen, Pausen der Kreativität oder auch nur mal eines keinerlei Zweck und Nutzen dienenden Müßiggangs. Oft genug aber scheint selbst der Yoga-Kurs nurmehr dem einzigen Ziel zu dienen, die Gleichung „Zeit gleich Geld“ noch effektiver erfüllen zu können. Der Sinn dieser alten, aus Indien stammenden spirituellen Übung geht dann in eben jenem Verwertungsmechanismus unter, aus dem sie gerade befreien will.
Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, wären nicht zuletzt Arbeit und Muße gerade auch in ihrem Verhältnis zur Zeit neu zu überdenken. Es gilt, deren andere wertschöpfende Kraft wiederzugewinnen und nicht nur ihre monetär bestimmte Quantität zu erfassen. Denn das Ungleichgewicht von Arbeit und Muße hat alle industrialisierten Länder längst eingeholt. Die kulturellen Unterschiede in den einzelnen Gesellschaften wiegen demgegenüber gering. Sie alle beruhen auf dem quantitativen, auf Effektivität, Umsatz und Mehrwert fokussierten Umgang mit der Zeit.
Ungehört seit langem, doch unüberhörbar im Zuge der Pandemie, die Klagen von Pflegern, die – so überbelastet wie unterbezahlt ‒ nicht genug Zeit für ihre Patienten haben. Das Gleiche gilt für die Ärzte, da ein gnadenloses Abrechnungssystem ein äußerst knapp bemessenes Zeitbudget auferlegt, das der primären Aufgabe therapeutischer und ärztlicher Fürsorge diametral zuwiderläuft. Welches Umdenken im Zeitverständnis wird also von uns verlangt? Sich dessen bewusst zu werden, ist das eine. Daraus ein anderes Handeln abzuleiten, ist das andere.

Das Recht auf Faulheit

In einem bekannten Sketch von Loriot, alias Vicco von Bülow, sitzt ein Mann - Herrmann heißt er - in einem Sessel seiner Wohnstube und guckt vor sich hin. Er tut nichts, liest auch nichts. Sitzt nur da, döst und schaut in die Luft. Hinter ihm, in der halb geöffneten Küchentür trabt seine Frau auf und ab, die mit vorwurfsvoller Stimme und zunehmend enerviert den untätigen Ehemann zu irgendeinem Tun veranlasst: spazieren zu gehen, etwas zu lesen, wenigstens irgendetwas zu tun. Der aber will, wie er mehrfach ruhig bekundet, nur einfach da sitzen. Bis er, als die Frau ihm weiter zusetzt und ihm vorwirft, sie anzuschreien, nun selber schreiend herausplatzt: „Ich schreie dich nicht an!!“
Ende des ehelichen Mini-Dramas, das man in Kürze und Prägnanz nicht virtuoser inszenieren kann. Wie stets hat Loriot mit treffsicherem Spott und Humor eine tiefere Wahrheit berührt, die hinter dem scheinbar banalen Ehezwist lauert und von Philosophen, Soziologen und Psychologen nur mit großem Aufwand analysier- und darstellbar ist: des Menschen schlichtes Recht auf sein Da-Sein, sein Leben, seine Zeit ‒ und wie er sie verbringt. Ob tätig oder nicht.
Ja, dieser Herrmann übt unausgesprochen sein Menschenrecht auf Faulheit aus. Ein Recht, das einstmals der französische Sozialist und Arzt Paul Lafargue, pikanterweise der Schwiegersohn von Karl Marx, gegen dessen Forderung eines „Rechts auf Arbeit“ ins Feld führte. "Das Recht auf Faulheit" war auch der Titel seiner polemisch gegen den christlich-kapitalistischen Arbeitsbegriff gerichteten Abhandlung - eine zugleich die „Arbeitssucht“ der Arbeiterbewegung auf die Schippe nehmende Satire. „Nicht auferlegen, verbieten muss man die Arbeit“, so lautete sein umgekehrter Furor. Versteht sich, dass das seinerzeit vielgelesene Pamphlet in der späteren Sowjetunion verboten wurde.
Der Kern dieser Satire aber ist bis heute aktuell. Nicht nur im Hinblick auf die fortgesetzte skrupellose Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, sondern ebenso der natürlichen Ressourcen weltweit, bis hin zur totalen kommerziellen Ausbeutung jeglicher Freiräume und noch letzter frei verfügbarer Zeit. Darin trifft Lafargues Polemik sich genau mit dem Sketch von Loriot. Denn auch Muße hat, jener „Steigerungslogik“ zufolge, wie Hartmut Rosa es nennt, nur dem Markt und der Verwertung zu dienen, sei es dem Erhalt der Gesundheit und damit Arbeitskraft, sei es im Sinne einer Produktionspause, heute „Auszeit“ genannt, welche die Zeit nicht totschlägt, sondern irgendwie, vor allem aber mit den inflationären Produkten einer Wellness-Urlaubs- und Unterhaltungsindustrie füllt.

