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Woher kommt der Kakadu?
Über australasiatische Vögel in europäischen Renaissance-Gemälden

Ein weißer Kakadu auf dem Gemälde „Madonna della Vittoria“ des Früh Renaissance-Malers Andrea Mantegna schreibt Kunstgeschichte. 1496 wurde das Altarbild für die Kirche Santa Maria della Vittoria von Mantua fertiggestellt. Napoleons Truppen erbeuteten es für den Pariser Louvre. Einer Studentin aus Melbourne fiel der Kakadu ins Auge und ließ sie nicht mehr los.

Von Rebecca Mead |
Mantegna, Madonna della Vittoria
Mantegna, Andrea. 1431Â1506. ÂMadonna della VittoriaÂ, 1496. (Maria mit Kind, den Heiligen Michael, Andreas, Longinus und Georg, dem Johannesknaben, Elisabeth und dem Stifter Francesco Gonzaga). Tempera auf Leinwand, 285 à 168 cm. INV. 369 Paris, Musée du Louvre. (picture alliance / akg-images / Maurice Babey)
Heather Dalton, Forschungsstipendiatin an der Universität Melbourne, veröffentlichte 2014 einen Artikel über den Kakadu auf Mantegnas Gemälde. Er galt bis dahin als die älteste Abbildung eines solchen Vogels in Europa. Kakadu-Zeichnungen in einem europäischen Buch aus dem 13. Jahrhundert aber deuten Experten zufolge darauf hin, dass bereits im Mittelalter Handel mit Australien betrieben wurde. Auf dieses stießen drei Wissenschaftler am Finnischen Institut in Rom, die erkannten, dass das Lehrbuch Friedrich II. deutlich ältere Abbildungen des Kakadus enthält. Gemeinsam fanden die vier Forscher heraus, dass es sich dabei um einen weiblichen Gelbhaubenkakadu handele. Dieser stammte von vorgelagerten Inseln Indonesiens. Man konnte jetzt davon ausgehen, dass im Norden Australiens schon deutlich früher Handel getrieben wurde als bisher vermutet. Vermutlich war der Vogel über Kairo nach Sizilien gelangt. Die Story wurde im Magazin "The New Yorker“ im August 2021 veröffentlicht.
Rebecca Mead, geboren 1966 in London, aufgewachsen in Dorset, studierte Englische Literatur in Oxford und Journalismus an der New York University. Sie arbeitete als fact checker und ist seit vielen Jahren Autorin für „The New Yorker“ in den USA. Ihre Bücher: „My life in Middlemarch“ (2014) und „Home/Land: A Memoir of Departure and Return“ (kommt 2022).

Essay anderswo
Woher kommt der Kakadu?
Über australasiatische Vögel in europäischen Renaissance-Gemälden
Von Rebecca Mead
Aus dem Amerikanischen von Katrin Höller
Das Altarbild "Madonna della Vittoria", ein Gemälde des Renaissance-Malers Andrea Mantegna, muss sehr eindrucksvoll ausgesehen haben, als man es einst an seinem Bestimmungsort anbrachte: in der kleinen Kapelle Santa Maria della Vittoria im norditalienischen Mantua. Das 1496 fertiggestellte Bild war vom Regenten der Stadt, Francesco II. Gonzaga, beauftragt worden und ist imposante 2,80 Meter hoch. Die Blicke der Kirchgänger verweilten wahrscheinlich hauptsächlich in der unteren Hälfte des Bildes, in der die Jungfrau Maria, die auf einem Marmorpodest thront, den vor ihr knienden, in eine Rüstung gekleideten Francesco segnet. Sie bemühten sich wohl eher nicht, die Feinheiten in der oberen Bildhälfte zu erkennen, in der eine mit hängenden Ornamenten, Früchten und Weinlaub bedeckte Pergola zu sehen ist. Im späten 18. Jahrhundert raubten Napoleons Truppen das Gemälde und brachten es in den Louvre, wo es noch heute an prominenter Stelle im Denon-Flügel hängt.