"Bedingungslosen Grundeinkommen": das Recht auf selbstbestimmte Zeit

Wer aber außer der Stimme im Paradies sagt denn, dass nur Müh und Arbeit einziger Sinn unseres Daseins sei? Lafargues Provokation ist keine andere als die, welche heute die Verfechter eines „Bedingungslosen Grundeinkommens“ auslösen. Denn wie Lafargue, stellen auch sie implizit den alten Begriff von Arbeit in Frage, und damit die überkommenen ideologisch-religiösen Vorstellungen von Sinn und Zweck unseres Daseins und Menschseins. Sie bieten dagegen eine humane Lösung an, aus dem Zeitdilemma herauszukommen, in welchem die Arbeits- und Geschäftswelt die Menschen seit der industriellen Revolution gefangen hält.
Auch sie rufen gewissermaßen auf zu einem neuen Menschenrecht, wenn nicht auf Faulheit, so doch auf Zeit, das Recht auf selbstbestimmte Zeit. Vor allem solcher Art von Zeit, die heute infolge des technischen Fortschritts und durch die Errungenschaften der Künstlichen Intelligenz, zum Beispiel durch Roboter freigesetzt werden kann. Nicht von ungefähr zählen auch die Zeitforscher Geißler und Lesch das bedingungslose Grundeinkommen zu den Maßnahmen für eine - mit ihren Worten - „nachhaltige Zeitkultur“.
Italienische Antifaschisten haben 1941 auf der Insel Ventotene, wo sie in Haft festsaßen, ein Manifest für ein „freies und geeintes Europa“ entworfen und darin die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens formuliert. Einer von ihnen, Altiero Spinelli, gehörte später dem Europäischen Parlament an und hatte maßgeblich teil an der Vertragsdebatte zur Europäischen Union. In diesem "Manifest von Ventotene" heißt es:
„Die dank der modernen Technik beinahe unbegrenzte Leistungsfähigkeit der Massenproduktion lebensnotwendiger Güter gestattet heutzutage allen, mit verhältnismäßig geringen sozialen Kosten Wohnung, Nahrung und Kleidung zu sichern, so wie ein für die menschliche Würde unverzichtbares Minimum an Komfort. Die menschliche Solidarität denen gegenüber, die im Wirtschaftskampf unterliegen, darf jedoch keine karitativen Formen annehmen, welche den Empfänger demütigen und gerade jene Übel erzeugen, deren Folgen man zu bekämpfen wünscht. Man soll im Gegenteil eine Reihe von Maßnahmen ergreifen, die jedem bedingungslos einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen, sei er arbeitsfähig oder nicht, ohne indes den Anreiz zum Arbeiten und zum Sparen zu verringern. So wird niemand mehr aus Elend dazu gezwungen werden, abwürgende Arbeitsverträge anzunehmen.“
Seither wird in Europa immer wieder über das Für und Wider eines solchen Grundeinkommens debattiert und das Für gern mit Hinweis auf die Unmöglichkeit einer Finanzierung verworfen. Doch diese Frage einmal beiseite gelegt: Unter rein menschenrechtlich-philosophischen Aspekt betrachtet wäre ein Grundeinkommen nicht nur Ausdruck der in unseren westlichen Demokratien gesetzlich verbürgten Würde eines jeden Menschen auf unserem Planeten, sondern auch eine Garantie auf sein ungeschriebenes Daseinsrecht. Denn das hat jeder Mensch, nachdem er nun einmal ohne sein Mittun und ohne seine Einwilligung in diese Welt gesetzt worden ist, unter Bedingungen, die er nicht selbst gewählt hat.
Allein aus dieser gewissermaßen unverschuldeten, von Zufall und Schicksal zugewiesenen Tatsache seines Daseins geht für jeden Menschen sein volles Recht auf dieses Da-Sein und auf ein menschenwürdiges Leben hier und jetzt hervor. Das Recht, mit allem Lebensnotwendigen, welches soziale Teilhabe, Bildung und Kultur einschließt, versorgt zu sein. Auch die Gestaltung seiner Zeit bliebe allein in der Verantwortung jedes einzelnen, sie wäre Ausdruck seines Menschenrechts zu lebenund nicht nur, wie es unsere Sozialsysteme eben noch gestatten, zu überleben. Eine leere Utopie? Oder vielmehr eine Aufgabe für die Menschheit, die mit allen technologischen Errungenschaften auch ihrem eigenen Fortschreiten Genüge tut?