Als Heather Dalton, eine britische Historikerin, die seit Langem im australischen Melbourne lebt, sich das Gemälde vor einigen Jahren zu Beginn ihres Promotionsstudiums an der Universität Melbourne näher anschaute, tat sie das nicht in Paris, sondern zu Hause, in einem Buch über Mantegna. Das Madonnenbild war dort nur in einem Bruchteil seiner eigentlichen Größe abgebildet. Trotzdem fiel ihr etwas auf, das sie vielleicht gar nicht gesehen hätte, wenn sie am gerahmten Original hinaufgeschaut hätte: Inmitten der Pergola, gleich oberhalb eines juwelenbedeckten Kruzifixes auf einem Stab, saß ein schlanker weißer Vogel mit schwarzem Schnabel, aufmerksamem Blick und eindrucksvollem grün-gelbem Kamm. Dass der Vogel nicht so recht in dieses Bild passte, hätte sie ohne den Kontext ihrer australischen Umgebung vielleicht gar nicht gemerkt.
Der Gelbhaubenkakadu ist kein kleiner Vogel: Ausgewachsene Tiere werden etwa 50 Zentimeter groß. Die Körperfedern sind größtenteils weiß. Auf dem Kopf trägt er einen auffälligen zitrinfarbenen Federschmuck, der sich aufstellt, wenn der Vogel aufgeregt ist, und dann wie die Vogelversion eines gefärbten und mit Haarspray eingesprühten Irokesenschnitts aussieht. Kakadus, die zu den Papageien gehören, sind in ganz Nord- und Ostaustralien, wo sie in Parks und bewaldeten Gegenden leben, ein häufiger Anblick. Manche sehen sie als kreischende Plagegeister, die mit ihren Schnäbeln Holzbalken an Gebäuden beschädigen; für andere sind sie geschätzte Haustiere und Gefährten. In Gefangenschaft können Gelbhaubenkakadus lernen, die menschliche Sprache nachzuahmen; einige sind über 80 Jahre alt geworden. In Australien ist man durchaus stolz auf den Vogel, er ist sogar auf dem australischen Zehndollarschein abgebildet.
Kakadus sind keine Zugvögel. Ihr natürlicher Lebensraum beschränkt sich auf Australien, Indonesien, Papua-Neuguinea, die Salomonen und die Philippinen. Die meisten der rund 20 Kakaduarten stammen aus dem Gebiet östlich der Wallace Linie, einer geografischen Grenze, die Mitte des 19. Jahrhunderts von Charles Darwins zeitweiligem Mitstreiter Alfred Russel Wallace festgelegt wurde. Sie verläuft unter anderem durch zwei Meerengen: zwischen Borneo und Sulawesi und zwischen Bali und Lombok. In seinem Buch "Der Malayische Archipel" schrieb Wallace Mitte des 19. Jahrhunderts über seine dortigen Studien:
„Derselbe ist für die meisten Engländer vielleicht der mindest bekannte Theil der Erde. Unsere Besitzungen darin sind gering und dürftig; selten werden von uns Erforschungsreisen dorthin unternommen und in vielen Kartenwerken wird er beinahe nicht beachtet.“
In Australien fiel Wallace die Abwesenheit von Fasanen und Spechten auf – Vögel, die auf anderen Kontinenten häufig anzutreffen sind. Die Kakadus der Region gehörten zu jenen Arten, die „sonst nirgendwo auf der Erde gefunden werden.“
Obwohl Güter aus diesen Regionen auch schon in den Jahrhunderten vor Wallaces Forschungsreisen nach Europa gelangten, wusste man noch nicht viel über ihre Herkunftsorte oder darüber, wie ihr Weg nach Westen genau verlief. Selbst die heutige Forschung zu dem Zeitraum zwischen 500 und 1500, den man inzwischen auch „globales Mittelalter“ nennt, hat sich bisher nur am Rande mit Australasien beschäftigt – zum Teil einfach deshalb, weil es zum Handel oder zu anderen Formen des kulturellen Austauschs mit diesem Kontinent nicht viele schriftliche Aufzeichnungen gibt. In ihrem Buch "Das Jahr 1000. Als die Globalisierung begann", zeigt die Historikerin Valerie Hansen, dass die Richtung der Meeresströmungen in und um Südostasien es Schiffen sehr viel leichter macht, nach Süden zu fahren als nach Norden. Vor dem 14.oder 15. Jahrhundert, so schreibt sie, hatten die Menschen in Australien und Indonesien nur sehr wenig Kontakt zu Menschen im kontinentalen Südostasien.
Bevor Heather Dalton ihr Mantegna-Buch schließlich weglegte, fragte sie sich: „Wie ist wohl ein Vogel aus Australasien in ein italienisches Gemälde des 15. Jahrhunderts gelangt?“
Nachdem sie dieser Frage rund zehn Jahre lang nachgegangen war, veröffentlichte sie 2014 in der Zeitschrift "Renaissance Studies" einen Artikel über das unwahrscheinliche Auftauchen des Kakadus. Darin argumentierte sie, die Anwesenheit des Vogels auf Mantegnas Bild werfe Licht auf die schon damals hochentwickelten Handelsrouten zwischen Australasien und dem Rest der Welt, und kam zu dem Schluss, dass Mantegnas Kakadu höchstwahrscheinlich aus dem südöstlichen Teil des indonesischen Archipels stammte – östlich von Bali, vielleicht aus Timor oder Sulawesi. Diese Neubewertung, ja revisionistische Kraft von Daltons Artikel weckte die Aufmerksamkeit vieler Medien, darunter der "Guardian" und das "Smithsonian Magazine". In Australien titelte eine Zeitung mit der unwiderstehlichen Schlagzeile „Picture Points to Renaissance Budgie-Smugglers“, also: „Bild deutet auf Wellensittichschmuggler der Renaissance-Zeit hin“ – [wobei man wissen muss, dass man in Australien unter „Budgie-Smuggler“ außerdem sehr enge Herrenbadehosen versteht, Anm. der Übersetzerin].
Das Mantegna-Gemälde ist nicht das einzige Renaissance-Bild, das Hinweise auf einen zumindest indirekten Kontakt Europas mit Australasien enthält: Ein mit Tusche akzentuiertes Aquarell des flämischen Künstlers Joris Hoefnagel, entstanden um 1561 und heute in der Sammlung des J. Paul Getty Museums, zeigt ein pelziges graues Wesen auf einem vergoldeten Thron, das an einem Ast knabbert. Es trägt den Titel „Das Faultier“; Heather Dalton mutmaßt jedoch, dass es sich dabei um ein neuguineisches Baumkänguru handelt.
Heather Daltons Forschung ist nicht nur eine visuelle Bestätigung der Annahme, dass viele Weltgegenden schon länger miteinander verbunden sind, als man bisher glaubte. Sie zeigt uns außerdem, wie wertvoll es sein kann, die Dinge einmal ganz neu zu betrachten: Eine Historikerin, die sich für europäische Kunst interessiert, aber vom Louvre eine halbe Weltkugel entfernt lebt, hat sich ein bereits bekanntes Objekt einmal aus einem neuen Blickwinkel angeschaut – und etwas bemerkt, das bisher kaum einem Bildbetrachter aufgefallen war.
„Papageien sind die Vögel, die der Vorstellung von kleinen, in Federn gehüllten menschlichen Wesen am nächsten kommen“,
schrieb Richard Verdi, früherer Direktor des Barber Institute of Fine Arts im englischen Birmingham, im Katalog zur Ausstellung „The Parrot in Art“, die dort 2007 ausgerichtet wurde. Papageien, die man auf der ganzen Welt findet, die in Europa aber nicht heimisch sind, gelten schon seit Jahrtausenden als etwas Besonderes. Verdi erwähnte unter anderem, dass sich Alexander der Große im Jahr 327 vor Christus einen Papagei aus dem indischen Pandschab zulegte; sein Flottenkommandant Nearchos erklärte, die Fähigkeit des Vogels zu sprechen sei ein Wunder. Nach Indien bestanden in der Antike allerdings bekannte Überlandhandelswege. Die Griechen priesen stets die Schönheit und Intelligenz indischer Papageien und Aristoteles hielt fest, dass die Vögel gute Imitatoren seien:
„sogar noch unerhörter, wenn sie Wein getrunken haben.“
Schon bald tauchten die ersten Papageien in europäischen Kunstwerken auf. Es gibt mehrere Papageiendarstellungen in den Fresken und Mosaiken, die in den Ruinen von Pompeji und Herculaneum freigelegt wurden, unter anderem auf einem Bild, das heute verloren ist, aber auf einem Stich aus dem 18. Jahrhundert verewigt wurde: Es zeigt einen Papagei, der vor einen Streitwagen gespannt ist, welcher von einer Heuschrecke gelenkt wird, die die Zügel mit ihren Kauwerkzeugen festhält.
Zunächst wurden Papageien hauptsächlich wegen ihres exotischen Reizes in europäische Kunst einbezogen. Doch in der Renaissance begannen sie auch auf Porträts mit christlicher Thematik aufzutauchen, weil man sie symbolisch mit Maria in Verbindung brachte. So setzte man die unwahrscheinliche Fähigkeit des Vogels zu sprechen mit der Fähigkeit der Jungfrau gleich, schwanger zu werden.