Rückbesinnung darauf, was Zeit bedeutet

„Menschen als Spezies stehen zwar seit Jahrtausenden am Ende ihrer Entwicklung; Menschheit als Spezies aber steht an deren Anfang", stellte Walter Benjamin in seiner 1929 erschienenen "Einbahnstraße" einmal fest. Was wir Fortschritt nennen, zeigt stets ein Janushaupt. Gegen alle kulturpessimistischen und defaitistischen Prognosen lässt sich immer auch einwenden, dass noch jede Zeit und Epoche mit ihren jeweiligen Problemen zugleich auch die Mittel zu ihrer Lösung hervorgebracht hat. Die Chance, durch Arbeitsentlastung an menschlicher Entwicklung und Kultur zu gewinnen, ist heute größer denn je. Woraus sonst vermag alle menschliche Kultur hervorzugehen, denn aus qualitativ begriffener und genutzter Zeit.
Dieser anderen Zeitvorstellung gehören auch der Traum und das Träumen an, denen man in allen Kulturen seit je besondere Bedeutung zumaß im Sinne geheimer Botschaft und seherischer Voraussage. Eigens hinzugezogenen Traumdeutern oblagen Auslegung und Rat. Heute hat es, unter neuen, erweiterten Aspekten, die Hirnforschung erwiesen: im Schlaf, im Träumen, in der Meditation, der langen Weile, die alle einem anderen Zeitmaß folgen, vermögen Getanes, Gelerntes, Wissen und Erlebtes zur unverlierbaren Erfahrung zu reifen, sich dem Gedächtnis einzuprägen und nicht zuletzt auch ihr kreatives Potential zu entfalten.
Wie hingegen die flüchtige Informationsflut der Algorithmen sich dauerhaft auf das Hirn des Menschen auswirken wird, ist noch nicht absehbar. Doch mag gerade auch hierin ein Teil der Lösung liegen: Wo das historische Gedächtnis der Menschheit mit all seinem gespeicherten Wissen an seine individuellen Grenzen gelangt, lässt es sich mehr und mehr wie auf eine externe Festplatte auslagern, wo es mit seinen Inhalten abrufbar bleibt, wodurch es zugleich das Gehirn zu entlasten und für neue Entwicklungen und Aufgaben zu befähigen vermag. Auch das lässt sich bereits in unserem Alltag erfahren.
Um diese Chance zu ergreifen, bedarf es sowohl gesellschaftlich wie auch individuell einer neuen Wertschätzung der Zeit und eines anderen Zeitbewusstseins, für welches ‒ zumindest für Teile der Bevölkerung ‒ die Pandemie mit ihrer besonderen Zeiterfahrung die Weichen neu gestellt hat. Es bedarf einer Rückbesinnung darauf, was Zeit, abseits der von der getakteten Arbeit, der alltäglich geforderten Zeitdisziplin ‒ für uns in unserem je eigenen Leben bedeutet - als diese, unsere Lebenszeit. Denn, was auch immer die Zeit ist ‒ so viel wissen wir: Alles Lebendige entsteht und vergeht. Diese Spanne, die wir oft als Strömen, Verrinnen, Vorübergleiten erfassen, ist seine, dieses Lebendigen je eigene Lebenszeit.