Im frühen 16. Jahrhundert – einige Jahre, nachdem Mantegna sein Altarbild gemalt hatte – schuf Albrecht Dürer eine Tusche-Aquarell-Studie, auf der neben einer Madonna mit Kind ein Papagei auf einem Holzpfosten sitzt. Dürer war von Papageien fasziniert und kaufte sich während eines Aufenthalts in einer niederländischen Handelsstadt schließlich sogar welche. Die "Maria mit Kind und Papageien", ein Werk des deutschen Malers Hans Baldung Grien von 1533, zeigt Maria mit einem etwas finster dreinschauenden Jesuskind an der Brust. Neben dem Fuß des Kindes steht ein grüner Sittich; ein grauer Papagei sitzt auf Marias Schulter, den Schnabel geöffnet. Dieser Bildaufbau legt nahe, dass Grien mit Papageien nicht so vertraut war wie Dürer: Wenn man bedenkt, dass Papageien Nüsse fressen und dementsprechend kräftige Schnäbel haben, um die Schalen zu knacken, kommt der Schnabel des grauen Papageis Marias Gesicht beunruhigend nah.
Richard Verdi erwähnt in seinem Katalogaufsatz auch Mantegnas Madonna della Vittoria mitsamt dem Vogel, den er statt als Gelbhauben- als Gelbwangenkakadu identifiziert und dessen beachtenswerte Position im Gemälde – über der Jungfrau Maria – er anspricht. Doch er zieht keine Schlussfolgerungen aus der geografischen Herkunft des Vogels, obwohl die spezielle Kakadu-Art, die er ja benennt, ausschließlich auf den südöstlichen Inseln Indonesiens vorkommt.
Heather Dalton stellte fest, dass auch anderen Wissenschaftlern bereits die Merkwürdigkeit einer solchen Kreatur auf einem Renaissance-Kunstwerk aufgefallen war – unter ihnen Bruce Thomas Boehrer, einem Englischprofessor an der Florida State University, dessen 2004 erschienenes Buch "Parrot Culture" kurzweilig von der seit 2500 Jahren bestehenden Faszination für den “gesprächigsten Vogel“ der Welt berichtet.
Aber es schien, als hätte sich bisher niemand weiter reichende Gedanken gemacht. Welche Bedeutung hatte ein Kakadu für Andrea Mantegna oder für Francesco II. Gonzaga, einen der mächtigsten Männer seiner Zeit? Und was verriet die Anwesenheit des Vogels über die Verbindungen zwischen einer italienischen Stadt und fernen Tropenwäldern, die jenseits der den Europäern bekannten Welt lagen?
Heather Dalton, die in Essex geboren wurde, wandte sich erst spät der Geschichtswissenschaft zu. Ihren ersten Universitätsabschluss hatte sie an der University of Manchester in American Studies gemacht. Mitte der 80er-Jahre zog sie nach Australien, war dort zunächst im Verlagswesen und als Journalistin tätig.
Ihre Dissertation schrieb Dalton über einen Händler der Tudorzeit, Roger Barlow, der durch England, Spanien und Südamerika reiste; 2016 erweiterte sie ihre Arbeit zu einem Buch, "Merchants and Explorers". Der Kakadu auf dem Mantegna-Gemälde erinnerte Dalton an frühere Forschungsarbeiten: Das Tier war offensichtlich Teil eines lebhaften, aber wenig dokumentierten Handels mit Luxuswaren gewesen. Wie Papageien in anderen Renaissance-Kunstwerken war auch der Kakadu auf Mantegnas Altarbild ein religiöses Symbol, doch zeigte er auch ganz weltlich den immensen Reichtum der Gonzagas.
Die Seltenheit des Vogels kann man aus seinem singulären Auftreten auf dem Altarbild ableiten: Dalton konnte weder auf anderen Werken Mantegnas noch auf denen seiner Zeitgenossen weitere Kakadus finden. Sie räumt ein, dass Mantegnas Kakadu lediglich die Abbildung einer Abbildung sein könnte – etwa die Kopie einer Darstellung aus dem Fernen Osten –, argumentiert aber, dass die detaillierte Wiedergabe des Vogels stark dafür spricht, dass er nach einem lebendigen Modell gemalt wurde.
Gemälde Alter Meister ab dem 17. Jahrhundert zeigen Kakadus typischerweise immer im Profil, den Kamm so hoch wie möglich aufgerichtet – so, wie man auch ein ausgestopftes Tier herrichten würde. Auf Mantegnas Bild schaut der Vogel jedoch nach vorn, ja, er schaut den Betrachter sogar direkt an – so, wie ein neugieriger, intelligenter Vogel aus einem weit entfernten tropischen Wald einen Maler eben anschauen würde, der vor der Staffelei steht.
Ein Inventar von Objekten, die einem von Mantegnas Söhnen gehörten, listet einen großen kupfernen Vogelkäfig auf. Darüber hinaus konnte Dalton aber keine dokumentarischen Hinweise darauf finden, dass Mantegna oder aber die Gonzagas einst einen Kakadu gekauft hatten. Doch es war plausibel, so ihr Gedanke, dass der Papagei Mantua über Venedig erreicht haben könnte, das rund 150 Kilometer weiter östlich lag. Dort exportierten viele Kaufleute Glas- und Keramikwaren und importierten dafür Luxusgüter.
Waren, die auf den Märkten Venedigs eintrafen, waren auf ihrer Reise üblicherweise durch viele Hände gegangen: Ein Papagei könnte, so Dalton, wie ein Kunstwerk auf seiner Reise nach Westen, nach Europa, von Besitzer zu Besitzer weitergereicht worden sein.
Dalton nennt eine Handvoll italienischer Kaufleute, die sich im 15. Jahrhundert weit nach Osten vorgewagt hatten – bis nach Java und auf die Molukken. Dort könnten sie, so vermutet sie, auf chinesische Händler gestoßen sein, die auf noch weiter östlich gelegenen Handelsrouten verkehrten und sich dabei auch gleich einen prestigeträchtigen Papagei mitgebracht haben.
Vielleicht aber wäre der Kakadu auch erst viel später in europäische Hände gelangt, erst gegen Ende seiner Reise nach Europa, denn manche Vögel ließen sich, zumal von Uneingeweihten, nicht gut auf Reisen mitführen: So hatte Barlow, der Tudor-Händler, versucht, einen Kolibri von Südamerika nach Europa zu bringen, hatte aber am Ende nur mehr eine Vogelleiche im Gepäck. Dann wiederum wäre ein Gelbhaubenkakadu, besonders einer, der an menschliche Gesellschaft gewöhnt war, viel robuster, und man hätte sich, weil er ein wertvolles Gut war, auch sicher gut um ihn gekümmert.
Inzwischen nahm Dalton an, dass der Kakadu hauptsächlich über das Meer transportiert worden sei – aber nicht auf einer einzelnen, epischen Reise über den Indischen Ozean, sondern auf mehreren kürzeren Fahrten in kleinen Schiffen, die nah an den Küsten Indiens und Arabiens entlangfuhren.
Trotzdem bleibt es ein Rätsel, wie genau der von Mantegna gemalte Kakadu Mantua erreicht hat.
Aus gutem Grund nahm Dalton an, ihr Essay sei das letzte Wort zum Thema „Kakadus in früher europäischer Kunst“. Doch nicht lange nach dessen Veröffentlichung musste sie feststellen, dass ihre außergewöhnliche Entdeckung noch übertroffen worden war. Wie auch immer Mantegnas Kakadu nach Italien gelangt war: Er war nicht der erste Vogel seiner Art, der diese Überfahrt unternommen hatte. Ein anderer Kakadu war ihm zweieinhalb Jahrhunderte früher zuvorgekommen.
Ende der 1980er-Jahre gelang es finnischen Forschern unter der Leitung des Zoologen Pekka Niemelä, Zugang zu einem seltenen Manuskript in der Sammlung der Vatikanischen Bibliothek zu erlangen: "De Arte Venandi cum Avibus", zu Deutsch „Über die Kunst, mit Vögeln zu jagen“ – auch als "Das Falkenbuch" bekannt.
Das Buch, das dem römisch-deutschen Kaiser Friedrich II. zugeschrieben wird, entstand zwischen 1241 und 1244. Das Manuskript im Vatikan, das aus zwei Bänden besteht, wurde mehr als zehn Jahre später von Friedrichs Sohn Manfred zusammengestellt, nachdem das Originalmanuskript bei der Belagerung Parmas verloren gegangen war. Manfreds Manuskript passierte die Hände mehrerer angesehener Aristokraten und Intellektueller, bevor es 1622 in die päpstliche Sammlung gelangte. Das in lateinischer Sprache geschriebene Buch enthält Hunderte Zeichnungen von Vögeln und ist besonders für Naturwissenschaftler von Interesse, da es einen bemerkenswert frühen Versuch einer empirischen Zoologie darstellt.