Die Zeit, die unser Leben ist

Zeit ist Leben und jedes Leben ist endlich, seine Zeit begrenzt. Allein der Mensch ist sich dieser Begrenztheit, der Endlichkeit seines Lebens und damit auch seines Todes bewusst. Zeitbewusstsein ist daher immer auch Todesbewusstsein, und nur durch dieses vermag der Mensch seinem Dasein einen Sinn zu geben.
"Wir sind Wesen aus Zeit", sagt der italienische Astrophysiker Carlo Rovelli in seiner 2017 auf Deutsch erschienenen Abhandlung "Die Ordnung der Zeit". In der Nachfolge Einsteins und aufgrund der Erkenntnisse der Quantentheorie hat Rovelli die Zeit nicht nur als eine Illusion im physikalischen Sinn beschrieben, mit welcher wir ja nicht imstande wären, unsere Realität zu bewältigen. Er hat vor allem auch ihre Vielfalt betont, im Sinne jener Eigenzeit, die jedes Lebewesen, jedes Ding in sich trägt ‒ so wie alle natürlichen Prozesse.
Eine von ihm hier physikalisch abgeleitete und dargestellte Erkenntnis, die sich in ihrer immensen ökologischen Bedeutsamkeit zögerlich durchzusetzen beginnt, auch wenn die Vorkämpfer des Klima- und Naturschutzes sich unermüdlich für sie einsetzen. Zeit begriffen nicht als absolute, sondern als immer nur in Relation zu anderen Leben messbare Zeit, die stets unzählig viele Zeiten und Zeitqualitäten meint. Um diesen anderen vertieften Zeitbegriff geht es dem Autor ‒ um die Zeit, die wir sind und die in uns lebt. Jenseits davon aber löst sich jeglicher Begriff von Zeit auf. Tod ist nicht nur Nicht-Sein, sondern auch Nicht-Zeit. Mehr wissen wir nicht.
Die weisesten und tröstlichsten Gedanken über die Zeit und ihr unauflösbares Geheimnis aber hat Jahrtausende zuvor der Prediger Salomo mitgeteilt. Jeder von uns kennt sie, erfährt deren Lehre immer wieder neu, auf je eigene Weise. Es sind zeitlose, überzeitliche Betrachtungen, die wir mit all unseren Erfahrungen beliebig und lebenslang ergänzen können, zumal in Zeiten von Pandemie und Krieg. Am Ende heißt es, als hätte der alte weise König noch lange vor Augustinus ebenfalls bereits an Einsteins Erkenntnis gerührt: „Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist.“
Was hier als Zeit und Zeitliches in Gott auf ewig aufgehoben ist, berührt moderne Physik, Relativitäts- und Quantentheorie, am Ende wieder Mystik ‒ eine Mystik dank äußerster mathematischer Präzision und Klarheit, nicht etwa dunklem Geraune. Es ist das „Mysterium der Zeit“, von welchem der Quantenphysiker Rovelli voll Bewunderung und Ehrfurcht spricht. Die Zeit, die unser Leben ist.