Friedrich II. war ein eifriger Naturwissenschaftler, den das Tierreich und der menschliche Körper faszinierten. Gerüchten zufolge soll er einmal einen sterbenden Mann in ein luftdicht versiegeltes Weinfass gesteckt haben um zu beobachten, ob die Seele eines Menschen zusammen mit seinem Körper sterbe. Ein weiteres zweifelhaftes Gerücht besagt, er habe die Bäuche zweier Männer aufschneiden lassen, die zuvor eine reichhaltige Mahlzeit erhalten hatten, um zu sehen, ob derjenige, der sich nach dem Essen bewegte, die Nahrung besser verdaut hatte als der andere, der ein Nickerchen gemacht hatte – nur um dann umgebracht zu werden.
Niemelä hatte begonnen, sich Reproduktionen von "De Arte Venandi cum Avibus" anzusehen und zwischen all den Abbildungen von Falken auch die eines Kakadus mit weißem Gefieder bemerkt. Der Vogel war im Manuskript insgesamt vier Mal abgebildet. Dank der Fürsprache eines Wissenschaftlers am Finnischen Institut in Rom erhielten Niemelä und seine Zoologiekollegen die Erlaubnis, unter dem strengen Blick des Bibliotheksdirektors das Originalmanuskript einzusehen. Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass es sich bei allen vier Bildern um den gleichen Vogel handelte, und konnten durch die Untersuchung der Pigmente auf den jahrhundertealten Seiten die ursprüngliche Färbung des Tiers ermitteln. Außerdem stellten sie die wohlbegründete Vermutung auf, dass der Kakadu ein Weibchen war: Rötliche Flecken in der Iris seines Auges deuteten darauf hin. Bei dem Kakadu, so mutmaßten sie, handelte es sich entweder um eine Unterart des Gelbhaubenkakadus oder um einen seiner nahen Verwandten, den Gelbwangenkakadu. Dies grenzte den Herkunftsort des Vogels auf Neuguinea oder die benachbarten Inseln ein.
Nach der Veröffentlichung von Daltons Aufsatz über „Kakadus in früher europäischer Kunst“ schickte Niemelä eine E-Mail an Heather Dalton. Sie dachte zunächst, jemand erlaube sich einen Witz, kontaktierte Pekka Niemelä aber dennoch.
Die Finnen hatten ihre Erkenntnisse noch nicht publizieren können. In der folgenden Zusammenarbeit mit Dalton machten sie sich daran, Herkunft und Bedeutung des Kakadus von Friedrich II. noch eingehender zu erforschen. 2018 veröffentlichten sie einen Artikel in "Parergon", einer Zeitschrift für Mediävistik, in dem sie vorschlagen, dass der Vogel höchstwahrscheinlich über die kosmopolitischen Märkte Kairos nach Europa gelangt war, nach einer Reise aus China, wohin er wiederum von irgendwo in Australasien verkauft worden war.
Ihre Folgerung gründete sich auf mehr als bloße Spekulation, denn anders als für Mantegnas Vogel existiert für Kaiser Friedrichs Kakadu eine zeitgenössische schriftliche Dokumentation. Der Text, der eines der Kakadubilder begleitet, behandelt das Aussehen verschiedener Papageien in der kaiserlichen Sammlung. Über einen davon heißt es, er habe „weiße Federn und Federkiele, unter den Seiten ins Gelbe wechselnd“ und er sei „uns vom Sultan von Babylon gesandt worden“. Hiermit war der Herrscher Ägyptens gemeint, Al-Malik al-Kamil. Dieser pflegte laut Dalton und ihren Ko-Autoren weitreichende Verbindungen zu einem Netzwerk aus Händlern, das von China und Indien aus über ganz Zentralasien reichte. Friedrichs Text hält auch fest, dass Papageien „die menschliche Stimme imitieren und die Wörter, die sie am häufigsten hören, nachsprechen“ können. Es ist verlockend, sich vorzustellen, dass der Kakadu des Kaisers auf seiner Reise Grußformeln oder Flüche in unterschiedlichen Sprachen gelernt haben könnte. Leider hat Friedrichs Schreiber nichts über ein derart polyglottes Repertoire aufgeschrieben, das uns weitere Hinweise über den Weg des Papageis hätte liefern können.
Der Kakadu war nur eines von vielen Tieren, die Friedrich und al-Kamil über die Jahre hinweg austauschten – wobei sie, wie es scheint, immer größere Versuche unternahmen, sich gegenseitig zu beeindrucken. Eines der ersten Geschenke Friedrichs an den ägyptischen Herrscher al-Kamil, so berichten Dalton und ihre Ko‑Autoren, waren Pferde, deren goldene Steigbügel reich mit Edelsteinen besetzt waren. Al-Kamil schickte Friedrich daraufhin ein noch erstaunlicheres Präsent: einen Elefanten.
Für einen mittelalterlichen Monarchen erfüllte das Unterhalten einer Menagerie eine ähnliche Funktion wie eine Kunstsammlung für einen modernen Plutokraten: eine Zurschaustellung von Macht und Prestige. Ein besonders seltenes Tier – sagen wir, ein weißer Pfau oder ein weißer Bär, die beide von Friedrich an al-Kamil geschickt wurden – verschaffte dem Besitzer ebenso viel Geltung wie heute vielleicht ein Hauptwerk von Basquiat. Unter den Geschenken al-Kamils an Friedrich war auch ein Gerfalke, ein prächtiger Raubvogel, der in arktischen Regionen und in Nordamerika vorkommt. Damals kam er vermutlich aus Island, fast am nordwestlichen Rand der bis dahin von Europäern erforschten Welt. Ein weißer Kakadu mit grünlichem Kamm wäre sicher ein ebenso prächtiges Geschenk gewesen – ein seltener Vogel, den man aus einer fast unvorstellbaren Weltgegend geholt hatte.
Anders als Gerfalken, die mit hoher Geschwindigkeit enorme Entfernungen überwinden können, entfernen sich Gelbhaubenkakadus nie sehr weit von ihrer Heimat – es sei denn, sie werden durch eine Dürre oder menschliche Einmischung daraus vertrieben. Ein Vogel, der auf einer Insel geboren wird, bleibt üblicherweise für den Rest seines Lebens auf dieser Insel. Gelbhaubenkakadus sind soziale und gesellige Wesen: Im frühen Erwachsenenalter wählen sie einen Partner für das ganze Leben. Die Europäer, die es als Erste mit einem solch merkwürdigen Wesen zu tun hatten, müssen davon fasziniert gewesen sein. Man kann nicht umhin, sich zu fragen, wie wohl der Vogel diese Begegnung erlebte.
Die finnischen Zoologen stellten sich eine Reise durch Asien aus der Vogelperspektive vor. Was könnte der Kakadu wohl erlebt haben, als er in seiner Heimat gefangen genommen und dann von einem Ort zum andern transportiert wurde? Höchstwahrscheinlich wurde der Kakadu aus seinem Nest – einem Loch in einem Baum im Wald – geholt, in einem Alter von nur wenigen Wochen, vielleicht zusammen mit einem anderen Küken, das aus dem gleichen Gelege geschlüpft war. Die Hand, die ihn ergriff, gehörte vermutlich zu einem erfahrenen Jäger, der den Wert des Vogels kannte, wie auch das optimale Alter, in dem man ihn entwenden konnte: Der Vogel musste alt genug sein, um ohne seine Eltern zurechtzukommen, aber auch jung genug, um sich an menschliche Gesellschaft zu gewöhnen. Ältere Vögel sind weit schlechter in Gefangenschaft zu halten. Laut der finnischen Wissenschaftler dürfte eine Reise nach Italien sehr anstrengend gewesen sein. Der Kakadu dürfte viele Monate im Laderaum auf dem Meer verbracht oder per Kamelkarawane die asiatische Landmasse durchquert haben.
Die Kakadus von Kaiser Friedrich II und des Renaissance-Malers Andrea Mantegna mögen zwar durch ihre Abbildungen unsterblich geworden sein, aber sie selbst sind keine Beispiele für das, was Historiker*innen heute „materielle Kultur“ nennen: Sie waren lebendige Wesen einer längst vergangenen Zeit. Sie sich vorzustellen, ist ebenso schwer, wie sich ein Land vorzustellen, das hinter dem Land liegt, welches wir zu kennen glauben.